Das ostjüdische Antlitz

Mit 50 Steinzeichnungen von Hermann Struck (1876-1944)
Autor: Zweig, Arnold (1887-1968) Schriftsteller, Redakteur, studierte u. a. 1912/13 in Rostock, Erscheinungsjahr: 1920
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Völkerhass, Pogrom, Litauen, Sozialismus, Polen, Assimilanten, Bolschewismus,
Es scheint nicht unangebracht darauf hinzuweisen, dass Hermann Struck dem Verfasser des Textes bei gewisser Übereinstimmung der Gesinnungen volle Freiheit lassen musste und daher für bestimmte Meinungen und Betonungen nicht verantwortlich ist oder sein kann. Dies aussprechend widme ich den Text meinen Eltern.        Arnold Zweig

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Dieses Buch spricht über die Ostjuden als jemand, der sie zu sehen versuchte. In den Tagen, da der Plan zu ihm entstand, vor einem Jahre und in einer litauisch-jüdischen Stadt, durfte man vieles über das Schicksal dieser unserer Brüder erwarten, und nichts Leichtes. Denn damals schien es, als werde die judenfeindliche Hand einer preußischen Junker- und Händlervormundschaft über dem nahen Osten wie eine schattende Wolke schweben bleiben. Wir dachten schon, dies sei sehr schlimm.

Was aber gekommen ist: die Herrschaft des Raubs, der Peitschen und Kolben, der Hinrichtungen und Morde, der spurlos Verschwundenen und in Zuchthäusern Verkommenden — die Herrschaft der Polen ahnten wir nicht.

Wir sprachen mit unseren Brüdern und Schwestern, noch im Rocke des deutschen Soldaten. Sie sagten: „Euer System ist ekelhaft. Ihr reglementiert und schikaniert nach Kräften, ihr schlagt unschuldige Menschen bei Vernehmungen, ihr beschlagnahmt und stehlt, und ihr empört uns durch eure Verachtung. Eure Zwangsarbeitsbataillone sind eine gute Art Sibirien mitten im Lande; eure Verordnungen gehen darauf aus, unsere Schwachen Hungers und an Seuchen sterben zu lassen, die früher hier nicht waren. Es war unter dem Zaren besser als unter euch, und wenn nur die Russen wiederkämen! — Dennoch werden wir mit dem Litauer und Weißrussen auskommen, und sogar mit euch. Nur überlasst uns nicht den Polen. Denn dann sind wir allesamt des Todes.“

Polen und Pogrom ist über das Ostjudenvolk hereingebrochen, das in große Städte gehäuft wohnt, und das über Dörfer und Städtchen verstreut ist. Aus großen Städten kommen erschütternde Nachrichten, aber die Dörfer und Städtchen, ohne Eisenbahn, ohne Telegraphen, bleiben lange stumm. Langsam hört man, was dort geschieht: Mord oder Metzelung.

Ich glaube kein Wort von allen Ableugnungen, die vom regierenden Polen verfasst, verbreitet oder eingeträufelt werden. Man braucht nur zwei Monate in Litauen gewesen zu sein, um mit Notwendigkeit so denken zu müssen.

Die Juden des Ostens wollen auf ihre jüdische Art leben, in eignem Kulturkreis, eigenem Glauben und mit eigenen Sprachen. Das Jiddisch ist eine Sprache für sich wie Holländisch und Englisch — was auch polnische Assimilanten denunzierend lügen mögen.

Ich weiß, dass es vornehm denkende Polen gibt. Nur leider machen sie unsere Brüder nicht lebendig.

Wir rechnen diese Morde und Qualen dem Volk der Polen zu, auf dass die Besseren schamrot werden mögen, wo sie einen Juden sehen. Denn es kommt nicht darauf an, besser zu sein, sondern Einhalt zu tun. Dazu sind sie zu wenig und zu schwach.

Wir sagen hier und heute, was auch Europa und Amerika schon heute sagen könnten, wenn ihnen nicht die irre Angst vor jedem Sozialismus im Nacken säße: die ermordeten Juden, soweit sie Sozialisten waren, sind nicht um des „Bolschewismus“ willen ermordet worden.

Den vergeblichen Kampf gegen den Sozialismus füglich im eigenen Hause zu beginnen und mit überzeugenden Lehren und bessernden Taten zu führen — heißt das zu viel verlangt? Heute vielleicht, wo Europa vom Blutgeruch und Beutegeilheit toll auf der Fährte hinprescht, die zum Untergang und zur Zeitwende führt.

Darum sagen wir den Polen voraus, dass das polnische Volk selbst unsere Brüder rächen wird: durch polnischen Sozialismus.

Möge Israel der Taten Polens gedenken als der Taten des Amalek, dem heute noch nicht vergeben ist seit dreitausend Jahren, wie es nach unzähligem Mord und Unheil von Seuche, Krieg und Hunger den Mord des Völkerhasses, den feigen Mord des Bewaffneten am Wehrlosen, über unsere Brüder brachte.

Freilich, wir vermochten nicht, euch zu Hilfe zu eilen. Und jedes Wort, das wir für euch sprechen, wird für Lüge und deutsche Politik erachtet bei denen, die helfen könnten.

Ihr starbt an einer feigen, mörderischen und gewinngierigen Zeit Europas. Was hilft es uns allen, dass spätere Geschlechter sich um eurer ermordeten Seelen willen schämen werden? Es ist alles ganz eitel.

Immerhin: eines Menschen Zeugnis vergeht nicht. So legen wir Zeugnis ab für euch und überlassen den Wissenden zu fühlen, wo nur einer von uns spricht und wo wir beide.

Möge der Blutgeschmack auf der Zunge des menschenfressenden Stiers Europa bald verschwinden.

„Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht der Herr, Herr, und nicht vielmehr, dass er sich bekehre von seinem Wesen und lebe?“

Sommer 1919
Im Monat Ab 5679

Hermann Struck           Arnold Zweig


Die Lithographien wurden im Jahre 1918 in einer Druckerei des ehemaligen Gebietes Ober-Ost unter der Aufsicht des Künstlers auf den Stein übertragen und dort gedruckt, so dass der Verlag darauf keinen Einfluss nehmen konnte. Die Steine wurden abgeschliffen.

greiser Jude aus dem Osten Europas

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greiser Jude aus dem Osten Europas 02

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