das Leben auf der Erde soll werden wie es in Büchern steht, frei, bunt, windbewegt, aufregend...

Vertieft in sein Buch, den Mund vorgewölbt aus Anteilnahme, so sitzt er mit aufgestelltem Kragen in der Sonne und liest — ein armer Bursch ohne Zweifel, dessen Leben nach der Ergänzung durch bunte Phantasie bitter verlangt. Und so sitzen sie alle einmal, die Jungen, die ganz Jungen, und holen sich aus der Gewöhnlichkeit ein Schwung- und Sprungbrett im Buche. Aber, und darüber wollen wir uns hell freuen, sie bleiben nicht beim Lesen. So soll es werden! rufen sie sich zu; das Leben auf der Erde soll werden wie es in Büchern steht, frei, bunt, windbewegt, aufregend — und doch soll es uns nicht aus der Judenheit herausführen! Zu welchem Ende sind meine Sprache, meine Ideale, meine Mittel, Gang, Haltung, Aussehen und Geist anders als die von Litauern, Polen oder Deutschen? Verwandt aber eigenartig? Ich will nicht werden wie sie — sondern ebenso viel wie sie, ja, mehr als sie alle, denn ohne den Geist meiner Urväter wären sie alle nicht geworden, was sie sind; ich aber, ich bin ohne den ihrer Urväter was ich bin! Und wenn ich will, lerne ich den ihren noch dazu, ohne aufzugeben, was ich bin! Denn ich bin zu viel mehr verpflichtet als sie — solche Ahnen und eine so entstellte Gegenwart verpflichten mich, viel zu wollen! Sollte dies nicht die Grundstimmung einer Jugend sein, die, in Armut erwachsen und der Ungerechtigkeit und Härte der Menschen, des Lebens in jeder Form früh ausgesetzt, das jüdische Ideal gerechten Lebens im Blute, zugleich den trotzigen und in sich gründenden Willen zeigt, ihr Wesen rein zu erhalten, das heißt: sozialistische Lehren auf jüdisch darzuleben? Sollte nicht der Kern des Judentums, der dumpf hellsichtige Wille zur Selbsterhaltung um der jüdischen Aufgabe willen, in neuen Geschlechtern neue Formen annehmen, ein Fechter, der jede Waffe parieren kann, mit der der Zeitgeist ihn auflösend angreift? Dreimal ja: die Jungen mussten den Schritt tun, der sie über die mechanisch konzipierte sozialistische Idee zur organisch konzipierten brachte: der Sozialismus getragen in das jüdische Volksleben erzeugte die verschiedensten Grade von reiner Darstellung seiner selbst. Von einem jüdischen Sozialismus an, der reiner Marxismus ist und gleichsam als seine Agitationsprovinz die jüdisch sprechenden Menschen betrachtet, bis zu einem reinen Sozialismus, der der Prägung des erschütternd herrlichen Menschen und geopferten Führers Gustav Landauer ganz nahe kam — in kleinen Siedelungen, ohne Staat, aus gemeinschaftlichem, antipolitischem Geiste heraus, unter Gemeinbesitz an Grund und Boden und den entscheidenden Produktionsmitteln den sozialistischen Geist zu leben, im jüdischen Lande, dem Lande unserer Arbeit und Erfüllung — hat er mehrere Grade immer reinerer Inkarnierung gefunden. Und man braucht nur die Frage zu stellen, wo der Aufbau wirklich als reiner Aufbau möglich ist, ohne dass der Fluch der Zerstörung von vorn herein auf dem neuen Gebilde liegt, um sich zu vergewissern, dass es keine Voreingenommenheil ist, zusagen: der kolonisierende palästinensische Sozialismus ist wirklich eine reinere Darstellung der Idee als jeder, der erst gewalttätig zerstören muss, um aufbauen zu können. Das aus sich rollende Rad, der wahre Anbeginn ist jeder Schöpfung Symbol. Und wenn irgend etwas, ist Sozialismus Schöpfung. Alle Härte, Männlichkeit, Zeugerkraft, welche der gewalthafte Sozialismus als Kraft der Zerstörung bewähren muss, wird von dem unseren zu reinem Aufbau verwendet, befreit werden können. Mag der Zionismus als bourgeoise Bewegung begonnen haben, mögen noch heute neben den traditionstreuen die bürgerlichen Elemente in ihm die meisten Stimmen haben: seine Kraft, seine Bürgen sind die jungen zionistischen Sozialistenbünde, und ihrer ist die Wirkung. Denn was heute in Palästina baut, arbeitet, schafft, sind Menschen dieser Prägung, Ost Juden, welche von den beiden treibenden Kräften: Arbeit und Land umgeprägt worden sind, und denen sich von der anderen Peripherie her die beste westjüdische Jugend brüderlich zugesellt. Denn eines hat im Zionismus von jeher gelegen: die Idee der jüdischen Erneuerung war schon in Herzl, wenn auch erst Buber die ganze Tiefe dieser Idee als Aufgabe erfasst und gelehrt hat, hierin wie in so vielem noch der erste große Lehrer des jungen Judentums. Erneuerung: das ist die Scheidung zwischen uns und den anderen. Denn dem bürgerlichen Zionisten bleibt diese Erneuerung eine körperliche, möglicherweise eine nationale Angelegenheit; uns ist sie eine Angelegenheit des Menschen im tiefsten Ganzen und Wesen — eine religiöse. Und dem thoratreuen Juden kann sie mit Notwendigkeit nur ein Wegweiser „zurück zur Thora“ sein, zum ganzen Gesetz, zum Leben wie es war — und die Besten von ihnen sehen es groß und rein an und leben es mit herrlichem Heroismus schon heute während wir in uns den Impuls, die Stimme hören, dass die Erneuerung neuen Geist und neue Form des Lebens bringen muss, Wahrheit, die aus dem Rhythmus vorwärtsgewandter Generationen springt, für welche die Wiederherstellung von uns erstorbenen Bräuchen einen romantischen und künstlichen irrweghaften und unwahrhaftigen Charakter notwendig haben musste. Der Geist der Gemeinschaft, um den wir ringen, dass er uns erfülle, muss sich frei aus unserem Leben die Formen seiner Erfüllung selbst schaffen: die Namen Gottes müssen sich uns aufs neue offenbaren. Denn heute ist er wieder: der unbekannte Gott. „Ich werde sein, der ich sein werde“. Mögen wir erkoren sein, Diener dieses Ewigwerdenden zu heißen vor den Völkern.

Arbeit und Land — die wirkenden Kräfte sind im Ostjuden, tätig gewesen von jeher, Land als Sehnsucht, Arbeit in ihrer harten, selbst entgeisteten und doch auch so noch halbfreudigen Form. Knabe, aus dessen schmalem Gesicht der bräunliche Adel deiner Rasse funkelt; du schlanke Geschmeidigkeit im wüsten plumpen Kittel: nicht das ist der Sinn deines Tuns, dass du die Schornsteine dieses Städtchens als Gehilfe eines Meisters fegen sollst. Sondern in der Abhärtung deines Leibes, in der Stärkung deiner Arme, in der unermüdlichen Anspannung deines Willens liegt sie. Der du die Härte der Arbeit gelernt hast: nicht im Ruß der Rauchfänge sollst du sie üben, sondern im Anhauch des Meeres, im heißen Odem der sommerüberblauten Erde und im Geruch des Fiebers, und diese, die Arbeit am Lande wird es sein, die dich den Sinn der Arbeit lehrt! „Arbeit, das fördernde und formende Wirken des Menschen an der Erde und ihren Schätzen ist Dienst an Gottes Eigentum“: Buber. Und sie wird dir etwas schenken, was du, Knabe, nur unbewusst kennst: die Lust an deinem Körper, diese jauchzende und federnde Freude am Dienst der Muskeln und am Schnellen des Blutes in den nährenden Adern, die allein des Menschen Freiheit würdig auszudrücken imstande ist. Wer nie seine Schulter der grimmigen Last einer eisernen Schiene entgegengepresst, nie mit der Spitzhacke steinern gefrorener Erde eine befohlene Form abgetrotzt hat, der weiß nicht, was Menschenwille und Menschenleib für machtvolle, prachtvolle Diener sind, der kennt nicht sich und nicht den Menschen. Das wilde Lachen vor dem Widerstand der Materie in ihrer krassesten Form, das ist das männlichste Lachen unter dem Himmel, und die Erschöpfung noch nach dieser Anstrengung ist fruchtbarer als jede andere; sie kann glücklich machen, wenn der Arbeitende frei wollender Diener am bejahten Werke ist. Der du deine Katzenschultern durch die engste Esse noch zu zwängen lerntest: du wirst lachen lernen wie Juden seit Geschlechtern nicht mehr gelacht haben, das Gelächter deines freien Leibes wird dir um Augen und Zähne blitzen, Knabe, Knabe! Sie wird dir den Körper wieder schenken, den du einst hallest, als Gamliël ein Nagelschmied war und Jochanan ben Sakkai ein Schuster; aber braucht es denn ein anderer zu sein? Bist du denn nicht, wenn man dir, Kind, eine Mütze des Orients aufsetzt, wie vor den Mauern Sichems gesehen? Er wird nur nicht mehr lichtlos, luftlos, unter schweren Kleidern in menschenüberfüllten Stuben und miasmatischen Gassen ersticken, er wird das als Mann noch und alltäglich zeigen, was als Kind alltäglich, als Mann so erschütternd selten unter uns offenbar ist: Leibeskraft und -schöne. Und du wirst, wenn du als arbeitsfrohes und arbeitendes Geschöpf aufwächst, mit Einem zwei große Gnaden empfangen: die Würde der schaffenden Tätigkeit begreifen und den Geist des wahren Tauschens und Vertauschens empfangen; denn nur wer beziehungslos zum Herzen der Dinge existiert, wer sie sich ohne werbende Mühe für Geld beschafft, ohne vom Wesen dieses Dinges, wie es mühsam geschaffen ward oder schweißbetreut wuchs, ein Wissen zu tragen, nur der kann es um Geldesmehrwerts willen und berufsmäßig vertauschen. Kauf und Verkauf, gerechter Tausch sind dem Menschen angemessen; aber eine Nation von Händlern wäre eine Krankheit an ihm. Und obwohl im Ostjuden der arbeitende Mensch stets einen Hauptteil des Volkes ausmachte, im Westjuden ist es anders, und furchtbar wirbt das leichte und muskelarbeitlose Leben des Händlers unter allen Völkern, so auch unter den Juden. Es ist eine perverse Ordnung, wo der Verkaufende mehr gilt als der Erzeugende, und richtiger fast erscheint dann die Sitte früherer Dörfer, wo nur einen Laden aufmachte wer der Arbeitskraft beraubt war: der Alte, der Krüppel und die Witwe. Wir müssen die Wertordnung, die von kapitalistischen Zeiten auf den Kopf gestellt worden ist und in die sich der Jude erst gezwungen, dann gar gern eingereiht hat, wieder auf ihre Füße stellen, und wenn wir dabei auch eine Zeitlang ins andere Extrem schlagen sollten: nach dem „leichteren Leben“ zu gleicht sich das Extrem sehr schnell von selbst aus, wie zu ihrem eigenen Schaden alle die Völker erfahren mussten, die dem Juden die verachtetsten Geldgeschäfte aufzwangen: ihre eigene Wertordnung ward allmählich angesteckt, umgekehrt schließlich und ganz zerrüttet. Du wirst kein Schieber und Schacherjude werden, mein Junge! Deine kindliche Arglosigkeit, welche wie die drolligheilige Anmut eines jungen Tieres über dir liegt, wird sich im Manne zu jener treuherzigen und freundlichen Kameradschaft entwickeln, die den kräftigen Menschen so oft, und heute schon nicht nur im Osten, zu einem so ansteckenden Menschen- und Judentypus macht. Wir wissen nicht, ob es geborene Händler-Völker gibt, und wir glauben es nicht; aber wir wissen, dass man den Juden durch eine gegen ihn gerichtete Wirtschaftsgesetzgebung zum Städter gemacht hat, und dass Zwang und Beispiel, Gewöhnung und Suggestion, es könne gar nicht anders sein, über tausend Jahre an ihm geformt haben. Wenn nun trotzdem Judenjugend in wenigen Jahren diese Suggestion über den Haufen zu werfen fähig war, wenn sich überhaupt jüdische Arbeiter am Boden durch den bloßen Willen darstellen konnten — so beweist das für jeden der denken will zum mindesten, dass dieser Suggestion das Urwesen des Volkes nicht entgegenkam. Und mehr Einsicht verlangen wir nicht; diese aber erwarten wir. Ein Volk ist ein Lebewesen, in welchem eine Fülle von Eroberungsformen möglich sind, um den Drang nach Ausbreitung im Raum und in der Zeit, den jedes Leben hat, zu stillen. Und wenn die Pfahlwurzel einer Pflanze, die bei ihrem Grundwärtsstreben auf eine Schuhsohle trifft, diesem Haltgebot nicht folgt, sondern sich wie eine Faserwurzel in soviel Strähnen teilt als diese Sohle Löchlein aufweist, um so das Hindernis zu nehmen und unterhalb seiner dennoch wieder zur Pfahlwurzel zusammenzuquellen, — so ist in diesem Bilde alles enthalten: wie wir zu Händlern wurden und wie wir's zu sein aufhören.


Kinder sind ja so bildsam wie nichts sonst. Selbst das Widerstehende vermögen sie zu lernen; um wie viel mehr folgen sie der Leitung, die nur ihre Impulse selbst ins Reine, Heitere und Tätige führen will. Nichts ist leichter, als sie vom Irrwahn des Besitzenwollens zu heilen: denn der Trieb nach Besitz, den schon das Tier in seinem Verhältnis zu eigener Höhle und eigenem Fressnapf, eigenem Nistplatz und selbstgetötetem Futter andeutet, ist im Menschen also ausgeartet, dass er zum Dämon auf der Erde geworden ist. Wo ist die Zeit hin, da Erde und Acker, Wald und Wasser, Wiese und Weide Gemeinbesitze waren, wo der Mensch diesen Allgemeinheiten mit dem Gelüste des Herausschneidens, des Für-sich-habens gar nicht nahen konnte, da diese Gegebenheiten schon dem Trieb danach entrückt waren, als Gut Aller! Wir müssen die Allmacht des Besitzes wieder einschränken auf das Besitzbare, auf Wohnungsraum und Kleid, auf Spielgerät und Werkzeug des privaten Lebens. Wir müssen den Menschen wieder lehren, dass der Boden Allen oder Gott gehört und die arbeitenden Maschinen der Allgemeinheit, der sie nutzen. Wie Eisenbahnen und Landstraßen müssen in einem wohlgegründeten Gemeinwesen Fabriken und Boden Allen gehören, und dieser Zustand, heute unerhört, würde schon nach einer Generation eben so natürlich anmuten wie der Gemeinbesitz an jenen Transportproduktiven jedem heutigen Kinde. Um wie viel sorgloser erwüchse der Mensch, um wie viel besser! Denn wahrhaftig, der grenzenlose Besitztrieb ist ein zerstörenderer Teufel für den Menschen als jeder ins Maßlose entartete Trieb, und da der Mensch nicht gut ist, sondern besser werden kann, wird die Verringerung des Bezirks besitzbarer Güter ihn besser machen. Wir aber, Volk der äußersten Spannungen, haben in uns nicht nur den extremen „Besitzer“, den Kapitalisten der Zeitung, welcher die Meinungen und Bedürfnisse der Leute besitzt, sondern auch sein Gegenstück: den kommunistischen Arbeiter Palästinas, Russlands und Ungarns. Sitzt nun ein Knabe, jetzt jung, nicht wie eine Zunge der Wagschalen mitten zwischen ihnen? Spricht nicht aus seiner wehrlosen Haltung die Passivität, welche zu jeder Richtung der Entscheidung aufgerufen werden kann? Ach wenn man ihn gewähren lassen dürfte; wenn nicht die Zeit allein und das Leben in heutigen Städten die furchtbaren Gewichte des Verfalls und der Entseelung, der geistlosen Mechanisierung jeder echten menschlichen Beziehung in Händen hätten, und unaufhörlich geltend machten! Darum dürfen wir nicht schweigen, denn der Gegner schweigt nie! Er, der uns selbst auf furchtbare Irrwege zu locken die Gewalt hatte, er, der, als wir jung waren, uns sein verzerrendes Bild menschlichen Zusammenlebens einprägte! Obwohl wir unseren Instinkten und Einsichten folgend nicht ganz in seinen Bann fielen: welche Halbheit um uns, welche Schwäche in uns, Lauheit, die ausgespien zu werden verdient! Wer sind wir denn, heute und hier! Mit Schaudern müssen wir den Kindern sagen: werdet nicht wie wir! sondern mehr, sondern viel mehr! Sehet unsere Schwäche an und unsere Entstelltheit — nicht um über uns zu richten, sondern um es besser zu machen. Denn es genügt nicht, besten Willens zu sein und seine Nächsten zu lieben — all das haben wir versucht und davor warnen wir euch — wenn man sich zugleich wohlfühlen kann in solcher Zeit und die Schreie solcher Not und gramvollen Schmachtens der Seele überhören. Auch wir waren einmal gutäugige, vertrauende und ganz kindliche Kinder — und was ist aus uns geworden? Mitschuldige der Zeit und des Grauens. Unsere Hände sind, unmittelbar wenigstens, rein von Blute, und wir haben niemals „mitgehasst“ und an gefangenen Menschen nach Kräften Kameradschaft geübt; das Land der Feinde war uns wie unser Land ehrfürchtig und das Gut ehrwürdiger als unser Gut. Und doch, und doch! Ihr Kinder, wir haben nicht genug getan. Wir haben uns nicht entgegengestemmt. Wir haben das Übel nicht gewittert, wir sind der Lüge erlegen, wir haben dem Übel nicht widerstrebt ... Mit blasser oder blutvoller Bewahrung vor Befleckung ist nichts getan. Mit Reinlichkeit der Seele allein ist nichts getan. Widerstrebt dem Übel, Kinder, ja widerstrebt und helft uns, das Gute zu tun und das Frevelhafte einzudämmen. Denn wenn auch ihr eines Tages dasäßet wie wir, zerrieben, geschwächt, ungeeint und in allem Guten verzögert: wieder wäre die Hilfe an der Welt verschoben! Wieder wären die Wagen Gottes zerbrochen und ihre Bäder zu nützlichen oder schön zu findenden Feuerchen entweiht! So haben wir getan und schämen uns mit unserem Herzen: ihr aber habt die Kraft noch, und euch darf man wieder mit Zutrauen ansprechen und mit Erschütterung betrachten. Wahrhaftig: in euren Mützen seht ihr aus wie die rechten Krieger des Geistes, vorwärts zu spähen vermögt ihr wieder, Kundschafter seid ihr wieder, die Gott in die Ebenen verschickt und über die Flüsse! Knaben, Knaben, und ihr, Mädchen: vorwärts seht und weiter keinen Blick auf uns gewendet, nachdem ihr uns wohl betrachtet habt! Euer Ziel ist: Aufrichtung eines gerechten Lebens. Euer Feind ist der Dämon des Geldes, der Eigensucht, des Handels und der Zeit. Eure Gefahr, und eine die euch sehr deutlich umlockt und, viel heftiger als uns selbst je, umwirbt: ist Stolz auf euch selbst. Euer Untergang: sind wir. Wir, die wir alles verstehen und viel zu klug geworden sind um hassen zu können. Es ist aber auch Hass ein Baustein des Tempels, und nur eines ist Baustein zu nichts: Selbstbewunderung, die euch ganz ohnmächtig und wertlos zu machen droht. Wir verlangen von euch, dass ihr der Sache des Menschen dient, wie ihr in besten Zeiten gedient worden ist: weil ihr Juden seid, und euch dies als Aufgabe gesetzt ist so alt das Volk besteht. Es gibt keinen Streit für Gott als auf der Erde, es gibt keinen Dienst Gottes als im Leben mit den Menschen. Wahrhaftig, die Worte des Gesetzes und die Reden der Propheten und Jeschuas sind wörtlich gemeint, in diesem Leben und auf dieser Erde, oder wir Menschen alle sind weniger wert als Blumen oder Korn. Eure Augen mögen scharf blicken und dies nie mehr zu Verlierende ganz sehen: dem Menschen muss geholfen werden, und wir sind mit Allen, vor Allen berufen, weil wir älter sind als sie und so viel gelitten haben. Der Weg der Hilfe aber ist: dass wir zu uns selber kommen und mit zusammengebissenen Zähnen nur an uns selber, am eigenen Volksleibe, das Leben neu gestalten. Denn wir müssen erkennen, dass wir, wenn wir anderen Völkern Hilfe bringen wollen, weil wir sie neu, geblendet, ohne Wegweiser vor ihren Aufgaben stehen sehen, ratlos wo anzufangen und mit welchem Griff der Hand — wenn wir ihnen helfen wollen, weil wir sie sehr lieben, die jungen adligen und verschütteten Völker: erkennen, dass wir sie böser machen. Dass wir den Dämon in ihrer Brust, der „Gewalt“ heißt wie unserer „Handel“, anfeuern und ihm den Ausweg zeigen, auf den er verzweifelt lauert. Dass wir ihre Seelen nicht läutern, sondern verdüstern, blindzornig umherfahren lassen, die Seele Edoms! Möge das jeder von uns sehen und tief in seinem Herzen wägen. Wenn er dann aber sich entscheidet und sagt: die Zeit schreit nach mir, dass ich die Tat tue, hier und an diesem Orte jetzt, an unserem jüdischen Orte dann — so möge er hingehen, ein Opfer mehr.

Eure trotzigen Kriegerblicke, ihr jüdischen Knaben! Euer freier junger Hass gegen Entstellung und Gewalt — das ist Labsal unseren Augen. Ja, es ist Unrat in der Welt, Berge von Unflat, Mord, Raub und Schacher. Länder und Völker werden verschachert, und Völker ersticken ihre eigene Zukunft, die Möglichkeit des eigenen Blühens, in Blut, Raub und Verfall! Jeder Mensch heute auf seinem Posten ist Herakles und Simson zugleich gesellt, und nie ist mehr kriegerischer Geist gegen den Teufel Not gewesen als heute. Ach wie gut dass ihr ihn habt! Dass ihr wie Rowdies und Helden des Geisterkriegs euch auf ihn stürzen könnt! Feigheit, Halbheit, Lauheit ist überall, und der gute Wille schwelt überall als Grund der Entschuldigung. Er genügt nicht, Knaben! Die Kraft muss dazu kommen! Die Männlichkeit des Mannes muss aufbauen, hingehen und anfangen. Und weil überall die Apostel des Krieges heimlich wühlen und öffentlich frech reden, wollen wir ihnen unser Credo ins Gesicht schreien: Jawohl, Krieg — gegen das Blutsaufen! Krieg gegen die Entartung des kriegerischen Geistes zum Diener idiotischer Zerstörungsmaschinen! Die Männlichkeit soll endlich wieder eine Tugend werden, nachdem sie fünf Jahre lang als Orkan der irregeführten Raserei geschändet worden ist. Eine Handvoll jüdischer Sozialisten und skandinavischer Polarforscher, amerikanischer Brückeningenieure, englischer oder deutscher Tropenkolonisatoren hat mehr Männlichkeit und kriegerische Kraft als ein Armeekorps preußischer Drilltodes-Opfer. In Flaubert und Cézanne war mehr gallische Tapferkeit als in Joffre, Sarrail und Foch! Karl Liebknecht, der gegen den Hass eines ganzen Landes stand, Rosa Luxemburg, da sie gegen den militaristischen Geist und seine Träger focht, gegen Jahrgang um Jahrgang von Offizieren, gegen die Kaste der Menschen-Abrichter und -Hinrichter, war männlicher, kriegerischer, und soldatischer Tugend voller als Kluck oder Ludendorff. Denn was ein Mensch gestützt auf eine Menge Befehligter tut, das gilt nicht; was ein Mensch mit sich allein tut, vor sich allein, in Verbundenheit mit dem Geist des Lebens, das gilt! Knaben, gedenket der letzten Tage Gustav Landauers, wie er allein und unverborgen in einem Häuschen wartete, dass sein Schicksal zu ihm komme, und wie er es begrüßte, da es kam: „Jetzt geht es in den Tod, da muss man den Kopf hoch halten!“ Gedenket der Tapferen und werdet tapfer vor dem Gelächter, der Feigheit und der Rohheit einer zu Ende sausenden Welt. Beißet die Zähne aufeinander, spannet den Hals fest an und denket, dass ihr Gesandte des Geistes seid; dass die Ordnung und das Heil zwischen den Menschen eure Aufgabe und das Volk der Juden euer Acker ist, der euch Frucht bringe und euch nicht zu Schanden mache. Denn die Welt weiß: „Das Heil kommt von den Juden.“ Volk, du seltsames und herrliches Volk, zerrüttet wie Regen und quellend von Keimen wie Märzenland — wes Herz geht nicht auf vor Liebe, wenn er dich sieht, und entbrennt nicht vor Zorn über dein Wesen in der Zerstreuung? Dich sehen, schauen, dich in sich trinken, du unsterbliches Leben, du Geist vom Geiste, herb, unfeierlich, heiter und jeder Erschütterung fähig, jeder Umkehr fähig, jeder Läuterung aufgetan! Wer bist du denn, dass deine Kinder nach soviel Jahrhunderten noch spielende und tollende Kinder sind, rein, zutraulich, ohne Vorwitz, mit drolliger Weisheit begabt und anmutig und schamhaft — Kinder, denen das Geistige zugeordnet ist und die das Kindliche nicht verleugnen, Kinder, die des Lebens Last und Jammer nicht erschlägt und die an der Leiche des Vaters, erschossen von Legionären, an der Leiche der Mutter schweigsam werden und hart — aber am Leben nicht Irrewerden und nicht schlechthin Rächer und Gewalttäter und Selbstvernichter! In Gesichtern dieser Kinder steht die Antwort auf jene Frage, die unter allen Worten mitgegangen ist bis an diesen Ausgang: ist das Volk der Juden ein Greis? und ein harter oder weiser Greis sein Sinnbild? Nein und nein! Wenn das ewig verjüngte Wesen Greisenart, wenn der unermüdliche Anfang, der stete Wille zur Aufgabe, die heilige Treue am Wesen mitten in der Abkehr, wenn fruchtbarer Zwiespalt und stets neugeborene Erschütterung, wenn Wille zur Tat und die ewig leuchtende, irdisch erfüllbare Hoffnung auf das verwirklichte reine Menschenbeisammensein Greisenart, wenn das Bewegen und Bewegtsein zum Ziel des Menschen auf der Erde jemals Greisenart wäre! O Volk, dir ward in der Brust ein junges Herz, ewig stehst du in neuer williger Hoffnung vor der erfüllbaren Zeit, o Volk, immer noch glaubst du an den Menschen und den Geist und das Leben? Ein Kind ist dein Sinnbild, ein Knabe mit weich gebildeter Nase, mit einem lieben Munde und großen schuldlosen Augen. Jizchak, der vertrauend und sanft zum Opfergang schritt und auf dem Holzstoße schrie, Jaakob, der seinem Bruder vorgezogen ward und ins Elend flüchtend auf seinen Gott stieß, Joseph, der seine Träume träumte und seine Brüder dem Vater angab und im schönen Farbenkleide zu ihnen trat, Benjamin, der gen Ägypten fahren musste und David, der den Goliath antrat: Knaben, immer Knaben! Noch heute finden wir dir keine anderen Zeugen. Weil du selbst ein Knabe bist, Jisrael, ein ganz junges Volk, in der Irre wie Jugend und nach dem rechten Wege trachtend wie abermals Jugend, dass dir eine Stimme zurufe: „Kehre heim, Jisrael, zum Vater, denn du sollst getröstet werden!“ Ein Knabe ist Jisrael auf der Erde, gezüchtigt, verwirrt, trotzig und zur Heimkehr bereit, wenn ihm einer nur mit dem rechten gütigen Wort begegnet, seine Scham zu schonen. Höre, die Zeit beginnt das Wort zu sprechen. Es taucht in ihr auf, unbegreiflich ihr selber, der fremden und endend-beginnenden, die dich misstrauisch wie eine fremde Frau am Straßenrande sitzen sieht, dich Knaben Jisrael, mit einer russischen Soldatenmütze auf dem Haupte, schief, weil sie dir fremd und zu weit ist. Sie sieht dich und will dich anfahren und schilt auf dich ein. Aber schon fühlt sie im Herzen die unbegreifliche Regung aufsteigen, weil sie dir ins Auge sah, die bösen Worte wollen stocken und sich wie jenem moabitischen Zauberer in Güte und Trost und heißes Erbarmen verkehren: wie schön sind deine Zelte, Jaakob, deine Hütten, Jisrael!

O, dann wird dein Herz aufbrechen, Jisrael, und du wirst Frühregen weinen auf die Erde.

Wer deine Augen sah, der muss dich trösten. Sie rufen das Gute in dem Menschen auf, es zu spiegeln. Schwarz, gerundet und leise schimmernd halten sie sich voll aufgeschlagen der Zeit entgegen, allen Zeiten. Und sie erblicken alles Elend an diesem Volke, Schande und Häuserbrand und das Blut der Toten, aber sie spiegeln es nicht, denn sie weinen darüber. Denn wie der Spiegel Salomonis sind sie nur bereit, das abzubilden, was eines Wesens ist mit ihnen, die gut sind.

Knabe Jude, vor deinen Augen sollen sich die Söhne der Erde verantworten und sie werden sich schamrot abwenden.

Knabe Jude, deine Augen ziehen uns zur Rechenschaft, und wenn wir sie ablegen: fast nichts ist in unseren Händen für uns Zeugnis. Du aber bist unser Richter.

Du bist ewig Abel, der erschlagen ward und zu Gericht sitzt, ein milder Fürsprecher unseren Taten und den Taten der Menschen. Ihr wisst nicht, wie verhetzt ihr seid, sagte Gustav Landauer zu seinen Mördern. Immer und immer wieder spricht Abel: Sie wissen nicht, was sie tun; und vergibt ihnen.

Abel, Knabe Jude, ewiger Anfang, neuer Frühling: aus den Brunnen deiner Augen wird man eines Morgens den Wein des Lebens schöpfen. In den salomonischen Spiegeln deiner Augen wird das Antlitz des Messias sich abbilden, welcher der Erde und den Menschen gewiss versprochen ist, den Frieden zu bringen und die Güte des Menschen zu offenbaren.

Wir werden ihn nicht sehen.

Dann wirst du Freund aller Erdgeburt heißen. Dann, Knabe, gedenke unserer freundlich.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Das ostjüdische Antlitz