Der greise Jude des Ostens aber wahrte sein Gesicht

Er wendet sein Auge von mir fort in eine Ferne, die nicht mehr ist als Zeit. Sein Profil geleitet wie ein fallendes Wasser in den Bart, der sich in Gischt und Wolke löst. Das Adlige seiner Jochbögen und der Nase, das Geistige der zerdachten und gebeulten Stirn stößt sich vom harten trotzigen Ohre ab und lagert um diesen Blick, der weder fordert noch verzichtet, sich nicht sehnt und nicht klagt, der ist, und eine Ferne an sich saugt, von der wir wissen, dass sie nicht mehr ist als Zeit.

Ist dies der Jude des Ostens? Ist er ein Greis, der aus aller Gegenwart schon fast und sicher aus aller Zukunft herausgeschnitten, ein Leben lebt, das im Gepressten und Engsten bedingt ist, und das zerstiebt, wenn der Druck wegfällt der es in eine Form zwang? Wir wissen, dass unsere Vorväter die Genossen der Männer waren, die wir heute in den Städten Litauens, Polens und Galiziens finden; nein, dass diese in den Hügellanden Frankens und den deutschen Ebenen lebten wie wir. Heute nun sprechen wir verschiedene Sprachen, denken andere Gedanken, leben ein anderes Judentum, essen andere Speisen, messen mit anderen Maßen und haben ein Teil unserer Seele von Europa eingetauscht, unseres Jüdischen einen Teil dafür gebend. Nicht ganz fünf Generationen hat es an uns geformt, das europäische Schicksal und seine Freiheit, seine neue Luft, seine herrlichen und künstlerischen Werte, sein verschmelzender und enteignender Atem: und schon bedurfte es der alleräußersten Not, um uns zur Besinnung zu rufen, Not des Herzens, Not des Gedächtnisses und Not des Antlitzes: Denn aus dem strengen, verzichtenden und vorwärtsgewandten Antlitz des Juden, des Zeugen von der Ohnmacht der Zeit und von der Unzerstörbarkeit der vom Willen erkorenen nationalen Substanz, hatte sie die schwammige, zerfließende und nivellierte Fratze des Händlers einer nordischen Levante gemacht, bestimmt dazu, im Brei einer ewigen „Jetztzeit“ aller Großstädte zu verschwinden. Der Jude des Westens war auf dem Wege zu einer erstarrenden Konfession, einer ohnmächtig verzweifelten Frömmigkeit, die sich abschloss, die nichts weiter zu tun vermochte als sich verzweifelt abzuschließen und in dem wahnsinnigen Atheismus einer exaltierten und vollkommen falsch angewandten Naturwissenschaftlichkeit von Tag zu Tag kleiner zu werden, abzubröckeln, immer schneller abzunehmen, vor Augen den sicheren Verlust und gleichsam ohne Hände und Abwehr dem Unheil preisgegeben. Die Jugend ging erst heimlich dann offen, erst zögernd dann trotzig, frech und schließlich in mitleidiger Selbstverständlichkeit den Weg nach Europa, welches der Name einer genussvollen und arbeitenden und jedenfalls modernen Großstadt ist, den lockenden, rosenbestandenen, lichten Weg des Untergangs im Mischmasch.


Der greise Jude des Ostens aber wahrte sein Gesicht. Es sieht uns aus den Erzählungen Mendeles an, dies Gesicht: treuherzig und verträumt und von einer Reinheit, die sich nur erkauft mit Verzicht auf die breiten Tätigkeiten und das Glück der breiten Tätigkeit. Einen Kleinhandel einzurichten, Brot und Hering zu essen, Kinder zu zeugen und zu erziehen, die Gebete der Tages- und Mahlzeiten zu sprechen und viele Seiten Gemara zu lernen; von dem Wenigen ein Weniges den Armen zu geben, Bräute auszustatten. Kranke zu besuchen. Tote zu begraben und die Trauernden zu trösten — das ist das Schema seiner Pflichtenkette, und wie leicht trägt er an ihr. Nun da er jungen und heiteren Herzens ist, nicht gelähmt von der Jagd nach Verdienen, die ja erst möglich wird durch eine dem Gelde als oberstem Werte zugewandte geistige Drehung — und diese Drehung weigert er sich zu vollziehen — , da er ein junges und heiteres Herz hat, Herz des ewigen Schülers, der um die Unvollkommenheit der Erkenntnis weiß und um das hohe stille Glück der Verehrung großer Lehrer, quillt aus ihm noch das Glück der Pflicht und ihr natürlicher Sinn. Die klaren stillen Augen und der Mund, der seine große Güte verschämt und weich hinter dem Barte birgt, sagen aus, dass hier noch die Ursprünglichkeit und Helligkeit aller Verpflichtung wacht. Nicht das mit genauer Wage Abgezwungene ist hier die Pflicht, nicht jenes schamlos der Gemeinschaft zugebilligte Mindestmaß von Leistung, das dem Leben des Westens seinen öden, kargen und nach Widerwillen schmeckenden Pflichtbegriff geschaffen hat, so dass es sinnvoll wurde zu sagen: tue mehr als deine Pflicht wenn etwas Gutes erreicht werden soll — ihm ist Pflicht „die Forderung des Tages“, und ihre Erfüllung quillt so naiv und ungebrochen aus dem ganzen Grundsinn seines Herzens, dass er vor jenem Worte „mehr als deine Pflicht“ ebenso verständnislos stehen würde wie vor jenem Ächzen unter der Pflicht, das diesem Worte sein Schwitzendes und Hässliches verlieh. Er lebt sein Tun mit der Selbstverständlichkeit eines kindlichen Menschen, und das Schild der Mütze, die selten von seinen Haaren weicht, ist nicht gewohnter in seiner Hand, als ihm sein Tun gewohnt, unreflektiert und bis zum Lachen geläufig ist. Denn die Heiterkeit des Juden ist stets wach und nichts ist liebenswürdiger als sie. Noch wenn Alter und Leben seinen Schädel kahl gemacht, in seine Stirne Runzeln gefressen, die Falten unter seinen Augen tief gekerbt und seine Wangen ausgekehlt haben wie die eines Schnitzbildes — noch dann liegt in dem Winkel des gepressten Mundes, an der Nase und um das Auge eine Schelmerei die siegt. Sie siegt — worüber? Über die Furcht? Aber nichts ist dem Ostjuden ferner als das beständige Gefühl bedroht zu sein, um sein Heil bangen oder bestenfalls kämpfen zu müssen. Der Gott, vor dessen Auge er beständig lebt, ist ein Vater, und sein Wissen um die gebrechliche Seele des Menschen ist ebenso groß wie seine warme, von väterlichem Herzen herströmende Gerechtigkeit und Liebe. Von diesem nahen Gott geliebt zu sein, auf eine harte und männliche Art, mit all seinem Tun unverberglich vor ihm zu stehn und sich tief vertrauend in seine Strafe wie in seine Güte zu schmiegen, das ist die Art des östlichen Juden vor seinem Gotte. Niemand kann unbefangener vor seinen Herrn treten als der Jude, der das Haus des Ewigen betritt, diese kleine von Mauern umstandene Fläche Erde, mit Steinen belegt und bescheidentlich geschmückt. Es ist keine Spur von Andacht in dem Räume; keine Schauer der Ewigkeit und des Gerichts erfüllen ihn, keine sehnsüchtige Wölbung reißt ihn dem Himmel nah, keine Krypta drückt ihm das Joch seiner Nichtigkeit auf den Nacken, kein Wald von Säulen gemahnt ihn, dass er sich im Walde der irdischen Vorspiegelungen verirrt habe und dass erst, wie ein besonntes, morgenrotes Tal voller Lerchenlaut und sabbatlicher Frühluft das wahre Leben, das Leben jener Welt, vor ihm liegen werde, wenn er sich aus dem irdisch drohenden Dämmern dieses steinernen Waldes herausgefunden habe. Nein, hier ist keine Furcht Gottes, kein heiliger Boden; ein Haus für Menschen ist das — und Andacht, Schauer, Sehnsucht und Gewicht der Nichtigkeit sind allein im Gebet, das zuzeiten den Raum schwingen macht im Pendelschlag der ein- und ausatmenden Seele. Worüber also siegt diese Schelmerei? Über das Joch des menschlichen Lebens. Es ist dem Juden härter auferlegt als kaum einem Volke oder einer Klasse der Erde. Denn nicht hilft ihm das Klima eines indischen oder chinesischen Sommers den Sorgen nach Wohnung auszuweichen, wenn seine Lebenshaltung auch sonst der Hand voll Reis nahe kommt, mit der der Kuli oder Parja seine Kräfte erneuern muss, noch kann er sich allgemein in jene geistige Leichenstarre retten, die dem europäischen Arbeiter aller schweren Epochen den Horizont der geistigen Werte verstellt und ihn zwingt, in seinen Kindern nichts als die Fortsetzung seines eigenen proletarisch geknechteten Frondaseins zu sehen. Ja selbst die Wohltat, sich als kämpfendes Glied einer über die Erde ausgestreuten, zu menschlicheren Formen des Lebens schrittweis vordringenden Kaste oder Klasse empfinden zu können, geht ihm in der breitesten Weise ab, weil er in ein unsäglich armes, aber kleinbürgerliches, nicht proletarisches Lebensideal hineingeboren ist. Ganz auf sich gestellt, in einer Umwelt deren reibungsvolle Enge nur an den Fischkästen großer Speisehäuser veranschaulicht werden mag, wo zwischen engen Glaswänden so viele Fische eingepfercht sind, dass sie nur gerade noch vom Wasser, dem belebenden und unumgänglichen Element, umspült sind, sonst aber, Fisch an Fisch gepresst, gegen die durchsichtige unnachgiebige Schranke gedrückt, mit dem Maule an der Oberfläche des Kastens hängen oder am sandigen Grunde festhaften — nicht anders drängt sich der Jude in den kleinen und größeren Städten des Ostens zusammen, einer vom andern wenig unterschieden, kleiner Händler, Handwerker, gelernter oder gelegentlicher Arbeiter, Fuhrmann, Träger, Bote, Makler — alle einander gleich im Ideal des eigenen Hauswesens, sich mit Frau und Kindern im Besitze einer Küche zu sehen, deren Herd ihm die Würde des Baal habajith, des „Balbos“, des Hausherrn gibt. Der Kampf ums Dasein, der geführt werden muss um Kopekenwerte, um Pfennigwerte, zeitigte hier nicht die geschlossene Kampffront einer Gewerkschaft, weil es eben nicht proletarische Arbeiter waren die ihn führen mussten, sondern Kleinbürger, die jeder den andern beengend und zugleich voneinander lebend, in ihrem individualistischen Ideal derjenige Menschenkreis sind, der am schwersten zusammenfassbar, fast unmöglich zu organisieren ist. Jeder dem andern ähnlich, aber doch durch die Nuance von allen anderen verschieden, betont jeder mit Strenge seine Nuance — es sind Juden! und opfert starrköpfig die Möglichkeit, durch gemeinsames Handeln in eine bessere Lage zu steigen, weil jeder in dem Zugeständnis, das er machen soll, die unaufgebliche Eigenheit seiner Person sieht. Aus dem Visier des Mützenschildes und dem Panzer des aufgestellten Kragens, den enthüllenden Mund vom Barte gedeckt lässt er, der erfahrene und geprüfte Sohn eines lange lebenden Volkes, nur das sachlich blickende Auge und die witternde Nase sehen, dem gejagten und weisen Dachse gleich, der sein Malepartus mit sich herumträgt; und so, reserviert, gehalten, nicht argwöhnisch oder misstrauisch aber doch ohne die Blöße des allzu oft verfrühten Enthusiasmus, geht er dem Leben entgegen, dessen Härte er genau kennt. Es ist der Wirklichkeitssinn eines Langelebenden, der in ihm verkörpert zu sein scheint, eines Sohnes der Erde wie sie ist, dem Wirklichkeitssinn des Bauern gleich, der, ohne sich entmutigen zu lassen, den Jahreszeiten und dem guten und bösen Wetter die Ernte abtrotzt; der Wirklichkeitssinn des alten Mannes, der die klarste Ausprägung des Juden aus dem Volke zu sein scheint — dem Alter der Nation gemäß die er vertritt. Und dies Volkstum, starr erhalten, in Sprache, Tracht, Sitten und Geistigkeit dem fünfzehnten, dem vierzehnten Jahrhundert, nur oberflächlich verändert, entnommen, scheint selber unveränderlich und zählebig zu sein wie ein von Krankheit nicht bedrohter Greis.

Und so wäre Resignation und Unverjüngbarkeit des Greises die tiefste und verurteilende Ausprägung des östlichen Juden — des Juden überhaupt? Manchmal meint man, dieser Erkenntnis nicht ausweichen zu dürfen. Eine edle und stille Schönheit des Abends liegt auf seiner Stirn. Die Augen, gesenkt und im Schatten der Jochbögen sanft gelagert wie umdämmerte Weiher, wissen tiefe Weisheit, aber sie blinken nicht mehr der Tat entgegen. Die Milde seines Mundes spricht mit Worten des Predigers von der Eitelkeit und dem Haschen nach dem Winde des vorüberziehenden Daseins. Die Gesammeltheit solcher Menschen ist erschütternd; sie gehen durch ihre niederen Zimmer, und mit ihnen gehen Scharen der Vorväter, die das bittere Brot der Verbannung und des verhängten Elends gegessen haben wie sie. Nicht Hoffnungslosigkeit, nicht die Härte der Verzweiflung ist in ihnen, so nahe verwandt der Auflehnung und dem Todesschrei, auch nicht Verzagen ist ihr Los, in dem die Kleinmut sich selbst bejaht. Hoffnung und Ausblick ist in den Willen Gottes gelegt, der die Erlösung fügen wird zu seiner Zeit. Damit aber schneidet sich jeder Aufruhr und jeder Schritt zur Selbsthilfe ab wie der grenzlos dem Horizonte zuströmende Fluss die Ebene still und unwiderruflich zerschneidet. Gottes Willen: das ist der Horizont des Juden; kein schwarz aufklaffendes Nichts, kein zum Aufbruch reizendes Gebirge, sondern die leis zitternde Linie der Vermählung Himmels und der Erde. Und es bedürfte jetzt prophetischer Worte, um hinzustellen, wie wenig von dem Gifte, das Fatalismus heißt, in dieser beseelten Ruhe ist. Denn dem Willen Gottes Brücken zu bauen, ihm Wagen der Erfüllung zu sein, ist dem Juden freigestellt, ja, dies ist der Sinn seines Lebens. Und die große ostjüdische Schöpfung des Chassidismus quillt hierin über in den täglichsten Alltag, in die unmittelbarste Forderung des Tages. Wer in herzlicher Nähe der Dinge und der Menschen lebt, wer seine Seele davor bewahrt, in kernlose Zweckhaftigkeit sich auszuleeren, wer aufgetan und liebevoll jedem Handgriff seiner Hände, jedem Worte seines Mundes, jeder Verbindung zum Mitmenschen und brüderlich Geschaffenen einen Strahl von Innigkeit und freundlichem Herzen mitgibt, der webt mit an der Erlösung, am Geschick der Menschheit, die vom Anfang der Zeiten tief verwurzelt ist dem Geschick des Juden. Diese große reife Güte, diese gewaltlose Herzlichkeit jeder Stunde ist an östlichen Juden im Alter häufig mit erschütternder Sanftheit bemerklich, und manchmal sind es, wie man bald erfährt, Chassidim, die so wie fruchte volle Birnbäume inmitten des grasigen, strauchigen Alltags stehn. Und heißt es nicht wahrhaftig mitwirken am Gewirk der Erlösung, wenn Ruhe und Güte ins heftige, quirlende Treiben der Menschen fallen wie Birnen ins windbewegte Gras? Ist nicht Befreiung und Feierstunde da, wenn um solchen Greis das Gezänk verstummt, der ewige Markt vergessen wird, die ewige Jagd schweigen muss, fahrige Gesten sich legen, heftige und laute Stimmen still werden, und vor dem freundlichen Zureden seiner Weisheit sich vieles als unwichtig zeigt, das noch eben zwischen Menschen Zäune der Feindschaft errichtete? Wie stark das ostjüdische Volk von solchen Greisen sich fesseln lässt, zeigen die Dramen seiner Bühne, in denen oft der „Sejde“, der Großvater, bislang anscheinend nur ein weise gespartes undurchsichtiges Requisit, im letzten Akt, wenn nichts mehr verfangen will an dem störrischen Knoten menschlicher, männlicher Beschränktheit, seine lösende Gewalt bewirkt: halb überzeugend, halb durch die Würde seines Wesens, die Heiterkeit seiner Weisheit befehlend, fügt er alles zum Guten und Herzerfreuenden, und steht dann inmitten der sich Fügenden wie der Gott des griechischen oder der Herzog des shakespearischen Dramas, bekleidet mit dem natürlichen und fröhlichen Ansehen jedes Wesens, dem von innen zwangloser Gehorsam geschuldet wird.

Wenn nach so hartem Leben, nach dem unablässigen Kampfe um ein wenig Brot für Mann, Weib und Kinder eine Heiterkeit solcher Art das Ende ist — muss nicht im Menschen dann eine Substanz sein, die ihm nicht gestattet, Demütigungen an den inneren Kern der Seele rühren zu lassen? Denn es wird oft eine scheinbare und oft eine wirkliche Demütigung erlitten, selbst wo Jude auf Jude wirkt; das Geld verhärtet auch die jüdischen Menschen zu törichter und elender Hochfahrenheit, kränkende Worte bleiben dem Schwächeren nicht erspart, und wer, wenn er angehört hat, wie der polnische Gutsherr oder der deutsche Offizier zu dem Juden spricht, der ihn im Augenblick nötiger hat als er ihn, könnte die Empörung von sich fernhalten. Aber errät man in den großen offenen Augen, die den Hochfahrenden unbeweglich ansehen unter den gebogenen Brauen, errät man den Zug angespannten Lächelns der von den Flügeln der ausdrucksvollen Nase ins Gestrudel des Bartes herabtaucht? An ihm gleitet die Absicht der Demütigung abwärts in die geduldige und schweigende Erde, die getreten und nicht gedemütigt wird. Was dem alten Juden diese Höhe des Seins verleiht, was ihn unantastbar macht, ist die Verachtung des puren Geldes. Die Verachtung des Nichts als Besitzes. Die Verachtung des Besessenseins statt des gelassen Besitzenden. Die große Verachtung, die der Geist wider den Ungeist hat — ohne die Selbstbesessenheit des Geistes. Das große zerklüftete Ohr des Armen hört nicht Ironie, Gepolter und Beleidigung, denn es hat sich vollgesogen mit der gemurmelten Melodie, die am Abend, nach der Mühsal des Erwerbs, im Bethhamidrasch zu den Blättern der Gemara ertönen wird. Seine knochige Stirn kann sich vor dem Reichen nicht senken, denn hinter ihr kreisen noch immer die Fragen nach dem wahren Sinn des Spruchs, über dessen Auslegung und dem dringenden Mühn in Rede und Gegenrede um die wahre Meinung des großen Lehrers gestern Abend die Kerzen herabbrannten. Das Lernen, das Lernen welches ein Leben lang währt, das Lernen das die unablässige Hingabe des ganzen Körpers und aller Menschenkraft an den Sinn der Lehre ist, das Lernen gibt dem einfachen Juden diese Unangreifbarkeit des Wesens. Und die Unendlichkeit der Bemühung bewahrt vor dem Hochmut der die Klippe des Geistigen ist. Hier gibt es keine Meisterschaft, denn die Schwere der Aufgabe des Talmud ist ohne Ende. Hier gibt es Fortschreitende und Fortgeschrittene, Anfänger und ältere Genossen, aber keinen „Eingeweihten“, keinen „Vollendeten“, keinen „Gerechten“. Noch immer ist dem Juden der geistige Mensch die Höhe des Menschen. Einen armen Schwiegersohn erwählen, weil er ein Lamden, ein im Lernen Bedeutender ist, ihn im Hause halten und mit ernähren, ist dem Juden der Kleinstadt noch immer die beste „Partie“. Vollkommen wahr, dass Reichtum in der Achtung durch den Krieg gestiegen ist, dass die Moralität in dieser Frage gelitten hat. Aber kein Reicher kann sich dem unbestechlichen Gefühl des Volkes gegenüber erkühnen, sich für höher gestellt zu erachten als der, welcher dem Gesetze und dem Studium lebt — sofern er überhaupt zu den mit dem Volke Lebenden gerechnet werden will — und der vom Raw verkündete Bann auf Händler, deren Geschiebe und Geschachere die Volksernährung bedroht, ist noch immer die wirksamste Waffe gegen den kapitalistischen Geist gewesen, der ohne Blick nach rechts oder links nur dem Mehrwert nachrast.

Ehrfurchtlosigkeit kennt auch der Ostjude — nämlich allem gegenüber was Macht und Machtherrschaft ist oder zu sein betont; insbesondere dem Gewaltstaate kann er Ehrfurcht, Achtung oder solche Gefühle, die ihn anerkennen, erhöhen oder hochwerten, nicht aufbringen. Durch alle Straßen gehen sie, die in den Schultern gebogenen Männer, Langröcke mit den gedrehten Locken vor den Ohren, Bärten die man von ihnen nicht wegdenken kann, und den lässigen Augen; sie erscheinen als Enterbte und Flüchtlinge des Lebens, achtlos auf den Schmutz ihrer Kleider und das häufige Ungeziefer, das sie kaum noch plagt; ihrer Hände Arbeit ist nicht viel mehr wert, viel Hoffnung auf großen Erwerb machen sie sich selbst nicht; aber den fremden bedrückenden Staat, diesen Götzen und Machtleib des Westens und des tatarischen Russen-Ostens erkennen sie nicht an. Er hat in ihren Köpfen nicht den mindesten Bestand; er ist nicht in ihrer Welt. Und dabei sind sie keine Revolutionäre; wie sollten sie noch Trotz, Empörung oder Aufstand aufbringen nach so langem Leben; vor allem: wie kann man Trotz, Empörung, Aufstand empfinden gegen ein so nicht bestehendes Ding wie den antidemokratischen Staat? (Aber sie sind die Eltern von Revolutionären). Diese in den Schultern gebogenen Männer sind seit etwa vier Jahrhunderten, seit etwa zwei Jahrtausenden von fremden und harten Staaten regiert worden. Sie haben, mit Beziehung auf sich, nur den Unsinn, nur die Gewalt, nur die unterdrückende Faust herrschen gefühlt, und sie haben sie gründlich verachtet — so tief verachtet, dass diese Verachtung keine Maxime mehr ist, sondern der Mutterboden selbst aller Gefühle, die der Anblick des Staates ihnen ablockt. Diese Fremden, diese Nichtjuden, die an die Stelle vernünftiger, überredender, überzeugender Maßregeln einen schwitzenden, knirschenden, augenrollenden Automaten gesetzt haben! Die ohne gewalttätige Unterdrückung, ohne bewaffneten Befehl mit Menschen nicht auszukommen wissen! Die knechten und knechten, und die verlangen, dass ein freier Jude das Geknechtetwerden innerlich anerkennen, achten, beachten soll! Die einen dummen Polizisten, einen bornierten Amtsschreiber, einen befehligten Soldaten, einen von sich selbst betrunkenen Offizier, einen mit Ressortaugen und karriertem Gehirn ausgerüsteten Titelbeamten dazu bestellen, die lebenden Bedürfnisse, Triebe und Wallungen lebendiger Menschen zu reglementieren, zu befehligen, mit Strafen und Drohung von Strafen zu umzäunen! Und wo hätte er ihnen je Gerechtes und Freundliches erwiesen, dieser Staat? Seit den Tagen der großen polnischen Könige nicht mehr und ebensowenig vorher. Wo immer ein Staat den Juden treu und rechtlich behandelte, hat er ihm mit Rechtlichkeit und Treue bis in den Tod gedankt: von den Juden an, die Alexanders Städte verteidigten und denen, die neben den Goten des Theoderich auf den Wällen Neapels gegen die Byzantiner fochten (Procop) bis zu denen, die in polnischen Aufständen freiwillig kämpften und all den Toten des Weltkriegs; aber vor Gewalt haben sie noch nie kapituliert. Und also, wo er ihnen nicht einmal für das nackte pure Menschenleben Gewähr geleistet hat, wo er sie jeder Wut der Untertanen hingeworfen hat zu Raub und abkühlender Befriedigung, gehen sie mit ihm um wie mit einer unendlich dummen, großmäuligen Bestie. Sie verachten ihn und sie betrügen ihn — wenn man Betrug nennen darf, was nur Umgehung lästiger, sinnloser, zum Ärgernis hingestellter Vorschriften, Gesetze und Weisungen ist. Denn betrügen kann man nur jemanden, dessen Recht man anerkennt obwohl und indem man es umgeht; sie aber haben eigene Vorschriften, Gesetze und Weisungen, die ihnen gelten und die sie nicht umgehen, und was der knechtende Staat ihnen entgegenstellt, ist ihnen ein sinnleeres, nicht bestehendes Formelwesen, auf das Bestechung, Nichtachtung und Hinterslichtführen die einzig angemessene Antwort des Überlegenen und Gewitzten ist.

Und so wären sie denn Atome und Scharen von Atomen, diese Juden des Ostens, unfähig eine lebendige Gesellschaft von Menschen, eine auf Geben und Empfangen, auf Erzeugung und Austausch, auf Schöpfung und Erlebnis gegründete Einheit zu bilden? Wer dies meint, hat zu eilig verworfen. Der Ostjude leugnet den Zwangsstaat, ja, kennt nicht den römischen Staatsbegriff, weil er in einer lebendigen Volksgemeinschaft lebt, weil er eine unendlich blutvollere, reicher seiende Form der Gesellschaftung verwirklicht als der brutale, auf Befehl beruhende Autoritätsstaat es ist. Der Arme, dessen von Leid und Geist gegliederte Hand die Almosenbüchse umspannt und schüchtern hinhält, indes sein gramvolles und vertrauendes Auge den Geber prüft und den Herzensgehalt der Gabe empfindet, er ist der sichtbarste Ausdruck dieser Art von Gemeinschaft. Die Freiwilligkeit der Leistung, sie, die im Grunde jede Art von gemeinschaftlicher Leistung erst ermöglicht, sittlich macht, wertvoll macht; die unbedingte Abwesenheit jedes zwingenden Zwanges; die Verantwortlichkeit des Bruders für den Bruder, die jedem Anspruch an ihn eine von beiden empfundene Legitimität gibt; die Verbundenheit im Rhythmus des Daseins, im Anschauen der Welt, in den Wertungen und dem Geöffnetsein für Werte, in der Rangordnung der Werte; und endlich die schweigende und selbstverständliche Übereinkunft darüber, dass das Leben wechselnd und schwankend, Gott aber und das Gesollte ewig und unveränderlich ist, dass der heut Gebende ein morgen Empfangener sein kann, sein wird, und das Glück keine Ehre, Unglück keine Schande ist: solche Antriebe und Urantriebe geben die Keime her zu einer Gemeinschaft, die heute keineswegs rein und erfreulich ausgebildet da ist, die aber der Möglichkeit und Anlage nach aus der Art spricht, auf die Ostjuden miteinander, ineinander leben. Noch in der Härte mit der einer den anderen gelegentlich anblickt, noch in dem Fluche den er ihm nachruft, ist die Anerkennung gegeben: du bist Blut von meinem Blute. Aber jede mit dem jüdischen Sittengesetz von Güte und gerechter Offenheit übereinstimmende Handlung oder Wesenheit eines Nichtjuden macht ihn dem Ostjuden zum „Juden“, dem gegenüber er handelt wie man unter Brüdern der Gemeinschaft soll — und jede in Abfall führende, das Judentum verleugnende Handlung oder Lebensart eines Juden macht ihn dem Ostjuden zum „Fremden“, zum „Nichtjuden“, an dem man verfahren darf wie man mit Feindseligen verfährt. Darum ist dem Ost Juden der assimilierte, gewaltverehrende Deutschjude ein Fremder und Gegner, darum war ihm in der Zeit der Besetzung der gütige und menschliche Deutschchrist so oft „ein Eigener“, ein Gemeinschaftsbruder; und darum möge jeder getrost die zwiespältigen, tag- und nachtfarbenen Berichte anhören, die von Deutschen kommen und ihre Erlebnisse mit Ostjuden froh oder entrüstet schildern, und daran den Erzähler erkennen, und mehr ihn als die so oft Verkla(>ten. Denn nicht das Blut ist der allmächtige Spender und Binder solcher Gemeinsamkeit, sondern der Geist, der sich vom Blute tragen lässt, aber auch das Blut überwindet. „Gott wird helfen“, sagt der Jude getrost dort, wo der Sohn westlicher Völker verzweifelt seine Vereinzelung erfahrt oder titanisch gegen das Schicksal angeht, und das heißt nicht — wie dem gläubigen Christen — „es wird ein Wunder geschehen“, sondern „Juden werden helfen“, „Brüder werden helfen“. Und die notwendige Ergänzung zu diesem Satze ist jener andere, ebenso oft gehörte: „Denn wir sind doch Juden“ ... Ja, wir sind Gemeinschaftliche, Blutsbrüder und Geistesbrüder, und aus dem Geiste gegenseitiger Hilfe erwächst das Volk, aus dem Volkstum aber die brüderliche Hilfe. Blut und Geist: Menschentum, gelebtes Leben.

Unscheinbar, still in sich gefärbter Alltag, gelebtes Leben ist die Art der ostjüdischen Gemeinschaft; Alltag, dem man mit scharfen und klaren Augen, einem runzelvollen Gesicht und festgeschlossenen Lippen entgegentritt, die Tabakspfeife übrigens stets zwischen den Zähnen. Der Mensch muss leben und nicht andere für sich leben lassen, und die Erfahrung vieler Fehlschläge, Erfolge und halber Erfolge lehrt, dass halbe Fehlschläge das häufigste sind. Welche Stärke aber gibt dem Juden dass er weiß, ihm könne im letzten Grunde nichts geschehen; wie geradeaus und sicher schätzend stehen seine Augen den unbeweglichen Augen des Lebens gegenüber! Er wäre kein Jude, wenn ihm diese letzte Unangreifbarkeit nicht einen unermüdlichen Elan gäbe, wenn er in betrachtende Ruhe versänke und mit sich nach dem Willen des Lebens geschehen ließe. Er lebt, er beginnt den lag mit der Tätigkeit dessen, der in seinem Mute den Beistand Gottes spürt; aktiv ist er, ein Vorwärts und Aufwärts des Willens zum Leben, den Marschrhythmus vieler seiner Lieder spürt er im Pulsschlag des Blutes kreisen. Nichts fieberhaft Aufflackerndes und schnell Erloschenes führt ihn in Verwandlungen von Freude und Verzweiflung, sondern die Zähigkeit des alten erfahrenen, im Lebenskriege ergrauten Kämpfers stellt ihn nach jedem Sturz wieder auf die Beine. Mit sechzig Jahren, mit siebzig noch ist er imstande, sein Glück immer wieder zu versuchen, und so leidenschaftlich zäh er an dem Orte haftet, der ihn ergrauen sah, ebenso hell und willig horcht er auf, wenn ihn der Ruf trifft, einem neuen Schicksal zu folgen. Darum vermochte er, der wie keine Menschart sonst am Altgewohnten hängt, für diesen Ruf Bereitschaft in sich zu wahren, sobald er sein Zentrum trifft, die Angelegenheit seines Volkes ausspricht: er vermochte die Gewalt der nationalen und zionistischen Idee zu erleben. Soviel Widerstände er im einzelnen zu leisten weiß: dem Aufruf zur jüdischen Volksheimat im Lande Kanaan hat gerade der alte Jude, der Mann des Volkes, sich sofort erschlossen, weil er in neuer, politischer Form nur das aussprach, was er von jeher wusste: dass dies Land sein Land ist. Nicht er sah in Herzls Botschaft eine Utopie, das sah nur der Westjude in ihr; er erkannte mit stürmischer Einwilligung das Reale, das Wirkliche, das Unleugbare und Natürliche darin. Und darum ist der Kreis der Bejaher des zionistischen Ziels im Osten so viel größer als der Kreis der östlichen Zionisten, von denen sich der allgemeine Jude in der Sprachen- und Gegenwartsfrage oft trennt. In einer Organisation etwas Wirkliches zu sehen lehnt er ab, Vorarbeit zu leisten entschließt er sich ungern; ihm gemäß ist allein der Aufbruch, das Hingehen, die Landnahme. Wenn das Volk ruft, wird er zur Stelle sein; bis dahin — soll man reden ? Versammlungen berufen? Sich aufmuntern? Wozu? Man hat Besseres zu tun, die Zeit ist hart, man muss leben und das Geld für den nächsten Tag verdienen ... Ihm genügt es, dass die Idee da ist, wach ist und von denen behütet wird, die sich ihr auch in der Form der Organisation ergeben haben-, sie können für den Tag der Tat auf ihn zählen, denn er ist ein Sohn des Volkes das seine Rechte nicht vergisst ... So lebt er mit Ideen und die jüdischen Ideen in ihm und durch ihn. Nicht etwa, dass er durchwegs ein Edeling und reiner Frommer ist. Der Druck der Jahrhunderte hat ihn gepresst und verdüstert; auch in dieser Menschengemeinde sind wie in jeder unredliche und gierige, eitle und prahlerische, ruchlose und verkommene Menschen, Trinker — selten — und Spieler — häufiger — , Selbstgerechte und Grobiane und vom Besitze ganz verhärtete Händler. Aber gewiss bleibt, dass in jedem von ihnen, noch im Wucherer und Mädchenhändler, im Bordellwirt und im kriechenden Umwedler der Mächtigen und Reichen, im Angeber und Verräter eine wilde Ganzheit des Wesens ist, eine Entschlossenheit zum Schlechten, die weit weg ist von schwächlicher Entartung und Entfärbung; sicher ist auch, dass nichts dafür bürgt, ob nicht eines Tages auch dieses wilde Herz ein Ruf zur Umkehr treffe und ihn verbrenne, das alte Wesen ganz verbrenne und ein neues Herz in seiner Brust schaffe. Und sicher ist schließlich, dass ihn die Achtung vor dem Leben der Menschen und die Scheu vor Gewalt und Blut seltener als jeden anderen verlässt. Man möge nun sagen, dass es Feigheit sei, die ihn selbst vor dem Hinterhalt des Mörders zurückschrecken lässt; das ist eine sehr oberflächliche Optik. Was ist denn diese Feigheit anderes als die verzerrteste und erniedrigte Form des Urantriebes: Du sollst nicht töten, weil die Seele im Blute lebt und weil vergossenes Blut durch Nichts wieder gutgemacht werden kann? An dem Ausgewucherten, an dem verhandelten und geschändeten Mädchen noch kann durch Güte anderer Menschen geheilt werden, was der Verbrecher an ihnen verbrach. Alle Menschen sind vor Gott Mitschuldige und zur Sühne berufen. Der Tote aber ist tot, und der Tod des Tötenden vermag durch nichts von der Last der Sünde auch nur ein Gran wegzuheben; selbst wenn die Umkehr und die Reue, die Buße und der Schrei der Zerknirschung, Selbstanklage und Selbstverurteilung den Mörder reinigen, so bleibt der Tote doch um das Leben und die Vollendung seiner Sendung gebracht, und wer wollte hier begütigen?

Und so wenden wir die Augen weg von diesem Untergrund und Hintergrund, der nicht imstande ist, die Gemeinschaft zu entwerten, die den Ostjuden mit all seinem Sein enthält, denn er selber ist nicht dadurch entwertet. Immer und immer wieder hebt er sein vor Ausdruck leidendes Auge empor aus den Ebenen des Leids, groß und flammend steht seine Hoffnung in den Sternen des nachtschwarzen Himmels: die Hoffnung auf Dauer. Das Allerweichste in der Welt überwindet das Allerhärteste; die heroische Geduld des alten Juden, die gesammelte Passivität seiner Tapferkeit muss, weiß er, stärker sein als die Gewalttat, die unreife und noch reißende Völker an ihm je und je verüben — sie, die seinem weilten Barte eine anklagende Ehrwürde verleiht, noch wenn er vom Blute des ermordeten Juden rot und speichelbesudelt im Kot der polnischen Gasse und Gosse liegt. Gerade dann. Gestern wieder wie je und je auf den vergewaltigten Seiten der Geschichte dieses Volkes haben wir gelesen, dass die entmenschte Rohheit und Niedertracht grollender Soldaten, gierigen Pöbels polnischer Nation ostjüdische Menschen ermordet und geschändet hat — Menschen, die sich nicht wehrten. Wir ahnen alle, erschüttert vor der Reinheit solchen Todes, die Geste, mit der unsere Märtyrer sich in den weißen streifigen Gebetmantel hüllen und sich erschlagen lassen, weil sie diesem Volke angehören, das ausgewählt und niedergeworfen in einem ist. Mögen sie unter den Peitschen der Polen gejammert, unter ihren Tritten sich gekrümmt haben: sie sind Märtyrer der Nation und um so reiner lebt ihr Gedächtnis. Das Volk, welches sich nicht wehrt, wird schließlich siegen. Das Volk, welches sich nicht wehrt, wird nicht verschwinden. Es wird nicht untergehen. Es wird die junge und bestialische Nation überdauern, wie es andere überdauert hat. Und wir werden nichts vergessen; das Volk wird nichts vergessen. Juda ist ewig, und Amalek, der die Schwachen, die sich nicht wehrten, niedermachte, ist nur langlebig. Möge er aufstehen von Zeit zu Zeit: stets wird sein Blick das schimmernde Haupthaar, die reine gedankenvolle Stirn, das emporgewandte Auge des Juden erblicken, und er, Kajin-Amalek, einst Römer und Deutscher, nun Rumäne, Ukrainer und Pole, wird das Blut des Juden vergießen und darin seine Niederlande finden, seine Schande, seinen endlichen Tod. Der Jude ist ewig, denn der Mensch im Menschen ist ewig, und Amalek, das reißende, feige, gewalttätige Gewürm, ist vergänglich, denn der Mensch im Menschen wächst. Greis, von den Sternen her strömt Sicherheit in dich; Greis im Tallith, dein Blut, vergossen für uns alle und für die Wehrlosigkeit des Menschen, wird verklärt auferstehen und das Morgenrot der Zeiten je und je färben, wird wie ein unverlöschliches Gestirn, die Morgenröte, das Ende der Dämmerung einleiten und verschönen.

Lügen diese Gefühle? Ist Trug in solche Überzeugung geflossen? Die Augen des Ostjuden schauen uns prüfend an. Unbeirrbar stehen sie, breit auseinander und unverrückbar verbunden wie die Sterne des Jakobstabes in den fließenden Nebeln des weißen Bartes. Die Falte über seiner bäuerlichen Nase sitzt scharf und vertikal wie die Falte des Seemanns, der die Brauen mit der Hand beschattet um unbeirrter wahrzunehmen, wie die Falte des Malers, der seinem Gegenüber spähend den lebensvollen Zug absieht. Der Sinn für Wirklichkeit, der diesem Volksteil der Juden eine realistisch-konzentrierte Dichtkunst gegeben hat, die Forderung der Wahrheit, die es erhebt, wendet sich aus diesem richterlichen Antlitz gegen alles, was über den Juden des Ostens ausgesagt wird. Ist, was bisher gesagt ward, auch wahr? Besteht es vor dem Leben, vor der Probe des nahen Miterlebens im Volke? Ist es nicht etwa wohlwollende Täuschung über einen ganz anders bestehenden Sachverhalt? Nicht etwa nur erhobene Rhetorik und ein frohlockender Tonfall über einer verschleierten Unwahrheit? Ist der Jude des Ostens vielleicht wirklich ein Greis, am Ende eines langen Lebens, unverjüngbar, nicht wiederzugebären, vor dem unmerklichen Tode? Ist dieser letzte Teil des jüdischen Volkes als Volkheit nur zusammengehalten durch das Ghetto, zum Auseinanderstieben verurteilt, sobald das eiserne Band von den Revolutionen zerstört und ruhigere Bewegung eingetreten sein wird? Verurteilt zur Atomisierung, zum Verlust an jedem einzelnen Juden, wie ja die Juden des Westens jeder an Judentum Verlust erlitten haben? Verurteilt zur An(jleicherei, zur „Moderne“, zur „Jelztzeit“, zu Europa, zum Mischmasch? Und wer bürgt dafür, dass es nicht gut so kommt, wenn es so kommt? Wer wagt es und mit welchem Rechte, von der Ewigkeit eines Volkes zu reden, welches ein Pariavolk war fast solange es bestand, ein Volk, mit dem die anderen sich zu vermischen nicht geruhten, und welches, wenn das Vorurteil der Kaste, der Fluch der Kaste durch fortschreitende Aufklärung beseitigt wird, gierig in die Hochzeit mit den Völkern einzugehn bereit ist? Wer behauptet die ewige Sendung eines Volkes, wo vielleicht nur die ressentimentale oder pariahafte Umkehrung der Wertordnung den Verachteten zum Verachtenden, den Ausgeschlossenen zum sich Einschließenden, den Verstoßenen und nirgendwo Behausten zum Ewiglebenden und wandernden Lehrer der Menschheit gemacht hat? Hat nicht in jedem Lande vom Westen her eine Entjudung der Juden begonnen, die nur am Unwillen der eingeborenen Völker ihre Grenze fand, und wie oft nicht einmal an ihr? Und was wird aus dem ewigen Volke, wenn der revolutionäre Föhn alle alten Gletscher und Völkerklötze zum Schmelzen bringt — gibt es auch dann noch dies Ostjudentum in seiner volkhaften Fülle und Bewahrtheit? Denn auf der Erde ist dies der letzte Teil des jüdischen Volkes, der neue eigene Lieder und Tänze, Sitten und Mythen, Sprachen und Gemeinschaftsformen geschaffen hat und lebend erhält, und der zugleich das alte Gut in lebendiger Gültigkeit bewahrt. Ist der Ostjude ein Greis in seinem von Reinheit, Heiterkeit und Weisheit verklärten Abschied, so ist der Bestand des Judentums nur so lange verbürgt, als die Völker selbst in Hochmut und Härte sich von ihm absondern; und dies schöne menschlich herbstlich daseiende Ostjudentum ist die rosen- und veilchenfarbene, goldgeränderte Abendröte des jüdischen Volkes. Ist der Ostjude dieser Greis? Wir werden die Antwort zu suchen haben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das ostjüdische Antlitz
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