Chronik des neunzehnten Jahrhunderts - 1840

Chronik des Jahres 1840
Autor: Benicken, Friedrich Wilhelm (1783-1847) Hauptmann, Militärschriftsteller und Übersetzer, Erscheinungsjahr: 1841
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Chronik des neunzehnten Jahrhunderts, 1840, Staatliches, Wissenschaftliches, Gewerbliches, Geselliges, Wirtschaft-, Kultur- und Sozialwissenschaft, Sittenbild,
                  Vorwort.

Die hier vorliegende Arbeit ist ein Erzeugnis der Zeit, des Gedankens, der Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen in ihr und für sie; wie kann also sie eben anders sein als diese Zeit selbst? Das Urteil über die Zeit ist aber sehr verschieden; einige meinen, sie sei eine tiefbewegte, andere glauben, sie sei eine bis in des Lebens Tiefe stockende Zeit. Da nun der Glaube etwas ist, dessen letzte Gründe anzugeben man nicht genötigt werden kann, so ist es gleichfalls vergönnt zu glauben, dass sie eine Zeit der Crisis für einen Ausgang sei, dessen Sinn allen Parteien noch unbekannt ist. Der Boden ist bereitet und wird immer noch mehr aufgewühlt. Unkraut schießt auf; die vorschnelle Jugend hält das sich Hervordrängende für ein Produkt der Keime der Zukunft, für den werdenden Wald, für die sprossende Saat; das von Reminiszenzen lebende Alter dagegen steckt abgehauene Bäume und geschnittene Halme in die Erde, und will die Welt mit dem Wahne beschwichtigen, dass diese Pflanzungen mit den faulen Wurzeln zusammenwachsen und grünen Wald und reiches Feld bilden würden. Beides ist Torheit, Spiel junger wie alter Kinder. Was soll der ernste gedankenvoll dem Treiben zuschauende Mann dazu sagen? Soll er fürchten, die alte tote Zeit möchte zurückgebracht werden? Soll er die Botanisten des Unkrautes beschuldigen, dass sie die Wälder und Erntefelder der Zukunft zerstören? Er kann weder das Eine noch das Andere; denn er muss wissen, dass es keine Macht gibt außer den Geist, und dass dieser Leben — worauf es hier ankommt — nur aus dem Vereine des Widersprechenden erzeugt, so wie, dass die Wissenschaft tot ist, so lang es ihr nicht gelingt dem Geiste sein Geheimnis abzulauschen. Das ist schwer. Wer vermag den Blitz zu fassen? Aber versucht muss es werden; dieser Versuch ist die Aufgabe für den Denker, d. h. für den Mann des höchsten geistigen und sittlichen Lebensakts; denn der Gedanke ist das Leben selbst, dessen höchste Form wie dessen höchste ethische Tat: — die Freiheit.

An diesen Versuch hat der Berichterstatter sich gewagt und dazu das reiche Jahr 1840 gewählt. Er gibt was geschehen ist, und sagt wie er das Geschehene sich denkt im Zusammenhange mit dem Leben. Er glaubt dies mit Freiheit, Wahrheit, Anstand und Wohlmeinung getan zu haben. Dass er weder den Optimismus noch den Weltschmerz kultiviert, weder Apologet noch Alltadler ist, — dafür zeugt hoffentlich der Humor, dem er nicht gewehrt, sich auch über das zu verbreiten, was die Parteiwut der Zeit längst — vielleicht mit alleiniger Ausnahme von England — aus dem Bereiche der heitern unbefangenen Betrachtung vertrieben hat. Zu rächen hat er nichts; was er hasst ist das absolut Schlechte, vor Allem das Gemeine; was er liebt, ist das Recht, die Wahrheit und die Freiheit. Aber nicht, dass er diese heiligen Drei schon ergriffen zu haben wähnt; er jagt ihnen nach — möglich, dass er nicht immer auf der richtigen Bahn ist. Möge die Kritik ihn zurechtweisen; nur sei sie Kritik, d. h. auf die Wahrheit der Sache, auf die Freiheit des Gedankens und den Anstand des Ausdruckes basierte Würdigung seiner auf gleicher Basis stehenden Arbeit. Was außer diesem Bereiche liegt, wird er dulden als — ein Übel der Zeit.

Als Hauptsache ist in diesem ersten Bande das Staatliche behandelt, damit der Gesichtspunkt von vorn herein festgestellt werde. Im nächsten Bande wird es möglich sein, das Wissenschaftliche, Gewerbliche und Gesellige auf denselben Standpunkt zu erheben und bei dem Staatlichen auf 1840 zu verweisen; so dass jedem Gegenstande sein Recht geschehe und der gegebene Raum nicht überschritten werde.

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                  Einleitung.

Eine Zaubergewalt, der Niemand widersteht, liegt in dem Abschiedsmomente jedes Jahres. Mit dem letzten Schlage der Mitternachtsstunde des Silvestertages kehrt jeder — wer und wo er sei — ob auch in verschiedenster Weise doch in irgend einer Art, den Blick auf sich selbst, und unwillkürlich drangt das Herz oder der Kopf, das Gefühl oder das Bewusstsein ihn zu der Frage: „Was gab dir das alte Jahr; was wird das neue dir bringen? „und wenn Hoffnungen oder Besorgnisse um die Zukunft fragen, so suchen sie die Gründe dafür in der nächsten Vergangenheit: im alten Jahre. Es ist das bereitete, bestellte Saatfeld, auf dem die Ernte reisen soll, der jeglicher entgegensieht: hoffend wie bangend, vertrauend wie zweifelnd.

Aber bei der Mehrzahl der Menschen ist es mit jener Frage und einer Antwort, wie Lage, Laune oder Alter oder sonst irgend ein selbstgenügliches Motiv sie eingibt, denn auch vollständig abgetan, und im neuen Jahre geht es fort wie im alten: unbekümmert wie es draußen aussieht, wenn nur das teure Ich geborgen und befriedigt bleibt. Selbst da, wo jener Augenblick der Beschallung eine Andachtsstunde wird und die innere Stimme, die aus der Gedankenlosigkeit zum Gedanken weckt, ein Buße predigender Antonius, bleibt doch in der Regel das Ergebnis dem der Fischpredigt des Heiligen gleich und Alles beim Alten.

Soll es so sein; darf es so bleiben? Spricht die Zeit umsonst so laut; sind die tausend und aber tausend Zungen ihrer Verkündigung allwärts und an Alle, nichts als die Klöppel hohlen und toten Metalls, das bezahlte Menschenhand schwingt in gebotenen Pausen? Nein, und abermals Nein! Die Stimmen der Zeit, woher und in welche Stätte der Erde, und in welche Region der Gesellschaft sie hineintönen, sind die Prophetenstimmen des Weltgeistes, und was sie künden ist das Weltgericht!

Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die da sprachen, es gibt heute noch Solche, die da sprechen: „dem sei nicht also!“ Sie wollten und wollen noch, dass die Masse des Geschlechts dem Schauspiele der Zeitereignisse wo nicht gleichartig und gedankenlos zusehe, doch unbekümmert um das, was nicht geradezu in den Kreis fällt, in den sie sich selbst oder die Verhältnisse, oder irgend ein Machtgebot sie gebannt haben. Die ernste Prüfung dessen was vorgeht,— vorzüglich in der letzten Beziehung desselben zu den höchsten Zwecken des Menschen- und Gesellschaftslebens — nennen sie revolutionär, atheistisch, phantastisch oder schwindelhaft; je nachdem die Gedanken sich auf Staat, Kirche, Wissenschaft oder Industrie richten. Nach ihrer Lehre heischt die göttliche Weltordnung, dass die Gesellschaft am Gängelbande herkömmlicher Formen maschinenmäßig sich fortbewege; ia sie behaupten: von Ewigkeit her sei das so gewesen und müsse so bleiben in alle Ewigkeit. Mit der Befriedigung der nächsten unmittelbaren Bedürfnisse des Einzelnen, soll — predigen sie — das Geschlecht zufrieden sein. Nach ihrer Lehre ist des Menschen höchstes Prärogativ: das Selbstbewusstsein, die klare Selbstverständigung über die geistigen und sittlichen Lebenszwecke, — eine Impietät.

Aber diese Weisen haben sich über die Zeit und das wirkliche Leben immer sehr arg getäuscht; Zeit und Leben sie fortwährend Lügen gestraft, Zeit und Leben sind vorangeschritten und schreiten unaufhaltsam voran; denn beide sind und können nur sein und stehen auf dem Prinzipe der Beharrlichkeit und Bewegung: auf den beiden nicht wegzuleugnenden und doch unerklärbaren Kräften, die der weise und gütige Schöpfer dem Weltall zugeteilt hat um Licht, Leben und Ordnung überall und auf immer zu verbreiten und zu erhalten. Und weil jene falschen Propheten dies Prinzip nicht anerkennen in einer Zeit, die dessen Dasein und Macht gleichsam von den Dächern predigt, darum fällt ihre Zahl von Jahr zu Jahr; längst die Minorität, werden sie bald eine Nullität sein.

Anders steht es mit denen, die wo nicht schon klar erkennen doch lebendig fühlen, was die Bewegung in der Zeit bedeutet. Sie rühmen sich des Aristokratentitels nicht; aber sie streben danach, dass sie den Ehrennamen der Besseren ihrer Zeit bei Mit- und Nachwelt verdienen mögen. Und weil sie das tun, darum wächst ihre Zahl mit jedem Jahr, und das Jahr ist ihnen etwas Anderes als jenen. Ob auch sie in dessen Abschiedsstunde jene Frage an sich stellen und mit solchem Anliegen gleichsam das Hauswesen besorgen, so tritt — wenn dies geschehen — das Resultat des religiösesten Gedankens, die Erinnerung an den großen Menschen: die Menschheit, milder ernsten Frage hervor: „Was brachte das geschiedene Jahr der Welt, den Völkern, den Ständen und Geschlechtern, aller Genossenschaft auf Erden; was wird ihr, was diesen Allen das neue bringen?“ Vor solcher Mahnung aus dem Geistesreiche verschwinden auf einmal die Gaukelspiele der Eigensucht wie die gespenstischen Alpträume kümmernder Beschränktheit; die Nebel jeglichen Wahnes fallen; vor dem freien, ernsten Gedanken, den der sittlich-selbstbewusste Mensch mit Andacht fasst und mit Gewissenhaftigkeit entwickelt, breitet sich die Welt mit allen ihren Zuständen und Verhältnissen, Fragen und Zweifeln, Hoffnungen und Befürchtungen aus, und über diesem Bilde schweben die schirmenden und tröstenden Genien des Menschenlebens: Freiheit, Recht und Wahrheit.

Was von dem Standpunkte solcher Betrachtung aus das Jahr 1840 den Blicken des Denkenden darbietet, soll diese Chronik treu und offen darlegen. Sie zieht alles in ihren Bereich was wirklich da ist: das in der Realität Bestehende also— das Stabile, wie die Publizisten sagen, obgleich mit Unrecht, wenn sie dm Ausdruck so deuten, als gäbe es über die Gegenwart hinaus etwas Bestehendes. Denn was gestern ein Werdendes war, ist heute ein Bestehendes, morgen schon ein Bestandenes. So fordert es der Grundsatz der Bewegung, von dem Alles auf Erden ausgeht, der Alles durchdringt, und in diesem unablässigen Fortschreiten das Leben der Einzelnen, der Volker, der Menschheit konstituiert. Wie der Mensch von heute nicht mehr der von gestern sein kann weil er lebt, d. h., fortschreitet, so kann er eben so wenig schon der von morgen sein, weil er den Fortschritt dahin noch nicht getan hat; aber auf dem Boden, den er gestern gewann, steht er heute, und was er heute gewinnt, wird auf morgen seine Arbeitsstätte sein. Eben so ist es mit den Völkern, mit der Menschheit. Was dem Einzelnen der Tag, ist dem Volke das Jahr, der Menschheit das Jahrhundert. So reiht an die Vergangenheit sich die Gegenwart, an diese sich die Zukunft; wer diese Kette von Momenten — ob auch nur in Gedanken — zerreißen will, stört das Leben und macht es krank: entweder revolutionierend, indem er die Gegenwart in die Zukunft drängt, oder reagierend, indem er sie in die Vergangenheit zurückwirft, oder stagnierend, indem er sie von den beiden Gliedern trennt — von dem Bestandenen und dem Werdenden, von ihrer Basis und ihrem Ziele. Diese drei Symptome aber sind der Tod. Wer — gleichviel ob Mensch, Volk oder Menschheit — kann die Vergangenheit abweisen? Die Gegenwart ist ihr Kind, sie selbst die Basis, der Grund des Baues. Wer kann die Zukunft ableugnen? Die Gegenwart ist ihre Mutter. Wer endlich sann die Gegenwart abreißen von Vergangenheit und Zukunft? In Chinas Zuständen steht ein Jahrhunderte lang fortgesetzter Versuch da — ohne Erfolg. Das Geschehene ist nicht ungeschehen zu machen, insofern es als Geistiges aus der Vergangenheit in die Gegenwart überging. Was würde es helfen, wenn man tun wollte, als hätten Luther, Friedrich II., Joseph II. und Napoleon nie gelebt und gewirkt! Was an ihrem Wollen und Wirken geistig gut war, ist ja die Erbschaft, aus der die Gegenwart ihren Reichtum schöpft. Was würde herauskommen wenn man mit dem, was an und von ihnen ihrer Gegenwart allein angehörte — mit ihren Formen und Zeitmaximen — die Welt von heute regieren wollte? Der Staub der Toten und Begrabenen, und würde er noch so sorgsam aufgerührt, noch so kunstreich gemischt, ist nichts als tötendes Miasma für die Lebendigen. Die Asche seiner Todten ehrt der sittliche Mensch am besten dadurch, dass er sie ruhen lässt; — darf das Geschlecht weniger thun? Was sich aber ergibt, wenn Menschenwahn in den Gang der Dinge vorwitzig eingreift, und die Zukunft zur Gegenwart umbauen will bevor die Stunde kommt wo sie es von selbst werden muss, das hat die Geschichte der letzten fünfzig Jahre an dem Beispiele Frankreichs, Italiens, Spaniens etc. schlagend genug hingestellt.

Von beiden Irrwegen will die Chronik ablenken. Indem sie die nächste Vergangenheit, d. h. das eben abgelaufene Jahr mit allen seinen Erscheinungen in staatlicher, wissenschaftlicher (die Kunst mit einbegriffen als plastisches Produkt der Wissenschaft), gewerblicher und geselliger Hinsicht darstellt, zeigt sie den unmittelbaren Zusammenhang des Bestandenen mit dem Bestehenden und zugleich die Anfänge des Werdenden aus dem was heute Bestehendes ist. Ihr Inhalt soll in einer Zeit, die noch nicht reif zu sein scheint für das lebendige Wort von Mund zu Munde in Rede und Gegenrede, dem geschriebenen Wort einen lebendigen Anteil, eine fruchtbringende Wirkung zu erzielen suchen, indem er das behandelt, was nicht dem klassischen, geistig-sittlichen Menschen allein, sondern auch dein gemütlich-sinnlichen Menschen das Bedeutendste, Interessanteste ist: das Leben der nächsten Vergangenheit, auf deren Boden er steht, von deren Resten er zehrt, an deren Steinen er baut, und an deren Fortschritten er sich erfreut. Es ist nicht wahr, was die Pietisten und Puritaner der Gegenwart sagen: „die Literatur des Tages sei nichts als ein ungeheurer vollgestopfter Salon voll Larven für den Totentanz; wie sie einst“ — meinen diese Reaktionäre — „als noch nicht Alles so altklug, dürrstudiert, philosophisch eingeschult und zugleich gemeinspekulierend war, das erwachsene Geschlecht mit den Kinderschuhen nicht auch den Menschen ausgezogen hatte, eine freie Tempelhalle gewesen sei.“

Weil ihre Predigten, Traktätlein, Lebens- und Himmelswege nach dem Muster des wüsten Mittelalters Niemand liest und lesen mag, darum schelten sie die Gegenwart ob ihrer souveränen Neigung sich zu belehren, zu unterrichten, zu unterhalten durch Lesen. „Wer liest?“ höhnen sie. „Alle Welt! das sagt genug. Warum liest sie? Ie nun, um Kritiken zu schreiben, oder um müßige Stunden auszufüllen, zur Abwechselung, der Langeweile wegen, oder — und das klingt groß und ist doch nichts dahinter — um sich wissenschaftlich zu beschäftigen. Fürwahr, eine schöne Wissenschaft, die nur von einem Tage zum andern vorhält, eine schöne Beschäftigung, die kein wurzelndes und wachsendes Resultat gibt — kein Leben ist, eine Agonie des Marasmus.“ Es ist ein Zeichen des egoistischen Stabilismus, der alle Welt auf der Stufe halten möchte von der aus er nicht weiter kann, dass er den Balken im eignen Auge unablässig zu Splittern für des Nächsten Auge verarbeitet. So tun auch die Schmäher auf den natürlichen Behelf der Gegenwart: zu lesen, weil sie nicht reden kann. Allerdings wird viel Schlechtes und Törichtes geschrieben; die Schriften der Reaktionärs wie der Revolutionärs und der Stagnationslobpreiser zeugen dafür. Was tut das? Predigen doch gottselige Schuster und Leinweber und Lämmleinsbrüder und Zeloten mildiglich oder kräftiglich wie sie meinen, aber töricht in der Tat; und die Religion und das Christentum sind doch lebendig und die Gottlehre der Liebe und Sitte wächst in den Menschen. Man liest nicht ihre Bücher, man geht nicht in ihre Kirchen, das ist Alles. Ebenso ist das schlechtgeschriebene Wort tot, und wird so gelesen; denn zu verstehen ist es nicht und zum Behalten taugt es nicht; es fehlt ihm Wahrheit und Klarheit, und vor Allem: die rechte Beziehung auf das Leben.

Anders wird es mit dieser Chronik sein. Sie gibt Erlebtes, eben noch Dagewesenes, noch in seinem Geistigen Fortwirkendes: Tatsachen von gestern, Bausteine für heute, Aussichten auf morgen. Das muss jedem willkommen sein, der nicht zu den Vegetierenden, Vergnüglingen und Rückstrebern gehört. Sie sucht Alles recht kurz, klar und verständlich zu geben; das wird ihr das Volk gewinnen, die rechte Mitte, ob es ar.ch den beiden Enden der Gesellschaft: der Ober- und Unterhefe, nicht gefalle. So will sie denn ihren Lauf beginnen. Aber warum denn mit dem Jahre 1840?

Ein an und für sich unwichtiges Moment, geschweige denn ein müßiges Jahr — das Volksmoment — gibt es im Weltleben eben so wenig, als im Dasein des Einzelnen. Wenn man indes vielfältig auf Menschen trifft, denen dies nicht klar ist, so liegt die Schuld daran lediglich in ihnen selbst, und sie erkennen und begreifen die Welt eben so wenig als sich. Aber wie Ein Moment, so ist auch Ein Jahr vor dem Andern. Die Zahl der Leiden und Freuden, der getäuschten oder erfüllten Hoffnungen und Wünsche, der Rück- und Vorschritte vom oder zum Ziele der Vollendung, entscheidet über den Wert der Zeit. Schon in solchem Betracht ist das Jahr 1840 ein höchst wichtiges; aber noch weit bedeutsamer stellt es sich uns dar in seinem Zusammenhange mit der Vergangenheit. Es bildet den Anfang einer neuen Zeitperiode; warum, das wird der Inhalt seiner Chronik zeigen. Hier kann nur gesagt werden, dass die Zeitperiode, die mit dem Ende des Jahres 1839 schließt, eben so eine hundertjährige gewesen, als die früheren seit der Reformation es waren, d. h. ein Säkularabschnitt, begrenzt von allen zerfallenden und neuerstehenden Ideen und Tatsachen in und für Welt und Zeit.

An die Spitze dieser Betrachtung ist die Frage gestellt worden: „Was brachte das geschiedene Jahr der Welt, den Völkern“.; was wird ihr, was diesen das neue bringen?“ Allerdings kann die Chronik des Jahres 1840 nur die erste Hälfte derselben vollständig beantworten; aber durch ein festes und ernstes Beschauen der Dinge, die, in demselben zur Geburt reifend, im nächsten Jahr an das Licht treten, kann sie manche einleitende und vorbereitende Andeutung auch in Bezug auf die letzte Hälfte geben. Sie wird dies um so gewissenhafter tun, als es ein Wunsch des Verfassers ist, die vielverkannte Wahrheit: „für den Menschen ist Größeres in der Welt als Er selbst,“ zur Geltung zu bringen, und seine Leser zu überzeugen, dass er das unbestreitbar einzige Ziel der menschlichen Gesellschaft: „Freiheit im Glauben, Wissen und Handeln,“ bei seinen Darstellungen und Betrachtungen unverrückt im Auge behalten habe.

An die Spitze dieser lässt er den Staat treten, d. h. den Staat wie er ist, und zwar aus folgendem Grunde:

Geschichte und Staat verhalten sich zu einander wie Entwicklung und Bestimmung; daher geht sowohl der Staat aus der Geschichte, als die weitere Geschichte, d. h. das sich fortspinnende Werden der Freiheit, wiederum aus dem Staate hervor. Der Staat ist also schon an sich geschichtliche Bewegung und Geschichte der Gegenwart. In ihm konzentriert sich alles, was der Mensch treibt und was ihn bewegt; aus ihm tritt im Erkennungsprozesse des menschlichen Geistes Alles hervor: die Idee, der Begriff, der Gedanke, die Tat, das Große wie das Kleine, das Wahre, wie das Irrige, das Bewusstsein wie der Wahn. In welchem Geistes- oder Geschäftskreise der Mensch sich bewege, aus dem Staate kann er nicht heraus, in dem Staate liegen alle Kräfte und Hebel seines Lebens; er ist an den Staat gebunden und der Staat an ihn. Mit Recht also steht dieser voran in der Reihe von Darstellungen, deren Zweck es ist, ein Bild des wirklichen, realen Menschen- und Menschheitslebens in einer bestimmten Gegenwart, d. h. hier, innerhalb der Zeit eines Jahres, zu geben.

An den Staat schließt sich zunächst die Wissenschaft. Ohne sie und ihre Resultate ist der Staat nicht denkbar; zu ihm gehört vor allen Dingen eine Nation, d. h. eine Gesamtheit von Denkenden, denn die Gedankenlosen stehen eigentlich außer ihr; die Nation aber schafft nur und erhält die Wissenschaft. Sie hat ihre Geschichte wie der Staat, sie ist ein Werdendes wie er; in der Wissenschaft ruht der Staatsbegriff, die Staatsrechtssphäre, der Staatsverstand, oder — wie man gewöhnlich sagt — die Staatsvernunft. Denn alles organische Menschenleben, also auch das Leben im Staate, setzt die Macht und Wirksamkeit sittlich-verständigen Denkens voraus.

Hierauf folgt das Gewerbe, d. h. der materielle Ertrag aus der Arbeit des Geistes. Die Basis, die Realität alles Staatslebens stützt sich auf die Regsamkeit des praktischen Verkehrs, auf die produktive Tätigkeit des Einzelnen; allein nicht überall ist die Beziehung aller solcher individuellen Anstrengung auf den Staat als Inbegriff der öffentlichen Gewalten dieselbe. Diese Differenz scheidet die Nationalbildungen auf das Bestimmteste. Darum ist die Kenntnis von dem Stand und Gange der Gewerbetätigkeit in allen Staaten so höchst belehrend; was übrigens erst selten ausgesprochen und von denen, die es am nächsten angeht — von den gewerbetätigen Bürgern und Landleuten, den eigentlichen Kernteilen der Nation — noch viel seltener erkannt und beherzigt worden ist. Nirgends ist die Kategorie einer Staatsregierung nach ihren Tendenzen leichter und sicherer zu unterscheiden, als mittelst der Art, wie sie sich zu dem Gewerbe im Staate verhält. Hier findet man individuelle Selbsttätigkeit, die sich frei nach allen Richtungen hin ausbreitet und dem freien Schaffungstriebe des Einzelnen heimgegeben ist; dort Systematisieren aller vereinzelten Tendenzen, positives Fördern von Seiten des Staats. Diese Zeichen festgehalten, ohne Illusion, und man wird sofort wissen, woran man mit Regierung und Volk ist. In dem einen Falle treten Regierung und Nation als gleich mündig, mit einander Eins und in reger Wechselwirkung und gegenseitiger Durchdringung gleichsam in einander aufgehend hervor; in dem andern steht eine allein mündige, protegierende, bevormundende und als solche alle Kraft und Intelligenz der unmündigen Nation auf Einen Zweck — auf den Staatszweck — gebieterisch hinlenkende Regierung da. In der Chronik des Jahres 1840 wird mehr als eine Probe von der Richtigkeit dieses Satzes zu finden sein.

Den letzten Hauptabschnitt gibt das Gesellschaftsleben. Die Sozialfragen werden von Jahr zu Jahr wichtiger, besonders weil sie die eigentliche Nachtseite unserer Zeit bilden. Diese Zeit ist die Zeit der Tatsachen; in der Erziehung der Jugend, in den Freuden und Leiden, in dem Ton und dem Takte der Gesellschaft sehn wir heute das Produkt und zugleich das Wesen der Tatsachen, welche die Zeit beherrschen. Wer diese mit Ernst und im Zusammenhange betrachtet, muss entweder gestehen, dass sie nicht rechter Art sind, oder ihre Exklusivität hat ihn selbst schon einseitig gemacht. Denn wie wäre sonst unserm sozialen Streben und Leben eine so trübselige Schattenseite aufgeprägt, die in tiefen Umrissen sogar dessen glänzende lustatmende und segenverheißende Kehrseite durchfurcht, und nachhaltig wie überwiegend bis zur absoluten Herrschaft, den schädlichen Eindruck erzeugt, den kein Denkender und Sittlicher mehr von sich abweisen kann. Die Tatsache, dass das soziale Treiben der Gegenwart fast überall mehr oder minder in, ein psychisch-unorganisches Pflanzenleben ausläuft, ist zur absoluten Herrschaft in der Zeit gekommen und dadurch zu einem Dämon geworden, dessen schrankenloses Walten den tiefsten und furchtbarsten Einfluss auf den gesamten Verkehr im Menschen- und Völkerleben übt, uns den Glauben, das Gefühl, die Begeisterung, die so rein humane Herzensfröhlichkeit raubt, und uns ohnmächtig zum Erklimmen der Höhe macht, auf welcher die echte Geselligkeit, die Beschützerin und Pflegerin aller wahrhaft menschlichen Güter und Tugenden thront und dem nach dem Göttlichen im Leben mit religiöser Treue ringenden Menschen den Siegerpreis spendet. Das traurigste Erzeugnis der allgebietenden Tatsache ist der blinde Egoismus, der jeden Kreis, in den er tritt, entweder zu seinem Sklaven macht oder auseinander treibt und verwirrt, das einseitige, rücksichtlose und gewaltsame Hervordrängen des Ichs, das sich überall zeigt wo eine Gemeinschaft für irgend einen sozialen Zweck zusammen tritt, und das Geltendmachen des mit dem Geiste nur flach verbundenen Materialismus, des goldnen Kalbes unserer Tage — göttlich verehrt, gläubig angebetet, mystisch verhüllt — und doch nichts als das tote Werkzeug eigener Selbstsucht. Diese Selbstsucht — nirgends so gebieterisch und aufdringlich als im Sozialleben — gebiert alle Hauptfrevel unserer Zeit: die Heimtücke, den Verrat, die Unsittlichkeit und jene furchtbare Heuchelei, die Religion, Kirche, Sitte, jede Tugend, alles Humane zu ihrem Deckmantel nimmt, um ihre selbstsüchtigen Zwecke zu gewinnen und auszubeuten. Die Kenntnis von dem, was in dieser weiten Beziehung sich überall auftut, und das Zeugnis, welches es selbst ablegt vor aller Welt im Guten wie im Bösen, ist wichtig und interessant genug, um einen Platz da zu verdienen, wo vom Welt, und Menschenleben in dessen allseitiger Bedeutung die Rede ist. Hier wie überall wird die einfache Aufzählung und Hinstellung sozialer Tatsachen deutlicher zu den Gesinnungen und Gewissen reden, als die trefflichste Doktrin es zu tun vermag.

Für Schriften der Art, wie diese Chronik sein soll, gibt es nur einen Grundsatz: den des Fortschritts, nur eine Tendenz: die konservative, d. h. diejenige, welche das Bestehende auf das unsterbliche Geistige in dem Bestandenen baut und diesen Bau gewissenhaft hegt, bis er nach der Uhr der Zeit und dem Laufe der Dinge zusammenbricht und seine festen Bausteine wieder hergibt zu neuem Werk, dessen Baumeister niemand anders ist noch sein kann als — der Geist der Zeit. In diesem Begriffe des Konservativen liegt alles was der sittliche, denkende Mensch braucht: der Humanismus, der Patriotismus, das Recht, die Freiheit. Zur Tatsache wird er im Welt- und Völkerleben wie im Leben der Familie und des Einzelnen. Wo er Widerstand findet, da schlägt er: darin liegt die Ursache aller Krisen. Diese soll die Chronik darstellen in ihrem Entstehen, Fortgang und Ende. Kann sie anders als konservativ sein?

Und wenn der denkende Leser am Schlusse des Jahresberichts noch einmal den durchlaufenen Kreis überschaut; was wird er finden, was wird vor seinen Augen stehen? Das alte Schicksal alles Irdischen: Knospen, Blühen, Welken, Vergehen. Aber bei dem Rückblick auf das Vergangene wird er erkennen, wie des Guten viel gefördert, das Bessere dem Schlechtern weit überlegen, der Geist mächtig, und der Ungeist — wie keck er sich brüste — seinem ewigen Schicksale, dem Unterliegen, näher gekommen ist auch in diesem Jahr. So wollen wir nicht ohne Hoffnung — selbst für der Erde dunkelste Stätten wie für der Menschheit festeste Kerker und schwerste Ketten — den Schauplatz betreten. Nur Eines verleihe der Weltgeist — Friede auf Erden!

Friedrich II. (1712-1786) genannt der Große

Friedrich II. (1712-1786) genannt der Große

Martin Luther als Mönch. Holzschnitt von Lukas Cranach

Martin Luther als Mönch. Holzschnitt von Lukas Cranach

Bildnis Napoleons von Pagnest 1813.

Bildnis Napoleons von Pagnest 1813.