Frankreichs Zustand am Schlusse des Jahres 1839

Um Frankreichs Zustand am Schlusse des Jahres 1839 zu bezeichnen, braucht es nur eines Blickes auf die Kammern, deren neue Session König Lonis Philipp am 23sten Dezember mit der gewöhnlichen Thronrede, die viel durchblicken lässt und nichts sagt, eröffnet hat. Von der Pairskammer ist wenig zu reden; doch scheint sie ihrer seitherigen Passivität müde, die sie zum Gespött der Presse gemacht hat, und Willens zu sein, das regierende Prinzip überall da wirken zu lassen, wo die Deputiertenkammer dem Grundsatze des Juste-milieu irgend untreu werden sollte. Anders steht es mit dieser Kammer; sie repräsentiert wirklich das französische Volk, d. h, die eitle, ehrgeizige und geldsüchtige, leicht erregbare und wetterwendische Nation, die heute in patriotischen, morgen in kosmopolitischen Träumen lebt, und beim Erwachen allemal abgespannt und missmutig sich fühlt, Alles sein will und zuletzt Nichts ist, stets von ihren Institutionen und Interessen spricht und weder jene noch diese kennt: die Nation, die sich frei dünkt und nicht ruhen kann bis sie einen Zwingherrn hat, die in ihre wahrhaft schönen Fakultäten verliebt ist und sie fast immer zu eigenem Nachteile gebraucht. Dass es viele Franzosen gibt, die nicht zu dieser Nation gehören, ändert nichts. Hat doch die Minorität — weil sie sich als Nation proklamierte, die Revolution von 1789 und die von 1830 gemacht, die Republik, das Kaiserreich, das Königtum des heiligen Ludwig und den Thron mit republikanischen Institutionen umgeben, aufgerichtet und gehalten und hält den letzten noch, so lang es ging und geht!

Die Deputiertenkammer eröffnet ihre Session diesmal unter sehr traurigen Auspizien: im Innern der Giftwurm der Faktionen, von denen die Einen an dem Umsturze des neuen Thrones, die andern an stetem Ministerwechsel arbeiten. Jene sind: die Republikaner, die Legitimisten, die Bonapartisten; diese: die uneinigen Glieder der Opposition, die unruhigen Geister in der Kammer, die Nimmersatten an Ehr' und Gold, kurz: die Kandidaten für alle Stellen, vom Premierminister bis zum letzten Bürochef oder Legationssekretär. Die Republikaner haben von direkten Volksaufständen nichts mehr zu erwarten; das Mittel ist bis zur Hefe verbraucht. Aber sie fahren fort, den Handwerker durch und durch zu fanatisieren, ie länger, desto gefährlicher; das unablässige Fortschreiten des Pauperismus arbeitet ihnen in die Hände; sie finden ihre Stärke im Pöbel, und der mehrt sich natürlich am meisten da, wo man an die Stelle der lebendigen Menschenkraft rücksichtslos — wie in England und Frankreich — tote Naturkräfte setzt, also die Masse, deren einziges Kapital Arbeit ist, täglich ärmer macht. Sie lockern also das Staatsgebäude von unten auf.


Die Legitimisien — politisch tot — hören dennoch nicht auf zu schreien und der Regierung Steine und Knittel zwischen die Räder der Maschine zu werfen. Nicht bedeutender such die Bonapartisten; sie können höchstens zu Vorwänden dienen, um unter, dem Militär einiges Unheil zu stiften. Ihre so eben entdeckte Verschwörung ist durch die Person des Haupträdelsführers — Crony-Chanel — höchst subalterner Natur. Er ist bekannt als ein Industrieritter im Großen, einer der Fabrikanten der Guebhardschen Anleihe während der Restauration: ein Mann, dem Niemand in Frankreich irgend eine politische Gesinnung zutraut. Wenn man aber auch über seine Konspiration die Achseln zuckt, so ist doch der Name des Prinzen Louis Napoleon glücklich wieder in das Publikum gebracht, und das genügt; daran lässt sich bei Frankreichs Zuständen allerlei anknüpfen. Überhaupt besteht die eigentliche Kraft und Kunst aller drei Parteien darin, die Tagespresse in Bewegung zu setzen, und das ist um so bedeutender, als in Frankreich der lauteste Sprecher und der rücksichtloseste Schreiber immer recht haben. Die Tribünenredner, vorzüglich aber die unablässig sich fortpflanzenden Kritiker sind es, die dem Lande fast unmöglich machen eine gute Administration zu besitzen; alle Verwaltungsbeamte, im beständigen Wechsel ihrer Stellen lebend, sind — mehr oder minder — höchst mittelmäßige Kreaturen der Deputaten und Minister, und man sollte meinen, sie wären bloß des Wahlgesetzes wegen da. Eben so ist der auf die lächerlichste Spitze getriebene, an und für sich unmächtige, aber Alles durcheinander rüttelnde Oppositionsgeist ein wahres Hindernis für eine große durchgeführte Politik nach Außen. Dies tritt namentlich jetzt in der Stellung Frankreichs zu den übrigen Großmächten in der orientalischen Frage hervor. Frankreich, die gewaltige Macht, die sich eines souveränen Einflusses auf die Weltgeschicke so laut rühmt, ist auf den Punkt gelangt, entweder ihren Schützling Mehemed-Ali aufgeben oder aus der Zahl der hoffnungsreichen Krankenwärter am Sterbebette der europäischen Türkei scheiden zu müssen. Dazu kommt noch die stete heimliche Reibung zwischen dem König, der — was sich als höchst notwendig herausstellt — nicht bloß herrschen, sondern auch regieren will, und der Deputiertenkammer, die ihm ihre Minister zu Kuratoren setzen möchte, und das wird genügen um ein ungefähres Bild der Halt- und Charakterlosigkeit des Ganzen zu gewinnen: sowohl im Innern als nach Außen, wo noch, in Bezug auf letzteres, der bloß gemein interessierte Geist aller Journale hinzutritt: der erkauften, platten, ministeriellen, wie der unerkauften, mehr oder minder faktiosen, und die stete Persiflage einer Menge von kleinen Journalen. Bei solchem Wirrsal, sollte man meinen, wäre Einheit und Festigkeit der Gesinnung nach keiner Richtung hin möglich. Dem ist aber nicht also.

Grade das Moment, das mit dem Jahre 1840 in dem Weltleben sich zeigt und Anfangspunkt eines neuen Zeitabschnittes zu werden verspricht, drückt dem öffentlichen Gefühle des französischen Volkes einen Stempel höheren Ernstes auf. Es ist dies die Überzeugung, dass die europäischen Konflikte im Betreff des Orients über kurz oder lang immer entschiedener an einander geraten werden, dass das englisch-französische Allianzsystem Talleyrands seiner Auflösung nahe ist, dass Frankreich mehr oder minder allein sieht, und in Ermangelung einer großartigen und selbstständigen Politik im Orient eine Propagandapolitik mit der Zeit als die ihm eingeborne aus dem dortigen Wirrsal hervorgehen werde; wo dann Frankreich - da die Einflüsse Englands und Russlands nur politisch, nicht aber moralisch sind und sein können - als großes Land, und die Nation als große Nation, als wahre und ächte Trägerin und Beleberin der meisten europäischen Interessen sich an die Spitze stellen müsse, weil offenbar Frankreich wie Europa in der Tat nur zu retten sind durch eine wohlbedachte Beschäftigung aller Interessen nach Innen und Außen. Ein Zeichen dafür, dass dies empfunden werde, ist neben den Sympathien für die Vollendung der Besitznahme und Kolonisation des okkupieren Teils der nordafrikanischen Küste das Gefühl für die Marine, das seit der Revolutionszeit gleichsam tot war. Wie wichtig aber dieser Punkt für Frankreichs Prosperität ist, zeigt Englands unverhehlter Verdruss über die neue Richtung des Rationalgefühls, und das Aufhören des stereotyp gewordenen Frohlockens der britischen Tagespresse über die Wichtigkeit, welche seither Frankreich seinen Ministerkämpfen und den Emeuten gab. Leider ist zu befürchten, dass bei der gegenwärtigen Stimmung der Deputiertenkammer und dem regen Zwiespalt im Ministerkonseil selbst an einer nahen Wiederholung des Portefeuillenwechsels kaum zu zweifeln ist, und jene Nationalsympathien eines festen Stützpunktes noch lange werden entbehren müssen, besonders da von den politischen Feinden Frankreichs nicht versäumt werden dürfte, um zu hindern, dass das Reich in sich Eins werde, denn alsdann würde selbst völlig Louis Philipp genötigt sein, dem Impulse des öffentlichen Geistes zu folgen und seine gut einstudierte und bis jetzt trefflich durchgeführte wohltätige Rolle des - Napoleon des Friedens aufzugeben. Einen nicht unbedeutenden Gewinn für die Sicherung seiner Dynastie hat ihm der letzte Tag des Jahres 1839 gebracht. Der Erzbischof von Paris, Hyazinth Ludwig de Quélen (1778-1839), der Stützpunkt der carlistischen Geistlichkeit gegen die Julius-Dynastie, starb an diesem Tage.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Chronik des neunzehnten Jahrhunderts - 1840