Die jüdische Jugend.

In solchem Hause, dieser Luft und dieser Umwelt wächst Jugend auf.

Es ist schwer, aus den gelassenen Augen, den ruhigen Antlitzen dieser jungen Menschen, die mit der ganzen natürlichen Herzlichkeit ihres Volkes doch nur verraten, was sie sagen wollen oder was sich gelegentlich selbst verrät, die Bewegungen, Strömungen und Wirbel zu erraten, die dort ziehen, wo wir nicht hinsehen können. Und wenn irgendwo, so soll hier gesagt werden, dass sich dieses Buch nicht auf Literatur stützt und nicht auf Berichte, sondern nur auf das Gegenwärtige des Lebens und der sehenden Geistesgabe; dass es so richtig oder falsch ist wie der Aspekt selbst, den das Leben einem Besucher darreicht. Daher seine Lücken, daher seine Übertreibungen, es ist ein Zeugnis. Jugend aber ist schamhaft, und jüdische Jugend ist es dreifach — vor Westjuden, deren mitleidige Überheblichkeit beim Besuche ihrer ostjüdischen „Verwandten“ wahrhaftig nicht imstande ist, Wärme, Bericht, Vertraulichkeit zu ermöglichen. Ehe man aber freund geworden ist, vergeht der Augenblick. Und an die erste allgemeine sei noch eine zweite Bemerkung geknüpft: Bewegungen der Jugend differenzieren sich nicht streng nach Geschlechtern. Die gleichen Kräfte wirken auf Knaben und Mädchen; wenn auch die Antwort und Reaktion sich nach Geschlechtern scheidet, sei es uns erlaubt, oft nur eine, die charakteristischere Reaktionsweise zu beschreiben; möge der Leser willig genug sein, sich die Frage, wie wohl das andere Geschlecht auf die gleiche Kraft, die gleichen Umstände reagiere, selbst zu stellen und zu beantworten, wenn er kann.


Wir haben den Alltag nicht gesehen und nicht die friedliche Gasse am Abend; wir wissen nicht, wie das Mädchen sein Leben ansah und führte, als noch die jungen Männer alle daheim waren; als noch nicht Legionen von Soldaten überall Verbindungen unterbrachen und neue stifteten, als deutsche Offiziere noch nicht sporenklirrend und vor Hochmut blind ihren Weg nahmen. Der russische gemeine Soldat wurde nicht sehr bemerkt und der russische Offizier war ein freundlicher Fremder, sehr menschlich, sehr gesittet und gebildet, der ein Stück des großen Reichs kannte, und dessen Verkehr angenehm und harmlos war wie jeder Verkehr eines Fremden und einer Jüdin. Die alte Zucht des Stammes zu bewähren fiel ihr nicht schwer, von Sonderfällen abgesehen gab es Liebesbeziehungen nur zwischen jüdischen jungen Menschen. Wir wissen ja aus dem holden und naiven jüdischen Volks-Liebeslied, dass diese Jugend Bündnisse eingeht wie jede andere, zarte, schwärmende und entschlossene Verbindungen des neuen und hohen Empfindens ihrer suchenden Bestimmung; vielleicht manchmal zögernder als natürlichere Völker und meist ohne die letzte Vereinigung; und dass dann Tragik, jugendliche Tragik einbricht, wenn das vernünftige Leben die unvernünftige Schönheit abdrängt ... Aber das ist so bei allen Völkern: Liebeslieder erschließen das Lebensgefühl der Jugend, ihr Glück und ihr Weinen — und hinter ihnen beginnt das resignierte Kompromis. Freundschaft, Flirt, Jugenderotik und Liebelei oder auch Liebe sollen bei weitem die Rolle nicht gespielt haben wie im Westen. Es ist bis zum Überdruss bekannt, dass der Krieg hierin in manchen Orten Schädigungen brachte. Denn obwohl Not im jüdischen Städtchen nie ganz fehlte: eine so unmenschliche, würgende, zerfetzende Not, wie sie infolge erst russischer, dann deutscher Kriegsmaßnahmen in den Städten herrschte, die von ihren Zufuhrumgebungen hermetisch abgesperrt wurden, hat es im Frieden nur in den entsetzlichen Zentren indischer Hungersnot gegeben. Ringsum trugen Feld, Weide und Bäume die reiche Frucht; die Juden aber, deren Handwerk und Arbeit, Handel und Beruf durch Beschlagnahme aller Rohstoffe und Maschinen, durch Requisition von Wohnungen und Läden, durch Flucht fast der ganzen wohlhabenden Fabrikanten- und Käuferschaft und durch den Ruin der Gebliebenen fast völlig still lag, und deren Geldmittel durch den politischen und amtlichen Rubelkurs noch besonders geschädigt wurden, sahen sich plötzlich, mit amtlichen Rationen, deren Höhe die in Deutschland gegebenen an sich offensichtlich ungenügenden Lebensmittel bei weitem nicht erreichte und die oft von fast ungenießbarer Beschaffenheit waren, von einem Heere jahrelang frauenloser Männer umgeben, die jeden Augenblick Nahrung und jede Erleichterung für sexuelle Hingabe anboten. Unter diesem Aspekt gesehen — und unter dem des grenzenlos wütenden Ruhr- und Typhustodes, Folge übermäßiger Obstnahrung, der die Fortdauer jedes Lebens und ihre sittlichende Wirkung aufzuheben schien — bleibt der zerstörende Einfluss des Heeres auf jüdische Frauen-Sittlichkeit ganz gering.

In den weiten Augen dieser Mädchen sehet die arglose Ruhe, die Zutraulichkeit natürlicher Wesen, die gern ein Wort mit Menschen tauschen, weil Menschen ja Gottes Ebenbilder sind und Freundlichkeit ihr Gebot — und die befremdet und verletzt zurücktreten, wenn der Westmensch, schlechter Psychologe, glaubt, hier sei ein erotisches Gefühl im Spiel, worauf er dann vor rätselhafter Koketterie zu stehen behauptet; seht diese arglosen, breitgeformten Lippen, die nichts sind als kindlich, während der mit Operetten-Schlagworten erzogene Europäer Sinnlichkeit und was immer aus ihnen zu lesen glaubt — Rassemerkmale wie schwarze Augen und jenes Schwarzhaar, deren Trägerinnen keusch sein mögen wie Luna, ohne doch etwas daran ändern zu können, dass Kommis und Student sich wünscht, so leidenschaftlich geliebt zu werden wie er es von so schwarzhaariger Jüdin, Polin oder Spanierin als Opfer kitschiger Suggestionen fabrikmäßig erwartet. Nicht alle Mädchen tragen die Empfindlichkeit ihrer Seele um den Mund, die aufgestellten Lippen geschrieben; selten steht ihnen Schwermut so rein zwischen den schrägen Brauen, und das gespitzte Oval des Gesichts vibriert in seinem Umriss nicht oft so ausdrucksvoll von Fremdheit in diesen Tagen. Und doch ist von uns aus gesehen so viel Schwermut in der Existenz dieser einfachen und armen jüdischen Töchter, die blühen ohne zu blühen, kurz, zag, im Halbdunkel, deren Mädchenlachen so ganz Kinderlachen ist, ohne von der Macht des Eros einen satten und siegenden Glanz zu bekommen und jene machtvolle und instinkthafte Bewusstheit des Weibes, welches wählen kann und seinen Bewerbern Taten, Kampf, Siege entreißt; die dann heiraten, nein, verheiratet werden, ohne dass individuelle Liebe unbedingt dazu führte, sondern in ein armes, menschlich zulängliches und zartes Verhältnis eintreten ohne die „Leidenschaft“, von der sie gelegentlich gelesen haben, in eine Ehe voller Sorgen und gipfelnd in vielen Kindern, vor denen die eigene Jugend schnell, unmerklich, resigniert weicht. Dass ein solches Leben, schwermütig zu betrachten, doch ganz glücklich geführt und gefühlt wird, dass sogar eine ausgelassene Heiterkeit voller Schwatz und Putz darin sein kann, wird selbstverständlich. Die Gabe, sich resolut mit dem Leben abzufinden, die tüchtige Kunst, es gutzuheißen, wie es auch falle, vor keiner Stunde zu verzweifeln und eine unzähmbare Hoffnung auf bessere Zeiten zu hegen: diese weibliche „virtu“ der Jüdinnen ist vermutlich der Urquell unserer stets triumphierenden Zähigkeit. Diese Rasse, deren Männer sich in der Fron missbrauchen, wäre undenkbar, wenn nicht in ihren Müttern diese tierhafte Kraft der Naivität und Verjüngung am Werke wäre — uns zum Heil.

Die Jüdin, im Arme ein Kind, weist die geschlossenste Gestalt des Ostens. Nur noch der Greis, die Thorarolle im Arme oder das Buch mit beiden Händen haltend, ist ihresgleichen. Das Tuch, von ihren Schultern her um das kleine Geschöpf gelegt, hüllt es nicht wärmer, nicht völliger ein als der Blick, der von ihren Wimpern ausgeht. Schon ist sie selbst nicht mehr ganz würdig sich zu schmücken; das Haar, unterm künstlichen Scheitel starr verborgen, verleugnet mit sich ihre ganze weibliche Lust, hübsch zu sein; und so ehrlich und derb wie ihr Gesicht ist ihre Sorge um dieses Pfand der Zukunft. Die Intensität, mit der sie es betreut, hat nichts Äffisches, denn sie muss unermüdlich arbeiten, um zu bewältigen, was auf ihr ruht: Geschäft, Haus, Kinder, Sorgen. Wir Soldaten haben es im Übermaß gesehen, dieses Leben: wie der Mann außer dem Hause umhergeht, um Brot zu verdienen, Waren zu suchen, Kunden zu finden, seine Geschicklichkeit marktgängig zu machen; wie er das politische Leben nach seinem Einfluss auf den Erwerb von morgen fragt, argwöhnisch verfolgt; wie er Erholung und Vergessen sucht im hebräisch gedruckten Buche — wie die Frau aber daheim alles in allem ist: die Waren des kleinen Ladens verkauft, mit Zahlen umgeht, Geldscheine prüft, wie sie die Stoffe zu Speisen besorgt, die Speisen bereitet, stets unterwegs vom Laden zur Küche, von der Stube zum Hof, in dem die Kinder spielen; wie Sauberkeit, Ordnung und Wohnlichkeit fast unerzeugbar sind in der entsetzlichen Armut und Enge — und wie trotz all der Hetze und Not nur ganz selten ein lautes zankendes und heftiges Wesen in sie fährt ... Die Welt der Bücher gibt es nicht mehr; die Welt des Glaubens ist praktisch geworden und Speisegesetz; die Pflege der Kinder hat sie gelernt, als sie selbst noch Kind war und das Jüngste zu tragen und zu versorgen hatte — sie weiß nicht, dass sie eine Heldin ist und lachte, wenn wir sie bewunderten. Ihr hat das Leben nur die einfachsten Probleme gelassen: dass der Mann freundlich sei, dass man heute satt werde und hoffentlich auch morgen, und dass dem Kinde, Gott behüte, nichts zustoße. Aber was diese Existenz über ähnliche erhebt, ist, dass sie ursprünglich ist, ohne je roh oder gemein zu sein. Ein Menschentum, Muttertum von untrüglicher Beschaffenheit offenbart sich in diesem niederen Sein. An den Kindern Wut, Enttäuschung, Nervosität heftig anfahrend oder schlagend auszulassen, in Worten und Gedanken gierig, gewöhnlich, neidisch zu werden: solche Laster der Armut, entschuldbar, ach, finden sich selten. Selber der Jugend durch die Sorge entrissen, sucht sie den Kindern Kindheit zu bewahren; und so hebt sie unbewusst die wichtigste Aufgabe über sich hoch: neuen Geschlechtern einen neuen, unverwirrten, unbelasteten Anfang zu behüten, Geschlechtern, die sie gebiert ohne zu erliegen, mit der Sicherheit im Herzen, dass Kinder ein Segen sind, der Segen des Herrn — ein sorgenvoller Segen, eine Last, deren Lasten noch erhebt und beglückt. Junge Jüdin, du weißt nicht, dass du unsere Stammmutter Leah bist ...

Mädchen, die nicht heiraten, sind selten, sagt man uns; wir, an die Oberfläche gebannt, vermögen einzelne Leben nur kurze Zeit zu verfolgen, dann verlassen wir den Ort, und nur noch Gedanken bleiben. Aber wir sahen den Beginn solcher Lebensläufe, von denen es wunderlich wäre, wenn sie anders endeten als in der undurchdringlichen Tiefe Warschaus oder Wilnas. Da sind Mädchen, die den Liedern zu gerne lauschten, die von schönen Bachurim und von Soldaten sangen; ohne Rat in der großen Teuerung, haben sie den Schutz eines Soldaten gesucht, der Brot und Fleisch empfängt; der Weg führt in eine Teestube, deren es tausend harmlose und manche verfängliche gibt, und endet vielleicht in einer Fleckfieberbaracke, oder er steigt auf in eins jener Bordelle, die die Heeresverwaltung getrennt für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften errichtete — furchtbare Herde geistverlassenster Bedürfnisstillung — bis er um so sicherer in jene drahtumgitterten Gebäude oder Höfe führt, in denen „Dirnen“ die Krankheiten ihres Gewerbes „geheilt“ werden. Das lockend schielende Auge, der schön geöffnete Mund und die niedere törichte Stirn eines Mädchens können ja ihr Schicksal machen; von der reinen Biegung der Augenbrauen hängt ja, in dieser herrlichen Kultur, vielleicht ein Aufstieg ins „Hotel Katharina“ ab; ein so edles langes Oval, diese kleinflügelige Nase kann ja bewirken, dass ein Mädchen die Arbeit ihrer Hände einstellt, ihre Instinkte zur Koketterie schärft, und, Opfer und Sinnbild unserer europäischen Lage, ihre Arglosigkeit zur ethischen Gleichgültigkeit auftreibend, sich von dem Trieb ernähren lässt, der überall die Zivilisation aufpflügt. Ihr Leben kann aber auch ganz anders verlaufen: vielleicht empfängt sie, und das Kind stirbt — wie oft in schlechten Zeiten! Der Schmerz und all dies Umgestoßensein flößt ihr Abneigung gegen neue Verbindungen ein; so geht sie als Magd in ein Haus, und alle ihre prachtvollen Triebe können blühen: Tätigkeit, Fürsorglichkeit, der entzückendste Mutterwitz ... denn es ist ja so unsäglich wenig, was im Menschen umkommt. Es kann, ungebraucht oder unwillkommen, Jahrzehnte in ihm schlafen; er kann selbst vergessen, ganz vergessen, wie gut ihm dies Gelächter oder jene Tätigkeit einmal gelang. Aber der Mensch, er selbst, ändert sich nicht; nur sein nach außen gekehrtes, dem Gebrauch zugewandtes Gesicht. Und darum, weil dies Gesicht von Umwelt und Beruf, von Bedarf und Zufall geformt ist, nicht hauptsächlich von der Seele her bedingt, ist es so unsinnig, die Entstellungen solchen Berufsgesichts der Seele des Menschen zuzurechnen. Nein, es ist nicht der Mensch, der dir gesunken entgegentritt — es ist das Berufsgesicht der Dirne, es ist die elende, schmutzige, entwürdigende Umwelt der Dirne, die dir roh und unsagbar zuwider ist. Sie selbst ist, der Mensch ist unabänderlich in sein Wesen gebannt und wie der schöne Schnitt eines gut geformten Auges unabhängig vom Schmutz, in welchem ihr den Menschen antrefft oder versinken seht. Darum ist das Gesicht der toten Dirne rein wie ihr Mädchengesicht ... Es ist nicht der Tod majestätisch über ihr. Nur die Umwelt, das ekle Leben hat er beiseite gebunden wie strähniges, missgraues Haar ...

In dem Augenblick, wo sich die höhere Schule öffnet, beginnt das nicht mehr individuelle, beginnt das prinzipielle Problem der Jugend.

Nicht die Schule im allgemeinen ist die Schwelle, von der hier geschrieben wird. Die Schule ist eine Schwelle. Die des Lesens kundigen Augen sehen eine Welt mehr als die unkundigen. Die schreibende Hand ist eine andere als die nichtschreibende. Nicht als ob hier der törichte Unfug mitgemacht werde, je nach der Zahl seiner Analphabeten Kultur eines Landes höher oder niedriger zu schätzen. Menschtum ist alles; und die Zeit ist so fortgeschritten, dass Kultur, Seele, hilfreiche Gesinnung bei Analphabeten eher walten kann als bei den Belehrten des fortgeschrittenen Kapitalismus, der wissenschaftlichen Kriegführung und der beseligenden Zentralisation. Aber von zufälligen Gestaltungen abgesehen und hingesehen auf die realen Erscheinungen, zeigt sich die schreibende Hand des Menschen als mit dem Schlüssel zu allen Geisterreichen bewaffnet, zu Vergangenheit und Zukunft. Nicht mehr hilflos ist der Mensch, der sich mitteilen kann ... Aber die allgemeine Schule des jüdischen Volkes stellt nicht das Problem, von dem, als dem dringendsten und sehr verschlungenen, hier die Rede sein muss. Um dieses schreibende Mädchen ist die ganze behütende Dumpfheit eines Volkes. Dieser kindliche Hals trägt keinen skeptischen Kopf, dieses Kinn verspricht eine fruchtbare Trägheit des kleinen Schädels; dieser Mund, eifrig gewölbt, sucht keine leugnenden Worte und keine neuen Evangelien. Der Arm, der so müßig auf dem Tische liegt, ist noch in seiner Muße ein ungeduldig tätiger Arm, der lieber kneten, fegen, Kinder halten will, und die Hand ist grob und kräftig, ungelenk beim Schreiben, gelenkig und vergnügt beim Feueranzünden und Wasserschöpfen. Vermutlich ist der Verstand dieses Mädchens wacher, rascher, verbindungsfähiger als der von Mädchen gleicher Art und Klasse in anderen Völkern; aber das ist nur ein nationaler Unterschied und keine Bedrohung. Wäre es wünschenswert, Gefahr überhaupt zu beseitigen, den jüdischen Genius zu verdumpfen und zu sichern? Niemals. Gefährdeter als dieses Volk ist kein anderes in seinem Bestände, aber Völker haben keine Rückwege, und im Wachstum der Gefahr ist auch Wachstum des Heils.

Die Gefahr beginnt bei jener Jugend vor der die Reiche der Welt ausgebreitet werden. Eine Jugendbewegung nach Weise der deutschen gibt es im Osten bei den Juden nicht. Die deutsche muss man rufen und fördern, ihre edlen Ziele sind ohne Gefahr, sie öffnet Quellen des deutschen Menschen, erneut den Geist und mündet mit Selbstverständlichkeit im Deutschtum. Die beste deutsche Jugend will aus der bürgerlichen Verbannung den deutschen Menschen erlösen, sie führt ins edelste Volkstum hinauf.

Die stärkste Bewegung der ostjüdischen Jugend hat ungleich ernstere Namen als „Jugendbewegung“. Sie heißt Sozialismus, Revolution. Sie verneint das Volkstum der Juden, führt von ihm fort, und zwar bewusst und trotzig; sie führt von jedem besonderen Sein ab in die allgemeine Form des russischen Menschen. So hat sie für den Ostjuden noch einen Namen, der auch den westlichen Juden vertraut ist: Assimilation. Aber wenn im Westen die Assimilation verwaschen, bürgerlich, halb und „liberal“ ist, wenn die assimilierten Kreise der Jugend — Ausnahmen jetzt verschwiegen — sich durch die breiteste Unbedeutendheit und gänzlich ideallose, pragmatische und schwächliche Phraseologie auszeichnen, wenn sie der merkwürdigste Verein von Leere und Geschwollenheit ist dem sich nur der breite Durchschnitt ergibt — so ist im Osten, noch einmal, die Assimilation revolutionär, tatbereit, radikal und von den wertvollsten und kräftigsten Typen getragen. An der westlichen Assimilation verarmt der jüdische Geist weniger; an der östlichen verarmt das Judentum.

Alle Gegensätze, die Jugend an sich erleben kann, münden in ein und dieselbe Richtung, alle Triebe, die Jugend in sich wirksam fühlt, treiben zu dem gleichen Ziel.

Dem Westmenschen unvorstellbar ist zunächst der Grad von Anteilnahme der Jugend am politischen Sein der Allgemeinheit überhaupt; geht man doch hier davon aus, dass die Jugend lernen solle und sich um Politik nicht zu kümmern habe. Sehr schön — wenn ein Land politisch so stagniert wie das ehemalige deutsche Kaiserreich, in welchem alle wahrhaft politischen Entschlüsse von einem Scheinparlament nur glossiert, nie in ihm aufflammend, durch Verfügung von Behörden zustande kommen, und in welchem außer den „revolutionären“ Parteien das Volk diesen Zustand gutheißt, da es von Politik in seinen Geschäften nur gestört würde, im übrigen sich aber mit träger Parteizugehörigkeit begnügt und keinerlei Ideale des Gemeinwesens in seinem Herzen zünden. In Deutschland wurde der Obrigkeitsstaat von seinem Objekt, dem Volke, bejaht und ausgenutzt, im russischen Reiche verneint und bekämpft. Die Ideale der menschlichen Freiheit und Mitbestimmung beherrschen die Schüler der höheren Schulen und sind die zentralen Probleme der Studenten. Lernen, wo der Geist unterjocht und verfolgt wird? Nur den „Beruf“ vor sich haben, indes das Volk aufgeregt und von allen Dämonen der Selbsthilfe und Nächstenhilfe gerüttelt wird? Das wäre, das ist keine Jugend, die das vermöchte. Hinzu kommt die sachliche Solidarität des proletarisierten Volkes, dessen Mund, Geist und Blut der russische Intelligent ist, mit den unterdrückten, eingepferchten und bedrohten Randvölkern, Fremdvölkern des Reiches, die in der genau gleichen Lage der Entrechtung leiden, und die sachliche Solidarität des Bürgertums mit dem Volke gegen das System — Kampfgemeinschaft bis zum Sturz des Systems, offener Gegensatz erst nach diesem. Deshalb ist die lächelnde und gepflegte Tochter des jüdischen Bürgertums, trotz ihres sanften Antlitzes und ihres milden Blickes die Kampfgefährtin des Arbeiters. Hinter der Stirn, bekränzt von reichem, geschmücktem Haar, arbeiten die Gedanken Krapotkins und das Vorbild Tolstois. Und so sausen die Peitschen der Kosaken, die revolutionäre Mengen zerstreuen, in allen Städten des russischen Westens auch über die Rücken und Köpfe der Schüler, gehen ihre Pferde auch gegen sie an, und die Polizeigefängnisse füllen sich mit „Gymnasistkes“ wie mit Arbeitern. (Die Mädchen nämlich unterschieden sich im Schulsystem nicht von den Knaben, es gab nur „Jugend“). Noch in der Erinnerung an jene Tage, 1905 und 1906, füllen sich die Augen mit Glanz und Trotz, und in dem gelähmten, okkupierten Gebiet ist unter der starren Oberfläche jeder Stoß der Revolution von 1917 an in den Herzen der Jugend mit am Werke.

Damals freilich, nach der blutigen Erdrosselung der Aufstände, brach eine Woge der Verzweiflung über diese Jugend herein, die schwer beschreiblich ist. Da das System trotz des verlorenen Japankrieges noch die Macht hatte, der Volksbewegung Herr zu werden — war es nicht unabschüttelbar? So schien es; das Leben hatte keinen Wert mehr; Streben, Wollen, Hoffen, alles was nach vorwärts wies, schien abgehackt; Aufopferung, Mut, Wille zur Tat schien sinnlos. Nie gaben sich aus den unscheinbarsten Anlässen junge Menschen leichter den Tod; und in die Überlebenden fuhr in jenen Jahren 1907 und 1908 der Geist
des après nous le déluge. Nur der Genuss der Gegenwart schien noch Sinn zu haben; Betäubung zu trinken aus allen Bechern des Lebens war das Einzige, was einer Jugend blieb, deren Ideale zerrannen. Von allen Antrieben, die Jugend leiten, schien einzig der nach Schönheit des Seins, nach Zärtlichkeit und körperlicher Nähe nicht gebrochen; dafür nahm er in der Schwüle so bedrängter, wild vernichteter Hoffnung die irresten Wege. Aus den geheimen politischen Vereinen und Zirkeln der Schüler und Schülerinnen wurden „Ligen der freien Liebe“, in denen Wein und Branntwein während echter verzweifelter Gespräche auf dem Tisch standen und in denen das Licht verlöscht wurde. Mit vollen Segeln fuhr die bis zum Grunde enttäuschte Jugend in den Rausch der Selbstzerstörung; der Roman „Ssanin“, ein im Westen mit Recht echoloses unbedeutsames Buch, schilderte diese Stimmung: in ihm erkannte sich die Jugend und besann sich; das gab ihm seinen russischen Erfolg. Denn wenn auf die gipfelnde Woge der Enttäuschung irgendetwas folgen konnte, so nur die langsam anflutende Hoffnung und der unbeirrbare Entschluss zu neuem Versuche. In diesem Augenblick schon hatte die Revolution gesiegt: ihre Echtheit, gespeist aus dem unbrechbaren Willen der Menschen, menschenwürdig zu leben, hatte sie gerettet.

Alle Kräfte, die diese Jugend zur Revolution treiben, wirken zentrifugal aus dem Judentum schleudernd. Dies ist lediglich und ausschließlich die Folge unseres landlosen, bodenlosen Seins. Die Revolution der Russen verändert das Russentum, aber sie hebt es nicht auf; revolutionierte deutsche Jugend, wenn es das gäbe, gibt dem deutschen Wesen einen neuen Durchbruch; beide mögen so international, besser kosmopolitisch gerichtet sein wie sie wollen, sie tragen die Volksfarbe ihres Seins, noch im schnellsten Vorstoß in die Zukunft. Jüdische Jugend aber, die international revolutioniert, geht — es gibt Ausnahmen, davon bald — als Judenvolk unter; diese Kräfte wirken nicht auf die eigenen Zustände, sondern, im Wollen ins Allgemeine zu wirken, auf fremde; der Effekt ist anti-jüdisch. Es sind Kräfte, die im Wesen der Jugend selbst wachsen, die es überall gibt; nur bei uns aber haben sie diese volkszerstörende, den jüdischen Geist verarmende Nebenwirkung. Dies ist eine Feststellung und kein Werturteil. Verworfen wird die unvergleichlich benachteiligte Lage des Judentums, nicht die Jugend, die keine Wahl hat, und die ihren Antrieben folgen muss.

Nehmen wir ein Mädchen gebildeten Standes, dessen Gesicht den durchschnittlichen Typus, die Vitalität des Volkes aufs stärkste ausdrückt; kein Zug ihres Gesichts sei von einem individuellen Schicksal geprägt, dafür seien alle Merkmale deutlichst da, die ihm die nationale Zugehörigkeit aufstempeln. So sei auch ihr Geist beschaffen, Temperament, Wille, Empfindung; sie sei eine Potenzierung ihrer Großmutter ins Typische. Ein solches Mädchen deutscher oder russischer Volkszugehörigkeit und einer revolutionären Generation eingegliedert, wird den stärksten Faktor nationalen Fortbestandes darstellen, den es gibt: es vertritt das Volkstum vor der Zukunft. Ein jüdisches Mädchen dieser Art nun, im Osten geboren, hat alle Aussicht, dem lettischen, russischen, ukrainischen oder polnischen Volkstum ihre jüdischen Tugenden zuzubringen, indem sie sich der revolutionären Sache hingibt. Dies ist die Lage des jüdischen Volkes — eines Volkes, von dessen Bestehen schließlich mehr abhängt als von der Existenz des Polentums oder des lettischen Geistes. Es verarmt dabei um die besten Früchte seines edlen Samens.

Weil die revolutionären Instinkte der jüdischen Jugend keinen Gegenhalt an der sonst naturgegebenen Tatsache volklicher Abgeschlossenheit finden, weil das jüdische Volk nur blutgemäße und keine geographischen Grenzen hat, weil sich seine Revolution nur mitbegriffen, stillschweigend gleichsam, nicht klar erkennbar gegen die Hemmungen, Laster und Sünden am eigenen Volkstum richten kann, darum zeugt sie überall außer Anfängen zur Umkehr so giftige erbitterte Nebenprodukte, so wilden bürgerlichen Antisemitismus. Nur jene Revolution aber ist wahrhaft legitimiert, die wie ein Mensch ist, der an seine eigene Brust schlägt und seine eigene Schuld ausruft.

Die unmittelbare Ablehnung der Jugend gilt dem Hause der Eltern, gilt der Familie. Das ist tief berechtigt in Zeiten geistiger Erneuung, wenn die ältere Generation, unwissend darüber, dass ihre Haltung geistig starr ist, dass sie trotz der edlen Wahrhaftigkeit vieler Individuen als Generation zu den Rechten und Pflichten der Menschen auf der Erde nicht mehr in lebendiger Hingabe sondern in traditioneller, kategorischer Regelhaftigkeit sich verhält, den Kindern ihre Lebensform naiv aufdrängen will. Selbst wenn diese Kinder noch nicht genau wissen, wohin sie wollen — mit unwiderstehlicher Deutlichkeit wissen sie dafür, wovon sie weg wollen. Ein Ekel ohne Maß schüttelt sie bei der Vorstellung, sie könnten werden wie diese, die sie, Grauen, erzeugt haben; kalt, fremd und gehässig wenden Töchter ihre Gesichter von der Existenz der Mutter weg, deren Physis sie nicht mehr ertragen können; vollends wenn sie ihre eigene Zukunft in ihr zu erblicken fürchten. Fort, nur fort! Besser im Unbekannten schlimm enden, als in diesem elenden Bekannten erträglich bestehen. Darum ist ihnen Fremdes schon wertbetont, erinnert es sie doch nicht an das Zu-Hause. Söhne spüren das, wenn möglich, noch wilder. Arbeit und Erholung, Verkehr und Lebensform, Geselligkeit und Einsamkeit der Kinder haben ihren eigenen Rhythmus; sie müssen ihn, weil Kompromiss dem Wesen der Jugend ins Gesicht schlägt, gegen den der Eltern durchzusetzen versuchen. Je weniger Sitte und wirtschaftliche Lage Trennungen gestatten, um so wilder wuchert die Erbitterung. Die Arbeit der Eltern erscheint der Jugend als Schacher, ihre Erholung als tötende Zerstreuung, die Menschen ihres Verkehrs als unerträgliche Spießer, ihre Lebensformen als entsetzliche Heuchelei, ihre Geselligkeit als Klatsch und Lärm und albernes Kartenspiel oder, wenn Natur- oder Kunstgenüsse in Sabbathspaziergang und Theaterbesuch vorgegeben werden, als ekelhafte Entweihung missbrauchter Heiligtümer. Vor allem rebelliert Jugend gegen den beständigen Zwang, in Gesellschaft mit Ungewünschten aufzutreten, sich familiär missbraucht zu sehn. Ein Mensch, der nicht einsam zu sein vermag, der nicht je und je den Zwang hat, mit sich allein zu sein, ist für den jungen Menschen weniger achtbar als ein Tisch oder eine Schwelle. Unter diese geleugneten, gehassten Entwertungen familiären Seins fällt auch das Jüdischsein — ein Fluidum, eine Gesinnung und eine Sitte abgesehen vom Kultlichen und Religiösen. Jüdisch ist Sabbath, jüdisch sind Feiertage und Speisen; Sprache, Bücher, Ahnen; Vorzugsgesetze nach denen gewertet und Instinkte nach denen bejaht und verneint wird; jüdisch sind Witze und Gesten, Sprachfehler und Körperformen, individuelle Gebrechen und moralische Vorurteile: alles ist jüdisch oder „jüdisch“; die Familie ist die einzige wirkliche Erscheinungsform des Nationalen, die Volksart Erscheinungsform des Menschseins: und indem diese Familie nun von der vollen Wucht jugendlicher Verwerfung getroffen wird, wird auch, nur bei Juden, die zentrale Ader des Volksseins getroffen: Menschsein, nichts weiter, ist die Parole nationaler Verblutung; und dort, wo man einsieht, dass man Mensch nicht sein könne anders als indem man die Form der Volkheit dafür als einziges Mittel zugibt, wählt man das weite, herrliche menschliche und ganz lebendige Russentum. Mädchen, Tochter, die du deine Locken schüttelst und dein geschlossenes Profil, kühle Augen, vibrierende Nase, stolz schmalen Mund und zuverlässiges Kinn dem andern Volkstum zuträgst, ohne zu wissen, was du da verschenkst, — du weißt auch nicht, wie jüdisch du handelst ...

Jugend, gute Jugend verwirft auch die gelehrte Religion in einer instinkt- und ehrfurchtlosen Zeit. Sie weiß nämlich: wenn nur das Religion sein sollte, was sich in Tempeln und gemurmelten Gebeten zuträgt, in Gesetzen und Riten steht, dann ist sie tot, und wenn nur das Gott ist, was so verehrt werden will, dann ist er dreimal tot. Nietzsches Botschaft vom Tode Gottes wird besser verstanden, ist besser gehört als des Amos Botschaft von Gottes Willen. (Westjüdische Soldaten haben in ostjüdischen Großstädten der aufgeklärten Jugend Psalmen und Propheten erstmals lebendig machen müssen ...) Die Seele der Jugend ist sehnsüchtig nach Verehrung und Geist; ihre Augen, groß geweitet, spähen nach ihr; der Hals hebt den schweren, zweifelumtanzten Kopf, damit er in die Ferne sehe und den neuen Glauben erblicke, den der Mund weich und sehnend zu bekennen bereit ist; aber das, was man dicht um sie zu glauben behauptet und wofür man Glauben verlangt, Andacht, Verehrung, was Verbindung mit dem Wesen der Welt und des Lebens zu sein vorgibt — das ist ihr eine lästig klingelnde Schelle. Die Jugend muss Gott dienen, indem sie sich einen neuen Gott gebiert, der wahr ist; sie muss, durch boshaftesten Zweifel und durch kernhaftes Verwerfen, jeder Art von Nachschwätzerei bei sich Einhalt tun; sie muss mit Gott, um Gott ringen. Bei dem „Gotte der Väter“ sich zu beruhigen — furchtbare, tragische Verirrung, Jugend dazu anzuhalten! Denn der Gott der Jugend hat ein verhülltes Antlitz, und wenn sie gelernt hat, sich dies Antlitz vorzustellen — ist die Jugend dahin. Der Gott der Väter aber, die Religion des offenbaren Judentums, ist nun einmal Form und Grenze des jüdischen Seins gegen die nichtjüdische Welt; und indem die Jugend diese Grenze nicht mehr achtet, atheistisch wie sie sich fühlt, wirft sie sich ins anwankende Nichtjüdische, dieses Meer der Zeit, wie eine gelöste, erlöste Erdscholle von schwindender Hallig.

Jugend, gute Jugend hasst das Geld. Sie sieht, dass die Alten nicht geworden wären, was sie sind, wenn nicht Geld, Besitz, Erwerb, Ertrag die einzigen Waffen im unmenschlichen Kriege der judenfeindlichen und kapitalistischen, landlosen und entrechtenden Gegenwart wären, die einzigen, die man ihnen erlaubte und aufzwang, die einzigen, die man überallhin mitnehmen konnte, wenn man durch Gewalt oder Boykott, Verordnung oder Krieg vertrieben wurde — Dämonen, hilfreich aber grausam zinsend, die ihre Seelen verdunsten machten und nur einen Rückstand, krass und steif, gelassen hatten, den Automaten, den Golem, den kapitalistischen Bourgeois. Sie hasst es, ja, aber sie verachtet es noch mehr und verachtet fürchterlich seine Sklaven, unselige Zeugungen des neunzehnten Jahrhunderts. Ein Leben, welches im „Verdienen“ aufgeht: das heißt, ein Mittel des Lebens zu seinem Zwecke machen, und mit welcher Ausschließlichkeit! Zittern um Verdienst? Bitten, danken, sich sorgen um Verdienst? Im Schlafe noch rechnen, im Wachen jeden Augenblick vom Dienste der furchtbaren Maschine beansprucht werden können, die „Wirtschaft“ heißt? Keine echte Muße, keine ungekaufte Freude achten; die Natur als Geschäftsgegenstand (Rohprodukt), den Menschen als Lebensmittel (Arbeitskraft) sehen; im wirtschaftsfremden Künstler, im wesensehenden, kritisch den Ungeist zerfetzenden Dichter harmlos-komische Zigeuner erblicken, und Achtung nur nach Geldbesitz und Ehrenstellung in dieser Welt des Geldbesitzes bemessen — was wäre eine Jugend, die dagegen nicht anspränge! Aber das Geld ist nun einmal die einzige Waffe und die einzige Kraft des in diese Gegenwart gestellten bürgerlichen Juden; es ist ihm der einzige Weg, um seine politische Lebenslage zu sichern, und indem die Jugend mit allen Waffen gegen das Geld anging, bedrohte sie die Grundlage der augenblicklichen jüdischen bürgerlichen Existenz.

Und ganz breit und schroff lehnt Jugend, gute Jugend das Milieu ab, in dem sie aufwuchs. Diese Menschen mit eng beschränkten Gedanken, von denen man stets dieselben Worte hört, dieselben Betonungen — wie lächerlich sind sie, wie aufreizend dumm schon ihr Gang! Diese Straßen, wie ekelhaft dagewesen, diese Kaffeehäuser wie stumpfsinnig, diese Gärten wie abgelebt und überfüllt von elenden Leuten; diese Umgebung wie fahl! Eine Sehnsucht ohne Grenzen ruft: hinaus! Ins Freie, Breite, Ungekannte, frisch Erschaffene! Dort ist das wahre Leben, hier sein Phantom, dort ist Kraft, Mut und großer Horizont, hier eine Sackgasse deren Gosse stinkt. Jugend geht hinaus und jauchzt; bei jedem Besuche in der Stadt der Kindheit erscheint sie ärmlicher und komischer — und ehe sie rührend und heilig werden kann, ist sie vergessen, oder Jugend ist nicht mehr jung und anderswo festgebannt. Nun aber ist die Stadt der Kindheit der einzige Ort, wo der Jude sein heimatfrohes, heimatsuchendes Herz anheften kann, und die Flucht aus der Umwelt, oft so jugendlich prinzipiell empfunden, wird zur Flucht in die fremde, großstädtische, vereinzelnde Entjudung.

So treiben alle Triebe der Abstoßung ganze Jugenden aus dem Judentum. Ihre positiven Kräfte drängen sie, wenn nicht ganz besondere wissenschaftliche oder künstlerische Gaben den Menschen völlig aufsaugend ihm nichts lassen als ihre Ausbildung, zum Sozialismus.

Jugend, gute Jugend muss verehren oder sie kann nicht sein; und welch ein Glück, wenn es in der Zeit Männer und Frauen gibt, deren leuchtende Tapferkeit, deren Hingabe und Opfermut, deren Hilfsbereitschaft und echte Kameradschaft ein Vorbild, Antrieb, Ziel ist das zu erreichen lockt! Jüdische Jugend kann Größe und Heldentum nicht im Dienste der Gewalt und der Eroberung, des Krieges und der Zerstörung sehen, sondern im Dienste der Idee und der Befreiung, des Aufbaus und der Menschlichkeit. Und darum wirken viel stärker als die uniformierten Soldatenhelden des Westens, als die Eroberer und Länderentdecker, deren Folgen Sklaverei, Mord, Raubgier, Frevel jeder Art waren, stärker auch als die historischen, schon schemenhaften, unempfindbaren Makkabäer und als die Märtyrer und passiven Heroen des Judentums, deren Ideologie man in sich nicht mehr nachtasten kann — darum wirken viel stärker die Revolutionäre des langen Kampfes um die Menschenrechte und das Menschen würdige Leben auf der Erde, die ihren Kampf in Russland fochten. All die Ermordeten, in Gefängnissen Verschollenen, die Verbannten und Geflohenen, all die Täter ihrer Taten mit Wort und Waffe. Und wenn ein Mädchen mit stillem und reinem Gesicht, mit hochgebauter Stirn und breiter Schläfe, mit verschwiegenem Munde und gradem Nacken all die Bilder der sozialistischen Studentinnen sah, die stillen und reinen Gesichter, hochgebauten Stirnen und verschwiegenen Münder — sollte in ihrem Herzen dann nicht der Entschluss entbrennen: so zu leben gelobe auch ich — das zu sein vermag ich auch? Beispiele werden die Nachfolge der Jugend wecken wo immer Jugend reinen unbedingten Willens ist, und viel tiefer können Völker nicht sinken als jene, deren Söhne und Töchter sich, instinktlos für den Dienst der Jugend an der Erneuerung, zur Erhaltung des Bestehenden, zur Unterstützung der Macht zusammentun.

Ein brennendes Recht fließt durch das Herz der Jugend, guter Jugend. Die fürchterliche Ungerechtigkeit des entgötterten Lebens moderner Zeit gutzuheißen, auszunutzen: viel tiefer vermöchte ein Volk nicht zu sinken. Und so fällt die jüdische Jugend in den Schrei nach Gerechtigkeit des Lebens ein, der Sozialismus heißt, und will alles, will sich daran setzen, ihm Erfüllung zu wirken. Natur sei ihrer Idee nach wider-gerecht? Um so heftiger hat, als Ausgleich, Menschheit ihre Idee der Gerechtigkeit durchzusetzen! Art des Menschen sei, dass der Starke den Schwachen knechte? Um so tiefer die Pflicht des Menschen, dem Schwachen beizuspringen! Wer bin ich, dass ich mehr besitzen sollte als du? Teilen wir; mehr als man bedarf, braucht keiner, und wie reich ist diese Erde bei gerechter Teilung, wie wenig braucht der Mensch, um froh zu leben! Fast unnachlebbar scheint dem Nichtjuden jene Wesenheit und Eigenart „Gerechtigkeit“, die den Juden zu überwältigen vermag — jenem, der den kalten, dürren, eifersüchtig wägenden Römerbegriff im Blute hat. Die Wärme, die von ihr ausstrahlt, die Flamme, mit der sie den Juden durchsetzt, der in ihr die Regulative des Lebens überhaupt sieht, die große Vision der sich selbst ordnenden, schlichtenden Welt — all das schlägt in jüdischer Jugend hoch, wenn sie Sozialismus will.

Und all die andern bejahenden Kräfte in guter Jugend: sie alle münden für den Juden, der sie auf besondere Art, auf jüdische Art erlebt, im Sozialismus. Da ist der Trieb zu Kameradschaft, zu Nächstenhilfe, er, von Juden geübt seit sie auf Erden wandern, er, ohne den die Juden längst nicht mehr da wären, findet sein nahes Ziel am Mitkämpfer, sein fernstes und Beschwingendes in der entrechteten Schar der Menschen. Da ist der Kampftrieb der Jugend; er, von den Juden in Geist umgesetzt, wird gegen das größte Ungeheuer, den autokratischen Kapitalismus gerichtet, einen Gegner, den es lohnt zu bekämpfen; der Tattrieb der Jugend, die sich einsetzen muss gegen den Widerstand und für Verwirklichung, die nur im Vollziehen wirklich lebt; und der Schöpfungstrieb, der die Jugend selber ist: der Anfang eines Seins, der wirkliche Beginn das Werk des Geistes und der Hände in die Fakta des Lebens einzubilden. Seht hier den jungen Juden langer Schulung und aus bürgerlichem Haus, seht die gesenkten Schultern der schmalen Gestalt, die klugen Augen über dem listigen Mund; seht, in den Umriss gebannt, die Schwäche und den unbrechbaren Mut, das Linkische des Gehens und den denkenden Trotz; er trägt noch die Mütze des Gymnasiasten und die Bücher unter dem Arm, aber er ist schon Sozialist. So wird er auf eueren Universitäten, scheel angesehen, sein Wissen stärken, in euren Versammlungen auftreten und schon mit seinem Namen, erst recht mit seinen Worten eure trübsten Instinkte aufreizen; er wird euren Arbeitern sagen, was zu tun ist, tun, was zu tun ist — es sei richtig oder falsch: er wird es ganz tun — und so wird er vor euren Standgerichten stehen und von euren Soldaten, die nie wissen, was sie tun, getötet werden. Oder er wird siegen. Denn sein innerstes Wesen bejaht er, wenn er Sozialist ist. Nur ein Jude kann die Weite des Abfalls ermessen, den der kapitalistische Mensch getan hat. Ein Volk, geboren im Proletariat des pharaonischen Absolutismus und gepresst, bis ihm Gerechtigkeit zum innersten Kern wurde; herausgeführt durch den Geist eines Gesetzgebers, in den Gott selbst die Urworte der Menschlichkeit hämmerte und auf Jahrtausende beherrscht von seiner Urgestalt; ausgebreitet im schönen und zugesprochenen Lande nach gerechter Ordnung und, aus dem menschlich eingeborenen Abfall zu Ichsucht und Machtlust, immer wieder zurechtgejagt von den Propheten, Gottes herrlichen Schäferhunden; ein Volk, das mehr als einmal den reinen, vergeisteten, liebenden Menschen gebar, um die Welt einzurenken, und das ihn nicht zu halten vermochte, nach Menschenart versagend dem Genie der Liebe gegenüber, den Anderen nur als eingeborener Sohn Gottes überhaupt begreifbar, so unmenschlich erschien ihnen diese Reinheit; ein Volk, vom Römer zertreten, von tausend großen oder kleinen Gewalttätern bis zum Äußersten gepeinigt — denn wer war so schwach, am Juden nicht Gewalt üben zu können? — ein Volk, dies Volk, noch immer da, noch immer jung, treibend wie am ersten Tage: es sollte nicht im Übel, das es jagte, das allgemeine Übel der Menschheit zu entdecken vermögen? Es sollte sich je und je davor bewahren, mit allen Kräften in den Kampf der Kämpfenden einzutreten? Es sollte die übermenschliche Weisheit und Zügelung haben, den Weg, welcher sein besonderer ist und der dem Streben der Kämpfenden bis zur Verwechslung gleichsieht, von diesem allgemeinen Drange zu unterscheiden? Dass nur so wenig, dass nicht schlechthin alle gute Jugend der Juden in die Wege des europäischen, organisierten, internationalen Sozialismus tritt — das ist das größte Wunder, welches heute am Judentum geschieht.

Und auf diesem Wege, mit dieser Auslese, verliert das Judentum Jahr um Jahr eine Schar seines besten Frühlings. Alle, die nicht warten können, die die Erlösung der Menschheit direkt, ohne Umwege für möglich halten; bei denen zur Ungeduld der Jugend eine Art mechanischer, unorganischer Menschheitskonzeption tritt; alle, die nicht an die Wege und die eigene Art der Völker glauben und die glauben, mit den Grenzen würden auch die Völker als Individuen fallen; alle, die unmittelbar und sofort ins Breiteste und Größte wirken wollen, nicht erst das Engere, dann das Nähere und endlich das Umfassende als Ziel ihrer Tat sehen mögen, und die ihre Tat nicht für sich allein tun wollen, auch nicht bloß an sich allein, sondern am vorbereitetsten Material; alle, deren Brüder der Mensch schlechthin ist; alle, die das Russentum oder das Deutschtum lieben; und alle, die an die uralte Mission des Judentums an der Menschheit glauben, die da meinen, wie Paulus die Judenchristen überwunden habe und der Apostel an den Völkern der Erde geworden sei in Nachfolge der Propheten, so seien auch sie Träger und Beweger der jüdischen Aufgabe in der Menschheit, jener Aufgabe, die da heißt: Bahnet den Weg, damit Gerechtigkeit werde. Solche fühlen sich im Besitze des wahren jüdischen Auftrages und Wesens, und im Streite berufen sie sich auf die Schrift, die sie in ihrem Geiste auslegen; und wer könnte sie vor ihnen selbst widerlegen? Und so stehen sie in allen Lagern der sozialen Revolution vornan: im demokratischen, welches durch die wachsende Einsicht der Menschen, durch Belehrung und Zwang des Beweises, wie durch die festgeglaubte Zwangsläufigkeit wirtschaftlicher Gesetze und Veränderungen ohne Gewalt die Ziele des Sozialismus: Gerechtigkeit auf Erden, erreichen möchte, und wie sehr jüdisch ist diese Ablehnung der Gewalt! — und im diktatorisch-kommunistischen, welches zu wissen glaubt, dass nur Macht, nur Befehl, nur Zwang der strengen Idee unter den Menschen zur Herrschaft verhelfen; dass sie wie Mose das hadernde Volk die unheilbar Widerspenstigen vernichten dürfen, dass zur Durchsetzung der Gerechtigkeit auch das Blut nicht gespart werden dürfe, welches ja zur Durchsetzung von Unrecht in Meeren vergossen wurde, und dass sie, Diener an der Idee und Propheten der Gerechtigkeit, von diesem ihrem reinen Diensttum und von der Natur des Menschen zu Tyrannei und Schrecken autorisiert seien, um, zum Heile der Völker selbst, ihnen heimzuzahlen, was sie am jüdischen Volke, dem Sinnbild alles Unterdrückten, an welchem alle bösen, vernichtenden, unreifen Instinkte dieser Völker hellstens sichtbar wurden, in zwei Jahrtausenden an Qual, Brand, Schande und Blut gesündigt haben — damit das Unheil gesühnt sei, und erst nach dieser Helfer- und Arztschaft, zu welcher sie von den Völkern selbst gehärtet wurden, die wahre Gesundung möglich werde. Die Rache als unfreiwillig erzeugtes Gift zur Heilung, die Qual des Judenvolkes, damit es zu dieser Kur hinreichend hart und erbarmungslos werde, die keine weniger geglühte und gehämmerte Menschart auszuüben stark genug sei; Terror aus Güte, Blutvergießen aus weiser Erbarmung ... es ist viel „Altes Testament“ in dieser Haltung, die uns schauerlich dünkt und verfehlt, aber es ist ein großer Blick auf Geschichte und Ethik vonnöten, damit dieser Typus sich selbst konzipieren könne.

Wie aber antwortet die andere Jugend des jüdischen Volkes auf diese ihre eigenen Antriebe? Diejenige besonders, der ihre Bindung an Judentum und Judenvolk so primär und stark ist, dass sie aus ihr herauszutreten weder vermag noch will? Der das Judentum und seine Antworten auf die Triebe der Jugend nicht zu romantisch, zu „national“, zu kleinlich sind? Auch hier entfalten sich mehrere Möglichkeiten. Da ist der Jüngling, dem das Judentum in seinen religiösen Büchern beschlossen liegt. Seine Augen, klein, entzündet vielleicht von zahllosen Nachtwachen und von ihnen für das Irdische geschwächt, sehen hinter den Gesetzen und den tief sinnvollen Auslegungen der Talmudisten die unendliche Aufgabe: zu lernen und das Gelernte zu leben. Arm, linkisch, mit hilflosem Munde verneint er das lebendige Leben und die Lockung der Zeit: ein lebendigeres Leben und die Ewigkeit sieht er mit dem Geiste, und voll Demut hofft er, im Kampfe mit dem Bösen ein Gehilfe und Diener der großen Lehrer dereinst zu werden. Eine rührende Reinheit liegt über dem Leben dieser Jünglinge, denn die Lehre ist ihnen zuerst und zuletzt nicht das zu Wissende, sondern das zu Lebende. Wohl beseelt sie die Angst, den Weg nicht gehen zu können, den die großen Weisen gegangen sind, aber nicht aus Schwäche, sondern weil sie von sich das Unerhörte fordern: ihr junges Leben ganz und gar, ohne Rest, mit den Geboten identisch zu machen. Es gibt Gebote, die man nur in Erez Israel erfüllen kann — also werden sie nach Palästina gehen. Es ist ein Gebot, zu heiraten und Kinder zu haben: sie werden es tun. Sie werden in der Lehre forschen, Tag und Nacht. Und sie werden all die „Laster“ und irdischen Triebe und die wahren Feinde des Menschen: Ehrgeiz, Hochmut, Härte, Geldgier, Lüge und Heuchelei — diese werden sie ausrotten: aber nicht mit dem Wort bei andern, sondern zuerst bei sich selbst, unermüdlich, ohne jede Verzärtelung. Auch sie sind Helden, diese Schüler der Jeschiboth und Talmud-Thora. Sie sind jüdische „Studenten“, aber man suche die Parallelen dazu bei den Völkern! Vielleicht findet man sie in den Schulen großer katholischer Klöster. Denn das sind die einzigen Mönche des Judentums, und sie sind nicht einmal Kleriker, denn das Studium des Talmuds und seiner Literatur betrifft das ganze Leben, und der Rabbi ist kein Geistlicher, eher ein Ratgeber, Weiser und Richter. Arm sind die Jeschiba-Bachurim, aber noch bedürfnisloser als arm; hässlich sind sie manchmal, aber ganz sicher sind sie glücklich. Glücklich noch wenn sie hungern, glücklich noch wenn sie sich plagen, leiden, sich anklagen, weinen. Glücklich, denn sie haben einen Weg, und ihre Geste, mit der sie sich von der Welt abwenden, ist ohne jedes Gift und Ressentiment das Senken des Kopfes über die aufgeschlagenen Seiten. Es ist kein Verzicht darin, denn sie ziehen das Buch weit vor, es macht sie selig. Unnütz zu sagen, dass ihr Geist von makelloser Klarheit und Schärfe ist. Sie haben eine Art, Probleme geistiger Unterscheidungen nicht zu zergliedern, sondern anzuschauen, die der modernsten Philosophie in den Antrieben nahekommt. (Daher findet man bei Ostjuden gelegentlich die Bücher und das Porträt Henri Bergsons; einer der begabtesten Schüler Husserls war ein Ostjude.) Ihr Leben vollzieht sich jenseits der Politik, der Kunst und der Handarbeit. Es ist Kontemplation: aber ringende, sich läuternde, schreitende, jüdische. Und Zornfeuer schlägt in sie nur, wenn sie mit ihren Antipoden zusammenstoßen: dem Geschäftemacher, dem nichts als Händler.

Diesen gibt es — und es gibt Deutsche, die im Osten nur ihn gefunden haben. Darüber ist nichts weiter zu sagen, als dass der Westmensch mit Schemata ins Ausland geht, die ihm die Zeitung beibringt, die er liest, und die Schule, die er besuchte. Er sieht in Serbien, dem Lande der edelsten und liebenswertesten Westslawen, Läuse; in England, wo die Antike noch lebendig angeschaut wird, wo die Bildung noch auf den ganzen Menschen wirkt und wo dem Arbeiter der menschenwürdigste Standard of life durch radikale bürgerliche Gesetzgebung ermöglicht wurde, Sport und business; in Italien Schmutz und harmlose Gaunerei, in Deutschland Treue und Biedersinn, in Russland Trunksucht und bei den Ostjuden kriecherische Servilität, Faulheit, Schacher und grenzenlosen Unterschleif. Dass sich mit ihnen, solchen Betrachtern, nur Juden eingelassen haben, die ihrer würdig sind, — was wissen sie davon. Dass sie den Juden fanden, den sie brauchten und erwarteten, — wie sollten sie's ahnen. Oh, wie andere Völker ihre jungen Lüstlinge und Mörder haben, haben wir unsere jungen Schacherer und Händler, denen, um zu steigen, um Ansehen und Macht zu haben, alles feil ist; die ohne jede Beziehung zu den Dingen, ohne jedes Gefühl für die Ehrwürdigkeit von Treu und Glauben, ohne jede Scham in allem nur den Geld- und Mehrwert sehen; die schieben und gaunern und heute Frauen, morgen Leder, und übermorgen politische Nachrichten anbieten. Wir haben sie und hassen sie. Es sind Monstra und sie sind selten wie Monstra oder häufig in monströsen Zeiten. Ein Knecht, der im Trunk, weil ihm der Lohn, der lange sauer verdiente, verweigert wird, damit er ihn nichtgleich versaufe, seinen schlafenden Brotherrn mit der Axt erschlägt, und der zunächst die Kinder hinausjagt damit sie es nicht sehen, ein solcher Mensch ist uns brüderlich und näher als sie. Aber ein Offizier, der gedeckt von seiner Uniform und ganz ausgefüllt von einer Verordnung einen litauischen Alten und seine acht Söhne vor ihrem Hause erschießen lässt, da sich in diesem Hause eine alte Flinte gefunden hat die sie nicht abgeliefert haben, löten lässt, obwohl sie von ihrem Vorhandensein oder dem Ablieferungs-Befehl nichts gewusst zu haben behaupten — ein solcher Mann, der das als Werkzeug des Wahnsinns vollbringt und darin Pflichterfüllung sieht, ist uns mondfern und verächtlicher als ein Mädchenhändler.

Wo der junge Jude aber nicht von einer neuen Idee hinausgetrieben wird über sich, wo er nicht mit der Vertiefung in das Alte seine Heiligung findet — der junge Jude des Durchschnitts ist in keiner glücklichen Haut behaust, auch wenn er sich nicht ohne Rest dem Handels- oder Erwerbstaumel verfallen fühlt. Dieses Kinn, bärtig und verhüllt, liegt nicht gerade frisch und jung auf seinem Halse; die Unrast der Augen ist uns wohlbekannt, das verzehrte Gesicht verrät den völligen Mangel an Abspannung, an Ruhenkönnen, und der Mund ist so geschwätzig, so verstört, so sehr enthäutet ... Ununterbrochen gehen die Gedanken in diesem Kopfe; ununterbrochen hört das innere Ohr sich selber zu. Wie wenn das Herz des Menschen in sein Gehirn und sein Gehör verlegt wäre. Er nimmt auf, indem er etwas Dargebotenes in Worte fasst. (Daher gleitet der Jude so leicht in die Journalistik, Literatur und Advokatur: das Wort, das gesprochene Wort dominiert.) Er verarbeitet, er produziert sprechend. Die Methode des Talmud-Lernens, alle ankommenden, einfallenden Worte zu verlauten, stammt aus diesem Zwang; er schafft Redner und Lehrer. Die ewige Wachheit dieses Typs setzt ihn in hoffnungslosen Gegensatz zur Ebene, zum Gebirge. Er kann damit nichts anfangen; sie sind ihm nur Hintergrund zum Gespräch. Aber der große Strom und das Meer, das rauschende, ruhelose ist ihm vertraut: es fängt ihn ein; Schach ist seine sublimste Erholung, Karten seine gewöhnlichste, ein menschenvolles gesprächerfülltes Café sein geometrischer Ort, der auch in einer gartenumrauschten Nacht zentral wirkt. (Wie schön diese Städte alle von Natur umgeben sind, Kowno, Grodno, Wilna, selbst Bialystok — wäre nicht die sommerlichrussische Datschen- oder Landhaus-Sitte herrschend, nur die allerlyrischsten Kinder zöge es hinaus.) Sein Körper ist für diesen Juden nur als Träger der Gesundheit da — nach dieser Seite oft lächerlich verzärtelt — nicht als Selbstwert. Hier rächt sich das sexuelle Ethos der Bibel am einzelnen Manne, wie es sich, vorher betrachtet, im Anfang der Ehe an der Frau rächt. Die vitalen Werte des Mannes leiden Not: Kraft, Gewandtheit, Wanderfreude, Körperübung, Elastizität, körperliche Jugend, gesunde körperliche Schönheit. Die abgeklärte, seelenvolle und adlige Schönheit des reifen Mannes und des Greises hat als jünglingshafte Vorstufe eine vor Geistigkeit funkelnde Schönheit der Köpfe — aber die einfältig edle Schönheit, die der Jugend berauschend ansteht, bei Mädchen häufig, bei Kindern überall, fehlt den jungen Männern (vielleicht nur in so jungmännerloser Epoche wie der unserer Okkupation) häufiger als bei Russen oder Europäern. Die Freude am Körper, das Glück der Nacktheit, das Bad um seiner selbst willen — all das ist im Ghetto nicht möglich. Und da erotische Kultur Körperkultur zur Voraussetzung hat, verstelle man, warum selten aber in jeder Generation ästhetisch empfindliche Mädchen zu nichtjüdischen oder westjüdischen jungen Männern ihre Zuflucht nehmen. Ich glaube zu hören, wie empörte Stimmen den Heidenjuden verdammen, der von so antiken, so griechischen Werten im Tone der Liebe zu reden wagt, und ich nicke den Grollenden gelassen zu. Es gab im Judentum Strömungen, die im Schir Haschirim ihren Ausdruck fanden, und solche, die im postpaulinischen Christentum gipfelten. Welche jüdischer sind, entscheide ich nicht. Ich wähle die erste, und ich sehe klar, dass viel Jugend mir recht gibt, im Osten, hier, und in Palästina. Es wird darauf ankommen, den „bösen Trieb“ kat exochen wieder in einen guten Trieb zu verwandeln, die Unbefangenheit der Sinne wiederzugewinnen, und die bösartige Verstockung, die im nordischen Klima aus der Geschlechtsanschauung des späten Judentums mit Notwendigkeit stammt, in südlicheren Landen naiver, südlicher, fröhlicher aufzulockern. II faut re-méditerraniser le Judaisme, um mit Nietzsche zu reden.

Hängt mit dieser Mittelmeernatur der Juden seine Begabung für die Schauspielkunst zusammen? Sicher ist, dass die drei, vier Mittelmeer-anwohnenden Völker starke mimische Tendenzen haben: Griechen, Italiener, Spanier, Franzosen, Juden haben oder hatten eine mimische Begabung, deren Kennzeichen nicht ihre geniehaften Höhen sind sondern die fabelhafte Allgemeinheit eines durchschnittlichen Ausdrucksvermögens, deren Hauptträger Geste, Sprache und Gesicht sind. So ist das produktive und rezeptive Verhältnis des östlichen Juden zum Theater äußerst intensiv, und der Schauspieler einer von zwei ganz populären Künstlertypen. Ihm verzeiht man das modern bartlose Gesicht gern; das Modellierte und Gefaltete darin, der äuf5erst markierte Mund, die beweglichen und ausdrucksvollen Brauen werden angesehen wie eine ehrende Uniform oder wie ein Orden. Der Schritt vom Dilettanten zum Berufsschauspieler und der vom Schauspieler zum theaterlosen Menschen vollzieht sich mit einer Leichtigkeit die im Westen undenkbar ist. Die beste ostjüdische Truppe — das Theater wandert im Osten noch — die „Kameradschaft Wilnaer Schauspieler“, kurz die „Wilnaer“ genannt, bestand zum größten Teil aus Dilettanten, die in der erzwungenen Muße des Krieges schauspielten, und deren Leistung als Ensemble im naturalistischen Drama so ungewöhnlich gut wurden, dass der Erfolg ihnen überall treu blieb. Trotzdem traten einige der begabtesten „Kameraden“ nach und nach aus privaten Gründen ins private Leben, sie verschwanden schlicht. Nun ist wohl wahr, dass an dem Erfolg der Wert der Leistung nicht ermessen werden kann, denn dieses Publikum, für alles Jüdische enthusiasmierbar, bereitet auch schlechten Truppen ausverkaufte, vor Beifall brechende Häuser; aber schon durch diese Teilnahme des sonst kritischen Juden zeigt sich die besondere Stellung des Theaters an: es ist noch Ausdruck nationaler Hoffnungen, der Rhythmus des Volkes und seine Empfindungen werden vom Auftreten des Schauspielers gesteigert und beschwingt; durch die auf der Bühne in seinen Masken auftretenden Gestalten fühlt sich der Jude repräsentiert, gesteigert, gesichert, gefeiert — selbst von Leistungen noch, die wir nur als parodistisch-komisch empfinden können und die ins Gebiet der „Operette“, des nationalen Singvolksstückes fallen. Was den Juden so sehr erregt, ist vielleicht der ursprüngliche, magische Anteil des Volkes am Theater: dass, was dort oben auf der Bühne, feierlich ausgestellt, geschieht. Taten in Vertretung der ganzen Nation sind; dass jüdische Geschicke, die, echtest dargestellt (an sich meinthalb ganz unwahrscheinlich zusammengebaut) sich auf der Szene zum guten Ausgang wenden, die Macht haben, das Schicksal des dargestellten Volkes auch in der Wirklichkeit zum Guten zu wenden, zu sichern, dem Untergang zu entreißen von dem der Jude sich stets bedroht fühlen muss ... So festigt die Szene das Seinsgefühl und rückt mit magischen Bedeutungen neben den Gottesdienst und seinen Vertreter, den zweiten volkstümlichen Künstler, den Chasan, den Vorbetersänger.

Er braucht weder jung noch edel auszusehen; seine Nase kann sinnlich verdickt sein, das Gesicht rot und fleischig, nicht allein vom Bart gealtert sondern aufgepolstert von Fett; er darf selbstzufrieden aussehen und mit seinen schweren Lidern aufgeplustert wie ein Täuberich unter der kostbaren Fellmütze: aber er muss singen können. Seine Stimme muss metallen und besinnungslos anstürmend die Decke der „Schul“ gen Himmel sprengen. Wenn er vor der heiligen Lade stehend, die Thora im Arm, von Tönen wie eine Fontäne steil emporgerissen wird, die aus seinem, der Gemeinde zugewandten Munde bricht; wenn er, über den Tisch gebeugt, seiner Stimme ein von Zerknirschung ersticktes, von Weinen unterhöhltes Timbre gibt (kunstvoll gibt, eine technische Leistung, nur leider nicht schlechthin Andacht), dann ist er selbst ganz produzierender und sich kontrollierender Sänger und zugleich Träger, bewusster Träger des heiligen Wortes, das zur vollen Ausdrucksmöglichkeit zu bringen sein Ehrgeiz ist — und der Spender einer Erschütterung, die weder mehr ganz Kunsterlebnis noch schon ganz Religion ist. Er erbaut die Gemeinde, und sie vergrößert seine Stimme, sein Können und seine Melodien. Damit ist er das lebende Symbol der Zeit. Zwitterlich zwischen ästhetischer und religiöser Wirkung, strahlend, volkstümlich, ein wenig eitel, nicht ganz ohne Gewinnfreude, und der üppige Ausdruck einer heftigen Naturbegabung die nur selten zu reiner, unmittelbar erhobener Leistung gerät — so ist er der Ausdruck dieser Generation, welche jetzt um die Mitte der Dreißig den Ausgang eines äußerst entscheidenden Geschlechts von Juden darstellt. Oft geht er auf etliche Jahre, Jahrzehnte zur Bühne, um den Rigoletto oder andere Operngestalten mit seiner Stimme zu vergolden, oft kehrt er später zur Synagoge zurück, ausgesungen ein wenig, ohne die Größe seines Aufgangs von dem die Väter ihren Kindern berichten und der schon legendär wird — kein ganzer Mensch, kein „amoliger Jid“, aber auch keine der neuen Zeit entschlossen zugewandte Gestalt — ein Zwitter, ein Sinnbild.

Aber es wäre grenzenlos ungerecht, mit diesem Aspekt von der heutigen ostjüdischen Jugend scheiden zu wollen, und wir scheiden auch nicht. Unter dem Sinnbild der Kinder wenden wir uns noch immer heutiger Jugend zu, denn die Generationen drängen sich ineinander — und stehen nicht klar voneinander geschieden — wie die Stimmen einer Fuge. Ein vergangener Abend belebt sich wieder. Gewitter steht über der Stadt. Grellweich schnellt Lichtblau in die Nacht, Blitzbäume wachsen augenblicklich schweigend und stürzen krachend ein, als schmettere ihr Fall durch die Kruste dieser Glutblase ins Magma. Das ist die Zeit, da lebten wir Julinächte der Geselligkeit. Wenn der Regen ans Fenster sauste wie jetzt und vielleicht Duft aufstieg von den gemähten Wiesen wie jetzt, rund um die Stadt wie Atem eines singenden Sterns — wir aber spürtens nicht bei verhängten Fenstern, damit unser verbotenes Mitternachtslicht nicht Patrouillen rufe und Polizei; Trunk, Rede, Lachen, Tänze um die Tische — und die Lieder! Die Lieder! In deren Melos Geruch und Wehmut von großer Weisheit, die Süße großer Weisheit war wie in altem zartem Wein: von Gemeinschaftsliedern mit Kehrreimen in denen, da heute der heilige Sabbath ausging — und wir feierten Hawdoloh bis nach Mitternacht — die gute Woche herbeigewünscht wurde, bis zu verzückten Liedern die trunken von Gott und vom Gottsuchen im Abschwellen der Strophe nur noch Du! Du! stammelten und zu jenen revolutionären Gesängen, unter deren gefasst mannhaftem Klang ganze Gefängnisse zum tapferen Tode, zum aufrechten jüdischen Tode für die Idee — und nicht für die Macht! für den Menschen — und nicht für Herrscher! einsam am schweigenden Galgen — und nicht im besinnungslosen Trab durch Sperrfeuer in der Kolonne der Kameraden, mit der Aussicht auf Rettung — geschritten waren. Solch Gefühl, welche Lieder: alle Quellen rissen sie auf! Gewitter über der Welt! Man kam von endlosen Monaten Verdun, hatte Serbien auf dem Altar gesehen, Lille in der Besetzungs-Erdrosselung: und da rieft ihr auf! Scharen von Seelen — Scharen von revolutionären Gesichtern im Blitzbaum hängend wie triumphierende Früchte: in diesen Liedern standet ihr da, jüdisches Volk. Ihr hattet die Rettung. Ihr wart jung, euer Glauben reichte nicht allein an die erneuende Zukunft des Volkes in dem alten Lande — dorthin auch der westliche gereicht hatte — sondern an die erneuende Revolutionszukunft Europas, an den Sozialismus auf der Erde. Und obwohl wir heute Verschiedenes darunter dächten: seit euren Liedern reicht auch der meine dorthin.

Kehren wir zurück. Gesang, Gesang. Junge Juden, aus denen Vergangenheit Gegenwart und Zukunft singen wie weissagende Nebel aus jungen Rissen des alten Felsens DAUER: formende Kraft geht von euch aus. Nicht allein die Stimmen, die Körper sangen, und sangen uns um. Je und je, singend, entgeht ihr eurer persönlichen Ichverhaftung und taucht zurück ins Sein des Volkes, welches eines ist, ob es auch wechsele. Dann werdet ihr, just aufgetauchte Welle, Geschenk der Dauer: indem ihr euch mit allem Rückwärtigen verbunden fühlt und ohne es nichts wäret, besteht euer Sein im Vorwärtsgehen, und darin erfüllt ihr eure Gegenwart. Ihr seid ein Stück geborener Melodie — Musik, deren Metaphysik im Willen der Welt zur Zukunft beschlossen ist.

Der Jude, musikalisch in allen Adern, steht in geheimnisvoller Beziehung zu jenem Dunkeln, Fließenden, Bewegenden, das ebenfalls Dauer heißt und ein zeugender Dämon ist. Geschlechter gehen hin, Geschlechter schwinden wie immer leiser werdende, langsamer wandernde Takte einer Melodie: aber so oft auch eine Stimme der vielstimmigen Fuge zu Ende geht und schweigt: immer wieder setzt hell, jauchzend und knabensüß ein frischer Atem ein, oben, hoch, und reißt den ganzen Satz zu neuer Bewegung auf: oft mit einer Umkehrung des vorigen Themas, oft mit unvorhergesehener Variation, immer mit einer strömend jungen, unberührten, aus dem Wesen der Dauer selbst wie Morgenröte aus der Nacht schwächelos entsteigenden und beseligenden Helle. Das sind die Stimmen der Kinder, für die der Greise von den beiden großen Dunklen eingetauscht, von Tod und Dauer. Und erschütternd, wenn aus den hellen jungen Stimmen Mal um Mal ein Thema, das Urthema, bricht, mit dem die große jüdische Fuge einsetzte, gewaltig, unstillbar und rastlos wie die Verheißung mit der das Volk aus den Morgennebeln der Geschichte tritt: das Fortissimo

„Kanaan“.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das ostjüdische Antlitz