Die Häuser der jüdischen Gasse. Familie und Ehe. Die jüdische Frau

Das sind die Häuser der jüdischen Gasse: zermürbt, vergilbt, gebrechlich — aber so haben sie schon vor zwei Generationen ausgesehen, und es ist nicht zu berechnen, wie lange sie noch stehen werden, wenn nicht das Feuer sie vernichtet. Sie haben keine besondere Gestalt sofern es nicht degradierte Paläste oder die Häuser alter Bürgerfamilien sind; auf einer rechtschaffen und in nichts ungewöhnlich empfundenen Fassade, hinter der alle Welt wohnen kann, sitzt ein Giebel kunstlos und dreieckig wie sich’s gehört: geht eine Haustür in die Straße, so liegt meist ein düsteres Lädchen hinter ihr, oft aber betritt man das Haus vom Hofe her, in dem stets grüne Rasenstreifen von der treuen Natur vorgesehen wurden und in dem noch öfter Bäume, freundlich atmende Bäume stehen. Die Fensterläden hängen nicht sehr mathematisch in ihren Angeln, gelegentlich klebt ein Papierstreifen über einer angebrochenen Scheibe, alle Stufen wurden von Geschlechtern hohl getreten, die Rauchfänge zeigen nur selten öde sinnlose Kuben sondern sitzen physiognomisch auf den Dächern — unter ihnen aber um den Ofen liegen Stuben, wahre bewohnte menschenvolle Gehäuse des Lebens. Sie sind arm, sie entbehren des Geschmacks; aber sie sind ganz übersponnen von einer über jede Unordnung siegenden Heimlichkeit.

Es scheint in jedem Volke zwei zentrale Bindungen zur Gemeinsamkeit zu geben. Die eine, in der sich die schaffenden, Leben formenden und bewältigenden Kräfte sammeln, und die andere, die der zeugenden, Leben weitergebenden und bewahrenden Mächte. Jene ist seit sehr früher Zeit eine Gemeinschaft der Männer — obwohl die Gestalten der Mirjam, Moses Schwester, und der Deborah klar dartun, dass dem Juden eine Zeit noch irgendwie gegeben war, die der Frau eine zentrale Stellung innerhalb der aktiven öffentlichen Gemeinschaft ermöglichte. Im Ostjudentum mögen das Bethhamidrasch, das Beth-Am und der Waad die Orte sein, an denen diese Männerangelegenheiten, das öffentliche Leben der Gemeinde und auch die Spiegelung des allgemeinen politischen Weltlebens im Tätigen, die Besprechung und Belebung der „Lern“fragen (Gemara und ihre Literatur, Fälle des talmudischen Rechts u. s. f.) im Abstrakten die Atmosphäre ausmachen. Der Ort der anderen Bindung ist das Haus, ihre Form die Familie.


Familie und nicht Ehe ist das entscheidende Wort. Denn Ehe ist für uns ja die Bindung von Mann und Weib, eine geschlossene Beziehung, der Selbstwert zukommt und in der die innigste Form der Gemeinschaft gelebt wird, die denkbar ist; deren Werte: Einheit, Reinheit, Lebensfülle, Menschwerdung, in diesem Bündnis von Zweien selbst verwirklicht werden. Die Tendenz auf Dauer, die ihr innewohnt, bezieht sich auf sie selbst, nicht auf irgendeine andere Gemeinschaft (Nation, Menschheit), ihre Unauflöslichkeit ist lediglich eine Frucht der verbundenen Gesinnung. Nachkommenschaft ist nur eine Funktion dieser Ehe, nichts ihr Wesentliches; auch ohne Kinder ist die echte Ehe geschlossen. Nicht so die Familie; und auf sie kommt es dem Ostjuden allein an. Ehe ist ihm nur eine Vorbedingung der Familie; eine kinderlose Ehe soll eigentlich nach zehnjähriger Gemeinschaft geschieden werden, weil Kinder ihre notwendige Bedingung sind. Kinder aber, die zu haben die wichtigste Gebotserfüllung des Menschen ist, zeigen an, dass die Eigenschaft der Dauer hier dem Nationalen zugeteilt wird; die Familie ist die Zelle des Volkes an der es wächst. Denn wenn Kinder auch die Verlängerung des Individuums in die Zukunft sind, und die Werte, besonders die vitalen und biologischen, der Elternreihen weitergeben: hier ist das Individuum selbst hauptsächlich vital gewertet und Träger der Verpflichtung gegen das Volk.

Familie: mit diesem Wort ist ein ewiges und Urwort des Menschen ausgesprochen, und nirgendwo zeigt sich heller die tiefe und unablenkbare Weisheit, die im Ostjuden noch Leben ist. Was heute gegen die Familie Sturm läuft — und vermutlich ist sie nie schärfer angegriffen worden als in diesen Tagen, vor allem nicht von Juden — sieht nur die kurze entartete und bröckelige Stirnseite dieses ungeheuren Grundsteines der menschlichen Gesittung. Denn die heutige Familie mag entartet sein, ist es vielmehr gewiss; aber welche Optik, die den vorübergehenden Verfall mit wahrhafter Zerstörung verwechselt ... Es gibt Mondphasen ewiger Gesittungsphänomene, sie nehmen ab, verlieren an Sichtbarkeit und Lichtstärke, scheinen zu schwinden. Aber in Wirklichkeit sind das nur Verdunkelungen und Vitalitätsrhythmen ewiger Wesenheiten. Nietzsche hat die Religion und Gott totgesagt, und man hat ihm geglaubt; und inzwischen wächst das religiöse Leben in den Besten stetig an, seine Neuform ist menschenverbindende Gesinnung, sein zugewiesener Ort das Diesseits der Seele und der Gemeinschaft. Man hat die Kunst ebenso totgesagt: und neue Kraftströme wachsen ihr aus dem Religiösen zu. Nicht anders ergeht es den ewigen Ideen, die sich im Leben der Gemeinschaft selbst darstellen: Volkheit, längst zum Untergang verurteilt, baut sich neu auf, entschlossen, sich der Gewalt und des Gewaltstaates zu entledigen; Menschheit, im neunzehnten Jahrhundert, dem des Nationalismus, ganz abgetan, wächst immer lebendiger ins Reale; und Ehe und Familie, jene vor zwanzig Jahren zersetzt, diese heute diskreditiert, tun desgleichen. Man muss nur ruhige und weitsichtige Augen haben um dies Wachstum zu sehen, und man darf einer Gegenwart nicht eine übermenschliche Gültigkeit zumessen ... Wir sind allesamt nicht so wichtig, wie wir glauben.

Denn wenn die Familie dies nicht wäre, nicht ein Ewiges und vor der Ewigkeit gerechtfertigt: wer ertrüge dieses Antlitz? Das ist die Frau des Volkes, die ganz der Familie geopfert wird, und die sich ihr darbringt. Wie das hornige und erschütternde Gesicht einer Schildkröte steht dies einst blühende Angesicht zwischen den Schalen des großen Tuches. Immer lastende Sorge heißt der Dämon, der die Frau so verwünschte, unablässige Arbeit der Zauber, der ihr die Hände dürr und hart und wie Gebein entfleischte. Die Züge dieses verfallenen Mundes hat die Not gekniffen; im harten Pergament der Haut stehen Augen, die nur noch das Nächste sehen können, das morgige Brot. Sie hat geboren und Kinder groß gezogen, mitten im Elend der Zeit hat sie das weitergegeben, woran sie nicht hat mitschaffen können. Aber dafür ist ihre Sorgfalt, ihr mütterlicher Instinkt, das ewig wache Herz in der Brust der beste Pfleger und Pädagoge der Kinder geworden; wenn ihr Geist nicht dazu reicht, die Probleme des so vielfachen und sich kreuzenden Jugendlebens zu lösen, so ist er doch um so stärker tätig, um die physische und biologische Voraussetzung zu erhalten, die der Jugend erst ermöglicht, ihr Dasein zu bestehen. Und das ist im Grunde das einzig Wichtige. Denn die Leiden der Jugend, Härte des Problems und Krieg gegen das Ratlose in ihr selbst sind schon bildende Kräfte der Erziehung; viel mehr bedarf es nicht, wenn ein Geschlecht von zukunftsvollen Menschen werden soll. Jeder erzieht sich selbst am Leben; die plastische und erobernde Kraft im jungen Menschen wirft sich um so wilder gegen die Widerstände, je tiefer allein er ist. Alle Erziehung ist Einsamkeits-Angelegenheit, sofern nur die Instinkte des jungen Menschen ungebrochen sind. Und freilich darf keine allzu perverse Umwelt auf ihn lauern. Selbst ihr entkommt der Starke; aber man muss den Halbstarken auch erhalten, und hier ist der weise und leidenschaftliche Pädagoge allerdings am Ort.

Was die Familie zu allererst befähigt, weitergebende Macht zu sein, und das Errungene und Lebensfrüchtige in die Zukunft zu tragen, ist zuerst die Erhaltung des körperlichen Fundaments. Und nun scheint es wirklich so zu sein, dass eine möglichst unindividuelle Gefährtenwahl dem Durchschnitt, dem Typus am besten dient. Nicht hochentwickelte Individuen tragen die Dauer in sich. Die alte Erfahrung, von den Arbeiten des Doktor Wilhelm Fließ jetzt genauer angeschaut, scheint gewusst zu haben, dass auch dem menschlichen Lebewesen nur eine begrenzte Dauer und Zeit zukommt — überindividuell gefasst, in der Familie aufbewahrt. Je größer das einzelne Individuum ist, je mehr Lebenskraft auf die Ausbildung eines einzigen Menschen verwendet wird, um so eher erschöpft sich die Zeit dieser Familie. Daher ist die Dauer eines Volkes, diese unendliche Reihe aus der Dauer der Familien, dort am besten bewahrt, wo ein möglichst gleichmäßiger Typus den Stamm und Kern des Volkes bildet; wo Zähigkeit, Widerstandskraft und erobernder Elan in der Physis einen sicheren Boden finden. Begabung aller Art ist einem Volke sehr gefährlich, das unter so abnormen Bedingungen lebt wie das jüdische. Denn die begabten Menschen wirken, ungeduldig wie sie sind, ins Nächste, ehrgeizig wie sie sind, ins Breiteste: und mit beidem gehen sie auf Anschluss an die herrschende Kultur aus: sie assimilieren sich, und am häufigsten dort, wo sie in heftigem Widerspruch zu ihrer Familie erwachsen, und der Ansprüche des Volkes an sie nur unter Protest gewahr geworden sind: wo ihre Begabung mit dem tapferen, zähen und volkstreuen Charakter ihres Volkes nur noch so zusammenhängt, dass sie tapfer, zäh und treu nur gegen ihre individuelle Aufgabe sind, aber nicht mehr imstande und reich genug, Bindungen so überbrückender Art wie Volkstum zu bejahen. So scheint die unpersönliche Art, mit der allgemein im Ostjudenvolke Ehen geschlossen w erden, und die ja im allgemeinen Judentum noch sehr üblich ist, dem nationalen Sinn der Ehe in einem bedrohten Volkstum tief gemäß: körperliches Fundament für den Typus zu sein und dem Individuum einen Damm zu setzen, der es national entgiftet. Zudem ist ja die Liebeswahl in den tiefen und tragenden Schichten jedes Volkes sehr wenig auf individuelle, weit mehr auf Gattungswerte gestellt; und das Falsche des Vergleichens liegt auf der Hand, wenn man den durchschnittlichen Juden dank seiner höheren geistigen und ethischen Kultur stets mit dem europäischen Bürgertum vergleicht (schon in der Frage der Manieren und des Taktes kommt diese falsche Perspektive zur Geltung); da der jüdische Kleinbürger die tiefste Schicht der Ostjuden darstellt, muss man ihn mit dem europäischen Bauern oder Arbeiter vergleichen; und dann sieht man klar, dass auch in diesen Schichten von einer sehr individuellen und persönlichen Gattenwahl nicht die Rede ist — auch hier wird nach allgemeinen vitalen Werten gewählt. Und wieder, wie überall, wird hier die Tragik unserer Lage offensichtlich: wir müssen uns national vor unseren Besten, den Trägern hoher persönlicher Werte, hüten; sie, die Art und Größe unseres Volkes am stärksten legitimieren und Stolz und Schmuck jedes normalen Volkes sind, werden uns gefährlich — um so gefährlicher, je häufiger sie entstehen, und je peripherer, kultivierter die Schichten sind, aus denen sie sprießen.

Was nun aber hat denn die jüdische Frau des Volkes von ihrem schweren und tapferen Leben für Frucht? Was kann sie denn veranlassen, so gefasst und still die Hände ineinander zu legen, und uns mit einem so rührend klaren Auge anzusehen aus all ihren Falten und Runzeln? Was gibt ihrem Munde trotz allem dies Beruhigte, diese gefasste Heiterkeit? Sie verblüht, Orientalin, so schnell; die Armut weicht kaum zurück vor ihrer unverdrossenen Arbeit welche von vielen Kindern in einem ganz engen Hauswesen sich stets erneuern muss, und die oft genug noch von der Verwaltung eines kleinen Ladens erweitert wird — was stützt sie? Dreierlei: die unbändige Lebenskraft, welche sie trägt, als erstes. Nur aus ihr erklärt sich die Tatsache, dass Juden immer noch so vital unbrechbar auf Erden sich ausbreiten können. So tief auch die Erschöpfung sei, mit der Generation um Generation der Männer vom Lebenskampfe aufgerieben wird, die Frau, geistig weniger angespannt, vom Lernen und der Schlaflosigkeit des Lernenden weniger zermürbt, dumpfer, pflanzenhafter in ihrem Geiste und in ihrer Phantasie, den allgemeinen weiblichen Instinkten viel reiner folgend, ist stets imstande gewesen, den Verlust auszugleichen, und dank ihres hemmungsloseren Temperaments alles auszusprechen, abzustoßen, unschädlich zu machen, was sie nur unterhöhlen könnte, wenn es verdrängt und eiterige in ihr schwärte. Das Zweite ist die tiefe, dankbare Treue, mit der ihr Mann dauernd ihr zugewendet bleibt. Weniger als jede andere Gattin braucht die Jüdin des Volkes zu fürchten, dass ihr eine Rivalin erwachsen könne; die Zucht der jüdischen antisexuellen Ethik hat hier etwas so Positives geschaffen, dass man ihre lebensfeindliche Beschattung wahllos mit hinnehmen muss. Treue des Juden, unabwendbare Einstellung auf das einmal gewählte und eingegangene, ja auf das kaum gewählte, fast diktierte Verhältnis zu Mensch, Gebot und Art ist ja eine Kardinaleigenschaft des Volkes — kein trübes, träges Verharren, eine stets erneute Zuwendung vielmehr gebiert wie in allen zentralen Beziehungen der Juden so auch in der Ehe diese Treue. Es ist ja selbstverständlich, dass in so angestrengtem und sorgenvollem Leben zwischen Eheleuten auch Zwist und Zank vorkommt; Schläge aber kommen nicht vor, oder nur als Unerhörtes. Der Jüdin fehlt der sonderbare Stolz auf das Beherrschtwerden durch einen so streitbaren und männlichen Mann dass er seine Liebe durch Schläge und strenges Regiment äußert, wie ihr auch die rebellionslüsterne und erprobende Sklavenhaltung des entsprechenden Frauentyps abgeht; es ist eine tiefere Achtung vor dem gottnachgebildeten Menschenwesen in beiden; die Heiligung des Bündnisses zweier Menschen durch das Sakrament der Ehe ist hier keine bloße Formel und kein vergänglicher Vorwand ... Und das Dritte ist die große Achtung und Liebe der Kinder gegen die Eltern. Es kommt vor, dass in unserer Generation die Entfremdung der Jungen von den Alten sehr offensichtlich wird; aber selbst noch in diesem Kriegszustand, in der Art, wie er, ohne Rohheit, als bittere Notwendigkeit, von den Kindern empfunden wird, liegt eine ganz andere und innigere Wärme als in gleichen Zuständen anderer Völker bei gleichen Klassenlagen. Die Selbständigkeit jüdischer Kinder hat in gewissen Beziehungen mehr Spielraum als die anderer; sie können ziemlich sicher sein, im Streben nach geistiger Betätigung, Schulbesuch und Lernmöglichkeiten von den Ehern nach Kräften, ja über deren Kräfte hin gefördert zu werden; dafür unterstellen sie sich in Angelegenheiten der Lebensgestaltung den Eltern länger als andere junge Menschen täten, und wohl erst seit neuester Zeit schließen Söhne Ehen ohne die Wahl von der elterlichen Zustimmung abhängig zu machen — von Töchtern zu geschweigen. Es spielt zwischen den Generationen unbewusst die Beziehung der gemeinsamen Verantwortung vor einem Dritten mit: vor der Aufgabe des jüdischen Geistes, zu dauern; und bei den Kindern vor allem die Einsicht in die unendliche Mühe, Opferfreude und Selbstlosigkeit der Eltern. Darum ist die Mutter den Söhnen oft ein Idol; sie wird am Abend ihres Lebens verehrt und gepflegt, so gut es nur in den Kräften der Kinder steht; sie ist glücklich ...

Im Verlaufe des Lebens allerdings ist ihre Beziehung zum Glück eigentümlich. Die Gesinnung des Juden ist alles andere als eudämonistisch; glücklich sein als Ziel des Lebens besteht ihm nicht. Wenn es im fünften Gebote heißt: Ehre deinen Vater und deine Mutter, auf dass du lange lebst im Lande, so gibt dies „auf dass“ nicht Grund oder Lohn für die Erfüllung des Gebotes, sondern eher eine conditio sine qua non: ohne Ehrung der Eltern kann es dir nicht wohl ergehen, ohne sie hast du keinen Bestand; leben aber sollst du, und lange, um des Werkes der Heiligung willen, das dir aufgegeben ist. So umspielt das Leben des Juden und noch mehr der Jüdin aus dem Volke beständige Resignation. Denn selbstverständlich tritt auch sie mit kindlich reichen Glücksträumen aus ihrer Kinderphantasie ans Leben heran; selbstverständlich hofft auch sie auf das Wunder. Und die dürftige Realität, die sich ihrer dann bemächtigt, macht, dass sie früh den Nacken enttäuscht beugen lernt, dass das Kinn ihr auf die Brust sinkt, dass ihr Mund sich schmerzlich vorwölbt, dass die Stirn sich runzelt ... „Auf dass du lange lebest im Lande, welches der Herr, dein Gott, dir gibt“: ist die Sehnsucht eines landlosen Volkes jemals tiefer in menschliche Beziehungen verflochten worden als hier? Und ist langes Leben — nicht leichtes und seliges Leben — jemals so sehr als Wert empfunden worden als hier? Man denke einen Augenblick diesen Typus Mensch neben dem homerisch-sophokleischen: „das Zweitbeste ist, früh zu sterben, das Beste aber, nicht geboren werden.“ Man vergleiche das Leben des antiken Griechen mit dem des antiken Juden — Leuchtendes mit Hartem — und man wird zwei Heroen nebeneinander sehen, den des stürmenden Freiheitwillens, der lieber untergeht als duldet, und den des drängenden Aufgabewissens, der lieber alles duldet als untergeht. Wäre der Jude auf Glück eingestellt, er bestände längst nicht mehr. Dies Prinzip bewährt sich in jedem Einzelnen. Lind das Eigentümliche nun ist, dass diese Glücklosigkeit den Juden nicht verbittert, weder grämlich, noch anklagend, noch neidisch stimmt. Eine resolute Fassung ins Gegebene vielmehr erfüllt ihn; die entschlossene Tüchtigkeit des Menschen, der im Erfüllen einer göttlich aufgegebenen Sendung aus seiner grenzenlosen Lebensfähigkeit selbst Freude zu schlagen imstande ist. Warte nur, junge Frau, in deiner Enttäuschung; du fühlst bald, dass dem Wirklichen, dem ungeträumten Dasein aus seiner Wirklichkeit selbst Lust zufließt; dein Kopf wird sich wieder heben, und dein Mund wird noch lächeln lernen über die gleichen Vorfälle, die dich jetzt verdrießen. Das ist Gottes Tröstung am tätigen Menschen.

Sie aber ist ihr sehr nötig; denn selbstverständlich gilt diese ganze Optik nur, wenn man von sehr hoch her und das Heil des Ganzen im Herzen auf die Tatsachen blickt. Der einzelne Mensch, die einzelne Frau für sich betrachtet, die einzelne, von nahem gesehene Ehe zeigt ein weit zerklüfteteres und schwierigeres Aussehen. Ohne Hemmungen und Reibungen, ohne schmerzliche und gefährliche Entzündung vollzieht sich weder eine Eheschließung so unpersönlicher Art, noch auch der Verlauf der Ehe selbst. Erotische Probleme finden sich überall, und je höher man in der Gesellschaftsschichtung steigt, um so belichteter vom Bewusstsein, um so ernsthafter als Schicksal pflegen sie zu sein. Man kann in einem so zusammenfassenden Überblick wie diesem Buche, dem alle Mängel des Subjektiven anhaften, auf das Einzelne nur hindeuten und auch von diesem Probleme nur in Kürze sprechen.

Auf der Jüdin lastet noch stärker als auf anderen Frauen der ungeheure Druck Jahrhunderte alter erotischer, anti-erotischer Suggestion. So fehlt ihr von Anfang an das Selbstvertrauen in die Bestehbarkeit jedes weiblichen Schicksals. Ihre Instinkte verlassen sie, die sonst sicheren, sobald sie liebt. Niemand ist so leicht zu hintergehen wie sie, die so grenzenlos vertraut; das weiß sie, und darum wird sie misstrauisch, unsicher, ängstlich, ungeschickt. Kommt dazu noch eine tiefe, fluchbefangene Furcht vor dem Glück starker Sinne, ein an erotischen Umständen leicht in Schreck zu setzendes Nervensystem und die starkbetonte Neigung zur Intellektualität, zum Grübeln, der die Balance des Natürlichen, Körperfrohen, Harmlosen oft fehlt, so wird man sich nicht wundern, wenn an dieser Stelle gerade der Ostjüdin die schärfste Kurve ihres Lebens bestimmt ist, an der sie leicht aus den Gleisen springen kann: von Frigidität, Abscheu vor dem Mann, Rettung durch das Kind oder durch eine Idee bis zur seelischen und geistigen Störung. Man denke doch auch daran, dass gerade in entscheidenden Augenblicken der jüdische junge Mensch, dem jede Kultur der Erotik, ja der Liebe fehlt, der nur auf seine, vom Verbot angefressenen Instinkte angewiesen ist, jene Dummheiten und Ungeschicklichkeiten zu begehen imstande ist, die man nur durch liebeerzeugten Takt, Erziehung und Selbsterziehung vermeidet, wenn er sie nicht gar durch die Brutalität des Hilflosen ersetzt; und man denke schließlich auch daran, wenn man einen Blick auf gehobenere Judenschichten als bisher betrachtet wirft, dass Ehen, die ohne Liebe geschlossen werden, nur in den Schichten ohne Störungen verlaufen, wo nicht Individuen, sondern schlechthin der Mann und das Weib erotisch vereinigt werden. Dieser Fall trifft beim Juden höherer bürgerlicher Schichten nicht mehr zu; zum mindesten ist die Frau oft ein differenzierterer Typus als der Mann, der ja vom Geschäft oder vom Lernen häufig schon entstellt und halb entmenscht im vitalen Sinne ist, wenn die Frau noch ganz tief bewahrt aus einer ungemein strengen und kaum verletzten Zucht zu ihm tritt; dann erleidet die Frau gelegentlich Enttäuschungen von unermessbarer Tiefe, Chocs, Nervenkrisen; sie kommt dazu ihren Gatten komisch zu finden; vielleicht auch bleibt ihr das Geschlechtliche ein heikel Unanständiges, nur durch Kinder verzeihlich, oder was für Entstellungen sonst noch eintreten mögen. Von ganz schweren, seltenen Fällen abgesehen, gibt es dann zwei Folgen: entweder hält sich die wohlhabende Frau, von der Realität der Ehe unbefriedigt, in der Hingabe an eine Idee schadlos — passiv, indem sie „sich bildet“, oder aktiv als Glied irgendeiner tätigen Vereinigung und Dienerin irgendwelcher Partei — oder die ungemeine, menschenformende Gewalt der Gewohnheit, des sich nicht mehr Wundern-Könnens, gibt ihr normalisierende Perspektiven auf das menschlich Wertvolle des Gatten, die Würde und Aufgabe des Hauses und die Liebe zu den Kindern als dem eigentlichen Sinn der Ehe — und macht sie allmählich hässlich. Zwar sind die Nerven solcher Kinder noch schwächbar genug — aber die enthusiastische Hingabe und Sorge der Mutter um die Brut und die fabelhafte körperliche und seelische Lebenskraft der Rasse, des Volkes, durchbrechen am Ende meistens das anfänglich Schlechtgemachte und stabilisieren mit einem Schlage die Frau, das Haus, die Ehe und das Kind. So ist eine „gute Ehe“ dieser Art, erotisch lau, der Durchschnitt dessen, was man bei begüterten Juden trifft: gegenseitige warme Verehrung der Eltern für einander; nach dem Familienwert (Kinderaufzuchtswert) fast ersten Ranges in dieser Zeit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das ostjüdische Antlitz