Babylonien.

Im Zeitalter, das man gewöhnlich als das des früheren Mittelalters bezeichnet, hat sich das jüdische Volk in seiner Mehrheit in Babylonien aufgehalten. Es ist jedoch nicht unsere Aufgabe, die babylonische Geschichte der Juden hier vorzutragen. Für unsere Zwecke ist es nur wichtig, zu erwähnen, dass die Juden Babyloniens sich vollständig dem fremden Volksorganismus eingegliedert haben.

Die Ursachen dieser Erscheinung haben wir schon erörtert. Das Ausschlaggebende war, dass die Juden Babyloniens dort ein Land fanden, das sie ökonomisch okkupieren konnten (30), ohne sich der Gefahr ausgesetzt zu sehen, später vertrieben zu werden. Denn die späteren Herrscher kamen ins Land selbst als Fremde und hatten keinen Anlass, die inzwischen stark vermehrte und recht wohlhabende jüdische Bevölkerung zu vertreiben. Besonders gilt das für die Araber, die am Anfang des 7. Jahrhunderts Babylonien eroberten. „Die arabischen Eroberungen brachten nicht wie die Niederlassungen der Germanen auf dem Boden römischer Provinzen eine Umwälzung in den Grundbesitzverhältnissen hervor. Landteilungen zwischen den Siegern und Besiegten, wie im Okzident, haben im Orient nicht stattgefunden" (31).


Die Juden Babyloniens bildeten ein starkes Gemeinwesen, das im inneren Leben frei und autonom organisiert war; aber auch nach außen hin wollten die Juden einen selbständigen Staat bilden, wovon viele Versuche der Exilfürsten, politische Unabhängigkeit wieder zu erlangen, Zeugnis ablegen.

Es ist nun klar, dass bei solchen Zuständen die Auswanderung aus Babylonien nicht etwa die Folge einer ökonomischen Notlage der dortigen Juden sein konnte, sondern nur einen zufälligen, sporadischen Charakter trug. Dabei sehen wir natürlich von den Reisen der jüdischen Kaufleute ab, die zwar das Ihrige zur Verbreitung der Juden beitrugen, aber keine regelrechte Auswanderung bildeten. Die erste große Auswanderung der Juden aus Babylonien scheint den Reibungen zwischen der jüdischen und persischen Geistlichkeit entsprungen zu sein. Unterstützt von den persischen Königen, wollten die Magier die Juden zu ihrem Glauben bekehren, — damit die Gelder, die der jüdischen Geistlichkeit zuflössen, nunmehr der herrschenden Religion zugute kämen. Der vorübergehende Erfolg der Perser (Ende des 5. Jahrhunderts) hatte die Auswanderung eines Teiles der Juden zur Folge.

Dabei nahm die Auswanderung zwei Richtungen an: die eine südwärts nach Arabien und die andere ostwärts nach Indien. In ersterem Lande fanden die Einwanderer die schon früher dorthin aus Palästina ausgewanderten Stammesgenossen vor und schlössen sich ihnen an; sie haben dort ein selbständiges politisches Gemeinwesen gebildet. Ebenso ging es den Einwanderern in Indien nicht schlecht; sie brachten gewiss viel bares Vermögen mit und konnten sich daher gute Wohnsitze und Unabhängigkeit in innerer Verwaltung erkaufen (32). Ein Teil ging noch nach dem eigentlichen Persien.

Erst im 9. Jahrhundert verließ wieder eine kleine Zahl der Juden Babylonien. Diesmal waren es Anhänger einer neuen Sekte: Karäer. Sie gingen teils nach Ägypten, teils nach Syrien und von dort aus nordwärts bis nach der Halbinsel Krim. Hier haben sie noch bis heute ihre eigenen Synagogen und sind als Staatsbürger mit der russischen Bevölkerung, im Gegensatz zu den übrigen Juden, vollständig gleichberechtigt.

Es ist wohl anzunehmen, dass die jüdische Auswanderung aus Babylonien sich im wesentlichen auf diese Fälle beschränkte. Besonders muss betont werden, dass das Aufblühen des jüdischen Lebens in Spanien und Portugal mit den Schicksalen der Juden in Babylonien herzlich wenig zu tun hat. Man darf sich in dieser Beziehung die jüdische Geschichte nicht als eine kontinuierliche denken, wie es gewöhnlich der Fall ist. Die jüdische Bevölkerung Spaniens hat sich nicht aus Einwanderern aus Babylonien gebildet, ebenso wie der Untergang der babylonischen Judenheit nicht unmittelbar vor dem Auftreten der spanischen Juden eintrat. Es sind zwei vollständig verschiedene Blätter der jüdischen Geschichte, die daher auch einzeln behandelt werden müssen.

Doch bezieht sich dies nur auf das politische und ökonomische Leben. Was jedoch die geistige Entwicklung des Judentums anbelangt, so besteht hier sicher ein Zusammenhang: denn hier wurde die Kontinuität durch Bücher (Talmud) und einzelne Persönlichkeiten aufrecht erhalten. Das geschah auch z. B. durch einen babylonischen Juden R'Mose b. Chanoch, der ganz zufällig nach Spanien kam. Auf einer Reise ins Ausland wurden vier junge Gelehrte, die die Teilnahme des Auslands für die babylonischen Lehrhäuser erwecken sollten, gefangen genommen. Einer von diesen Vieren, der schon erwähnte R'Mose b. Chanoch, wurde als Sklave nach Cordova geschleppt und von der jüdischen Gemeinde ausgelöst. Er hat sich später infolge seiner talmudischen Kenntnisse zum Oberhaupt des Lehrhauses emporgeschwungen (33).

Der Untergang Babyloniens führte nicht mit Notwendigkeit die Auswanderung der Juden herbei. Denn hier füllten sie keine Lücken im ökonomischen Leben des mit ihnen zusammen wohnenden Volkes aus, sondern: sie bildeten einen organischen Teil der einheimischen Bevölkerung und beteiligten sich ebenso wie diese an der Urproduktion, am Handwerk, Handel und Verkehr. Ihr Schicksal war aufs unzertrennlichste mit dem Schicksal ihrer Heimat verbunden. Sie waren dort nicht Fremde, die jeden Augenblick auswandern konnten, sondern fest an die heimatliche Scholle gebunden.

Der Untergang des Landes bedeutete mithin auch ihren Untergang.

Es gehört jedoch nicht hierher, die Ursachen des wirtschaftlichen Rückganges des babylonischen Gebietes zu erörtern. Es kann nur kurz auf das Aufblühen der Stadt Bagdad hingewiesen werden, an deren Handel die Juden sich übrigens relativ wenig beteiligt haben (34). Durch die Konzentrierung des ganzen wirtschaftlichen und geistigen Lebens in Bagdad büßte der Norden Mesopotamiens an Bedeutung ein. Infolge der Verschiebung der Wege des Welthandels sank später auch die Bedeutung Bagdads. Die mongolische Invasion endlich hat dem wirtschaftlichen Leben vollends ein Ende gemacht. Aber dies alles geht uns hier nichts an.

Zweierlei aber scheint uns mit Wahrscheinlichkeit aus der Geschichte der babylonischen Juden hervorzugehen:

1. dass das jüdische Volk sich bis heute erhalten hat, verdankt es wohl dem Umstände, dass es in keinem Lande wieder so, wie in Babylonien, mit dem Boden und dem gesamten — geistigen und ökonomischen — Leben des Staates verwachsen war; überall waren später die Juden die Fremden, die von der Urproduktion der Nation ausgeschlossen, einen Fremdkörper im Lande bildeten; darum entrannen sie stets dem Schicksal des Landes, in dem sie wohnten;

2. es gibt keine Kontinuität in der Geschichte der babylonischen und der spanisch-portugiesischen resp. europäischen Juden (35).
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Wanderbewegungen der Juden