Russland, der europäisch-asiatische Koloss
Russland, der europäisch-asiatische Koloss, und eben darum weder hier noch dort an der Spitze; politisch groß aber sittlich klein ; in seinen Theorien auf der Stufe der Zeit und in seiner Praxis an den Meilenzeiger des letzten Jahrhunderts gefesselt; vorwärts betrieben von seinem genialen Kaiser festgehalten von einem altrussisch-stabilen Senate: steht eben so gewiss als England und Frankreich auf der Schwelle zum Eintritt in eine neue Zeit. Es ist des Kaisers Wille, die seinem weiten Reich inwohnenden Kräfte mehr auf intensives als auf extensives Wachstum, mehr auf feste Gestaltung und lebendige Entwicklung im Innern als auf maßlose Ausdehnung zu richten und zu verwenden; was ihm in Hinsicht der materiellen Interessen auch gelingt, besonders seitdem er die grundbesitzende Aristokratie vielfach an dieselben gebunden hat, und — indem er das europäische Russland zu einem Fabrikstaat umzuschaffen sich unterwunden — jenseits der Grenzen des asiatischen Russlands die Absatzwege für den Welthandel sucht, an dem er sein Teil mit Recht begehrt.
Was er aber nicht überwinden kann, das ist die Unsittlichkeit und Untreue in der Verwaltung — das herkömmliche Recht oder vielmehr Unrecht der Zivil- und Militärbeamten: von allem was der Kaiser in ihre Hände legt oder durch ihre Hände gehen lässt, ein Löwenanteil für sich bei Seite zu legen. Die zahlreichen strengen Beispiele, die er fortwährend ohne Ansehen der Person an Solchen statuiert, die auf der Tat ertappt werden, vermögen nichts gegen das Prinzip; ob der Ungetreue falle, die Untreue bleibt: sie ist Nationalität, aristokratisches Herkommen. Das hemmt Vieles, namentlich den sittlichen Fortschritt. Russlands demnach eigentümlicher Standpunkt im Staatensysteme macht es natürlich, dass der Kaiser und sein Kabinett manches Europäische anders ansehen als es dem übrigen Europa erscheint; man darf nur an die Unterschiede denken, die in der Zusammensetzung, in der Verschiedenheit der Bildungsstufen, im Bildungsgange, selbst in den Geschichten dieser ungeheuren Länder- und Völkermasse im Vergleich zu den übrigen Hauptstaaten Europas liegen, die den größten Teil dessen längst überstanden haben, was in Russland erst noch durchzumachen und durchzuleben ist: die Stufenfolge der Krisen nämlich, aus denen die religiöse, politische und National-Einheit hervorgehen, und die Gährung, die dort noch so Vieles auswerfen muss, was anderswo schon das Mittelalter getan hat. Denn ein Mittelalter in europäisch-christlichem Sinne hat Russland nicht gehabt; es gehört erst seit Peter I. zu Europa und dessen Systeme. Hieraus erklärt sich Manches, namentlich die jetzt recht hervortretende Erscheinung, dass Russland so strenge diese und jene europäische Einflüsse und Einfuhren von sich abweist, von denen die einseitigen Bewegungstheoretiker, die nicht etwa den gemessenen Fortschritt, sondern ein ungemessenes Fortrennen wollen, unbedingt glauben, dass sie einen jungen bildungsfähigen, wie bildungswilligen Reiche nur willkommen, ja dessen höchste Wohltat sein müsste.
Der staatlichen Entwickelung Russlands ist das nationale Element durchaus notwendig; der Koloss ist eine Herrschaft, eine Macht, aber kein Staat, die Bevölkerung kein Volk; die Naturwüchsigkeit dominiert, über halbkultivierte und unkultivierte Volkstämme müssen Kaiser und Senat Tutel führen, sie zum Teil noch zur Menschwerdung erziehen. Dazu haben die früheren Kulturversuche durch Heranziehung und Begünstigung fremder Talente sich zu verwirrend und zersplitternd erwiesen, als dass sie hätten fortgesetzt werden können, und es ist keins der kleinsten Verdienste des Kaisers Nikolaus, dass er einem Unwesen gesteuert hat, welches Russland entnationalisiert haben würde, da es doch offenbar bestimmt ist, in dem europäischen Teile ein Zentralpunkt für das zersplitterte Slawentum zu werden, während es in Asien noch ein Jahrhundert lang zu kolonisieren, und dann von einer Weltbegebenheit zu erwarten hat, welcher nationale Typus sich dort herausstellen werde. Um dieser Zukunft willen ist es notwendig von Innen heraus zu organisieren, die Kräfte zur Entwicklung zu bringen, zu mehren, zu konsolidieren, besonders aber zu verhindern, dass die Impulse des Wachstums und Wohlseins nicht von Außen kommen. Das hat Russlands Herrscher klar erkannt; darum will er - ohne irgend etwas praktisch Tüchtiges vom Anhand abzuweisen - dass der Bildungsgang der mannigfachen Völkerschaften von fremden Ideen und Theorien ungestört bleibe, die ohnehin keine allgemeine Geltung, also auch keinen nationalen Wert da gewinnen können, wo der religiöse, sittliche und politische Sammelpunkt noch fehlt, das Zentrum, der Schwerpunkt für das Ganze noch nicht im Objekte - im Staate - sondern lediglich im Subjekte - in des Kaisers Person - liegt.
Aber eben weil das Kabinett von St. Petersburg dies klar erkennt und folgerecht festhält, kann die Tendenz der Regierung gegen das übrige Europa nur friedlich, versöhnend, ausgleichend sein; selbst gegen diejenigen Großmächte, deren politische und kommerzielle Richtungen den russischen Interessen feindlich sind, beobachtet es eine Schonung und eine Nachgiebigkeit, die unbegreiflich sein würde, wenn sie nicht in der klugen Selbstbeschränkung Russlands bei anderseits konsequentem Anstreben eines seit langer Zeit unverwandt angeschauten Zieles ihre Erklärung und Rechtfertigung fänden. Russland wünscht - sehnlicher vielleicht als irgend eine andere europäische Großmacht - eine feste Organisation des Weltteils, vor Allem Deutschlands, das ihm - zwischen dem Norden und dem Süden, dem Osten und dem Westen auf konservativer Basis stehend - als Behüter des Friedens auf dem Kontinente, im Notfall als Bundsgenosse bei Krisen, um so mehr wert ist, als es sich, zur wirklichen Zentral- Großmacht Europas konstituiert, nach allen Seiten hin selbstständig verteidigen kann. Russland begehrt allerdings einen starken Einfluss auf Europa, eine politische Bedeutung, wie die Größe seiner Mittel, seine Stellung im System und die Notwendigkeit seines Aufstrebens zu einer welthistorischen Wichtigkeit sie zu fordern berechtigt sind. Aber als erobernde Macht auf germanischem oder romanischem Boden aufzutreten, daran denkt weder der Kaiser noch der Senat; beide wissen wohl, dass des Slawentums naturgemäße Richtung gen Osten und nirgends anders hingehen darf, wenn dessen kaum begonnene Regeneration nicht im Keime vernichtet werden soll. Nicht die Ohnmacht, die Zerrissenheit, nur die Kraft, die Einheit einer Nation wirkt anregend und fördernd auf die andern Völker ein; so lehrt die Geschichte in zahlreichen Beispielen aus jeder Zeit. Gleich den Einzelnen bedürfen die Massen einerseits der Anregung, der Aufforderung zur Wachsamkeit, zur Beachtung ihres Selbst, zur Hebung ihrer Kräfte, andererseits des Beispiels für die Entwicklung des geistigen Lebens, der Vorbilder für die wahre Zivilisation, wie sie in der Befriedigung durch Religion, Wissenschaft, Kunst und den Rechtszustand sich darstellt, der eine vernunftgemäße Freiheit der Individuen, d. h. deren Bewusstsein freiwilliger Unterwerfung unter das Gesetz der Vernunft, allein begründen kann. In solcher Wechselwirkung steht gegenwärtig schon Russland mit Deutschland. Die nächsten Weltbegebenheiten dürften wohl diesen Zustand noch klarer herausstellen; grade jetzt ist der Kaiser Nicolaus im Begriff einen bedeutsamen Schritt gegen das Ziel zu tun.
Was aber ist Russlands Ziel? Was der Zweck seiner gewaltigen Rüstungen, während es an den europäischen Höfen fortwährend unterhandelt, überall dabei ist, und immer ausgleichend, versöhnend? Warum ignoriert es, so zu sagen, sein vertragsgemäßes teuer erkauftes Schutzrecht über die halt- und ratlose Pforte, um den andern Großmächten ihren Anteil zu belassen an dem so diplomatisch-prunkvoll betriebenen Versöhnungswerke zwischen dem Sultan, als anerkannt europäischem Souverain und seinem aufrührerischen Vasallen in Ägypten und Syrien? Ganz allein um unterdes festen Fuß zu gewinnen auf der Grenze Mittelasiens, um von dort aus sich Handelswege zu bahnen, und auf solchen Wegen des Verkehrs den bisher unerschöpflichen Weltteil auszubeuten. Wie rasch und umsichtvoll — von England und Frankreich, die beide dasselbe und keinen Dritten in diesem Bunde feindlicher Brüder wollen, eifersüchtig beobachtet, heimlich gehindert — es jeden Anlass zum Fortschreiten auf dieser Bahn zu benutzen weiß; davon zeugt die Expedition von Orenburg durch die Steppe der Kirgis-Kaisaken nach Chiwa, dem fruchtbaren Grenzlande gegen Persien, Bochara und den kaspischen See. Fragt man, mit welchem Rechte Russland diesen Schritt tut? so liegt die Antwort in Englands Übergang über den Indus, in dem Zuge nach Kabul, in der britischen Eroberung von Ghizni in Afghanistan: eine Waffentat, die alle mittelasiatischen Völker erschüttert und in Bewegung gebracht hat. Die Uzbeken, die Turkmannen, die Kurden, die von Bochara und Chiwa sind voll Hoffnungen, Anschläge und Unruhe, und die allgemeine Richtung alles Desartigen geht wider Russland, dem der Hass, die Kühnheit und Gefährlichkeit dieser kriegerischen und raubsüchtigen Reiterstämme schon in manchem Kampfe kund worden ist. Aber wie Russland im Norden, so besteht im Süden Englands große zwar, doch namentlich in jenen Regionen - unbefestigte und von gleichem nationalem und religiösem Hasse verfolgte Macht. Grade dort ist deren schwächste Site, darin aber liegt für Russland die Notwendigkeit, dem ihm ungünstigen Eindrucke der Vorfälle in Afghanistan, in deren Folge es seine Pläne vereitelt sah, seine Schützlinge flüchten oder den Briten sich unterwerfen mussten, eine Tat und einen Erfolg seiner selbstständigen und in der Nähe bereiten Macht entgegen zu selben, und so das dort bedenklich erschütterte Gleichgewicht britischen und russischen Einflusses wieder herzustellen. Als Vorwand reichen die Gewalttätigkeiten des Chans von Chiwa eben so gut aus, als bei den Engländern die Usurpation Dost Mohameds von Kabul und die Notwendigkeit der Wiedereinsetzung des vertriebenen Schah Schudscha. Mit diesem geschickten und wahrscheinlich auch sichern Schritte gewinnt Russland wieder in Asien, was Englands Schlauheit ihm abgewonnen, und paralysiert zugleich Frankreichs Versuche, von Alexandrien über den Isthmus von Suez, durch Arabien nach Bagdad und Teheran hin, dem Einflusse Englands und Russlands einen dritten: den eignen Einfluss, an die Seite zu setzen; während ein gewandter Diplomat das Kabinett von London und nebenbei auch die der übrigen Großmächte mit Vorschlägen über die Angelegenheit der Pforte beschäftigt, auch die Publizistik durch das zierliche Jesuitenbuch „die europäische Pentarchie“ mit allerlei merkwürdigen Projekten unterhalten wird, damit die Aufmerksamkeit von dem was ist ab und auf das hingeleitet werde, was allenfalls sein könnte.
So steht am Schlusse des Jahres 1839 der Konflikt der drei genannten Großmächte, mit einer Aussicht auf ein Zusammentreffen von England und Russland auf erster Linie, mit einer andern auf ein Zusammentreffen beider Mächte mit Frankreich zu Konstantinopel auf zweiter, und einer dritten - der entscheidenden - auf einen allgemeinen europäischen Krieg, hervorgebracht durch das bezeichnete Verhältnis der Mächte zu einander, die schwerlich ihre Kämpfe anderswo ausfechten werden, als da, wo noch jeder Weltkampf entschieden worden ist: auf dem europäischen Kontinente. Dagegen dürften jedoch - Österreich und Preußen an der Spitze — die übrigen Mächte Europas protestieren, und den streitigen Parteien, statt — wie sonst wohl geschehen — sich vor ihrem Unterfangen zu bekreuzigen, auf deren Vorgeben von „gestörtem europäischem Gleichgewicht“ Folgendes antworten:
„Ein reales politisches Gleichgewicht hat, so lang es Geschichte gibt, niemals existiert; der Sinn des idealen Gleichgewichts, das mit dem Austritte der Zeit aus dem Mittelalter zum Stichwort für die Diplomatie geworden, wenn sie nichts weiter vorzubringen wusste oder um Beweise für ihr Tun verlegen war, ist kein anderes als: eine fortwährende Opposition gegen weltherrschende Tendenzen zu bilden. Von der Priorität zur Suprematie ist keine Grenze abgesteckt; wer die erste hat — und England und Russland haben sie und Frankreich reklamiert sie —, strebt von selbst nach der letzten. Also ist die Frage für uns die: mit welchem Rechte soll in Europa gefochten werden um Interessen, die in Asien liegen, mindestens auf der äußersten Ostgrenze Europas?“ Hier sind zugleich mit den Kriegsmächten auch die Friedensmächte gegeben; ob jene den in London, im mittelländischen Meer, in Konstantinopel, an den Südufern des kaspischen Sees und an den Oxusmündungen sich schürzenden Knoten mit dem Schwerte zerhauen, oder diese ihn mit dem Wort und der Feder lösen sollen; das liegt in Aussicht. Jedenfalls kündigt sich das Jahr 1840 auch in solchem Betrachte bedeutungsvoll genug an, und eben darum erscheint es notwendig, hier die beiden andern Großmächte bis zur Grenze dieses Jahres zu führen, und zwar in eben der Weise, als dies mit den drei genannten geschehen ist.
Was er aber nicht überwinden kann, das ist die Unsittlichkeit und Untreue in der Verwaltung — das herkömmliche Recht oder vielmehr Unrecht der Zivil- und Militärbeamten: von allem was der Kaiser in ihre Hände legt oder durch ihre Hände gehen lässt, ein Löwenanteil für sich bei Seite zu legen. Die zahlreichen strengen Beispiele, die er fortwährend ohne Ansehen der Person an Solchen statuiert, die auf der Tat ertappt werden, vermögen nichts gegen das Prinzip; ob der Ungetreue falle, die Untreue bleibt: sie ist Nationalität, aristokratisches Herkommen. Das hemmt Vieles, namentlich den sittlichen Fortschritt. Russlands demnach eigentümlicher Standpunkt im Staatensysteme macht es natürlich, dass der Kaiser und sein Kabinett manches Europäische anders ansehen als es dem übrigen Europa erscheint; man darf nur an die Unterschiede denken, die in der Zusammensetzung, in der Verschiedenheit der Bildungsstufen, im Bildungsgange, selbst in den Geschichten dieser ungeheuren Länder- und Völkermasse im Vergleich zu den übrigen Hauptstaaten Europas liegen, die den größten Teil dessen längst überstanden haben, was in Russland erst noch durchzumachen und durchzuleben ist: die Stufenfolge der Krisen nämlich, aus denen die religiöse, politische und National-Einheit hervorgehen, und die Gährung, die dort noch so Vieles auswerfen muss, was anderswo schon das Mittelalter getan hat. Denn ein Mittelalter in europäisch-christlichem Sinne hat Russland nicht gehabt; es gehört erst seit Peter I. zu Europa und dessen Systeme. Hieraus erklärt sich Manches, namentlich die jetzt recht hervortretende Erscheinung, dass Russland so strenge diese und jene europäische Einflüsse und Einfuhren von sich abweist, von denen die einseitigen Bewegungstheoretiker, die nicht etwa den gemessenen Fortschritt, sondern ein ungemessenes Fortrennen wollen, unbedingt glauben, dass sie einen jungen bildungsfähigen, wie bildungswilligen Reiche nur willkommen, ja dessen höchste Wohltat sein müsste.
Der staatlichen Entwickelung Russlands ist das nationale Element durchaus notwendig; der Koloss ist eine Herrschaft, eine Macht, aber kein Staat, die Bevölkerung kein Volk; die Naturwüchsigkeit dominiert, über halbkultivierte und unkultivierte Volkstämme müssen Kaiser und Senat Tutel führen, sie zum Teil noch zur Menschwerdung erziehen. Dazu haben die früheren Kulturversuche durch Heranziehung und Begünstigung fremder Talente sich zu verwirrend und zersplitternd erwiesen, als dass sie hätten fortgesetzt werden können, und es ist keins der kleinsten Verdienste des Kaisers Nikolaus, dass er einem Unwesen gesteuert hat, welches Russland entnationalisiert haben würde, da es doch offenbar bestimmt ist, in dem europäischen Teile ein Zentralpunkt für das zersplitterte Slawentum zu werden, während es in Asien noch ein Jahrhundert lang zu kolonisieren, und dann von einer Weltbegebenheit zu erwarten hat, welcher nationale Typus sich dort herausstellen werde. Um dieser Zukunft willen ist es notwendig von Innen heraus zu organisieren, die Kräfte zur Entwicklung zu bringen, zu mehren, zu konsolidieren, besonders aber zu verhindern, dass die Impulse des Wachstums und Wohlseins nicht von Außen kommen. Das hat Russlands Herrscher klar erkannt; darum will er - ohne irgend etwas praktisch Tüchtiges vom Anhand abzuweisen - dass der Bildungsgang der mannigfachen Völkerschaften von fremden Ideen und Theorien ungestört bleibe, die ohnehin keine allgemeine Geltung, also auch keinen nationalen Wert da gewinnen können, wo der religiöse, sittliche und politische Sammelpunkt noch fehlt, das Zentrum, der Schwerpunkt für das Ganze noch nicht im Objekte - im Staate - sondern lediglich im Subjekte - in des Kaisers Person - liegt.
Aber eben weil das Kabinett von St. Petersburg dies klar erkennt und folgerecht festhält, kann die Tendenz der Regierung gegen das übrige Europa nur friedlich, versöhnend, ausgleichend sein; selbst gegen diejenigen Großmächte, deren politische und kommerzielle Richtungen den russischen Interessen feindlich sind, beobachtet es eine Schonung und eine Nachgiebigkeit, die unbegreiflich sein würde, wenn sie nicht in der klugen Selbstbeschränkung Russlands bei anderseits konsequentem Anstreben eines seit langer Zeit unverwandt angeschauten Zieles ihre Erklärung und Rechtfertigung fänden. Russland wünscht - sehnlicher vielleicht als irgend eine andere europäische Großmacht - eine feste Organisation des Weltteils, vor Allem Deutschlands, das ihm - zwischen dem Norden und dem Süden, dem Osten und dem Westen auf konservativer Basis stehend - als Behüter des Friedens auf dem Kontinente, im Notfall als Bundsgenosse bei Krisen, um so mehr wert ist, als es sich, zur wirklichen Zentral- Großmacht Europas konstituiert, nach allen Seiten hin selbstständig verteidigen kann. Russland begehrt allerdings einen starken Einfluss auf Europa, eine politische Bedeutung, wie die Größe seiner Mittel, seine Stellung im System und die Notwendigkeit seines Aufstrebens zu einer welthistorischen Wichtigkeit sie zu fordern berechtigt sind. Aber als erobernde Macht auf germanischem oder romanischem Boden aufzutreten, daran denkt weder der Kaiser noch der Senat; beide wissen wohl, dass des Slawentums naturgemäße Richtung gen Osten und nirgends anders hingehen darf, wenn dessen kaum begonnene Regeneration nicht im Keime vernichtet werden soll. Nicht die Ohnmacht, die Zerrissenheit, nur die Kraft, die Einheit einer Nation wirkt anregend und fördernd auf die andern Völker ein; so lehrt die Geschichte in zahlreichen Beispielen aus jeder Zeit. Gleich den Einzelnen bedürfen die Massen einerseits der Anregung, der Aufforderung zur Wachsamkeit, zur Beachtung ihres Selbst, zur Hebung ihrer Kräfte, andererseits des Beispiels für die Entwicklung des geistigen Lebens, der Vorbilder für die wahre Zivilisation, wie sie in der Befriedigung durch Religion, Wissenschaft, Kunst und den Rechtszustand sich darstellt, der eine vernunftgemäße Freiheit der Individuen, d. h. deren Bewusstsein freiwilliger Unterwerfung unter das Gesetz der Vernunft, allein begründen kann. In solcher Wechselwirkung steht gegenwärtig schon Russland mit Deutschland. Die nächsten Weltbegebenheiten dürften wohl diesen Zustand noch klarer herausstellen; grade jetzt ist der Kaiser Nicolaus im Begriff einen bedeutsamen Schritt gegen das Ziel zu tun.
Was aber ist Russlands Ziel? Was der Zweck seiner gewaltigen Rüstungen, während es an den europäischen Höfen fortwährend unterhandelt, überall dabei ist, und immer ausgleichend, versöhnend? Warum ignoriert es, so zu sagen, sein vertragsgemäßes teuer erkauftes Schutzrecht über die halt- und ratlose Pforte, um den andern Großmächten ihren Anteil zu belassen an dem so diplomatisch-prunkvoll betriebenen Versöhnungswerke zwischen dem Sultan, als anerkannt europäischem Souverain und seinem aufrührerischen Vasallen in Ägypten und Syrien? Ganz allein um unterdes festen Fuß zu gewinnen auf der Grenze Mittelasiens, um von dort aus sich Handelswege zu bahnen, und auf solchen Wegen des Verkehrs den bisher unerschöpflichen Weltteil auszubeuten. Wie rasch und umsichtvoll — von England und Frankreich, die beide dasselbe und keinen Dritten in diesem Bunde feindlicher Brüder wollen, eifersüchtig beobachtet, heimlich gehindert — es jeden Anlass zum Fortschreiten auf dieser Bahn zu benutzen weiß; davon zeugt die Expedition von Orenburg durch die Steppe der Kirgis-Kaisaken nach Chiwa, dem fruchtbaren Grenzlande gegen Persien, Bochara und den kaspischen See. Fragt man, mit welchem Rechte Russland diesen Schritt tut? so liegt die Antwort in Englands Übergang über den Indus, in dem Zuge nach Kabul, in der britischen Eroberung von Ghizni in Afghanistan: eine Waffentat, die alle mittelasiatischen Völker erschüttert und in Bewegung gebracht hat. Die Uzbeken, die Turkmannen, die Kurden, die von Bochara und Chiwa sind voll Hoffnungen, Anschläge und Unruhe, und die allgemeine Richtung alles Desartigen geht wider Russland, dem der Hass, die Kühnheit und Gefährlichkeit dieser kriegerischen und raubsüchtigen Reiterstämme schon in manchem Kampfe kund worden ist. Aber wie Russland im Norden, so besteht im Süden Englands große zwar, doch namentlich in jenen Regionen - unbefestigte und von gleichem nationalem und religiösem Hasse verfolgte Macht. Grade dort ist deren schwächste Site, darin aber liegt für Russland die Notwendigkeit, dem ihm ungünstigen Eindrucke der Vorfälle in Afghanistan, in deren Folge es seine Pläne vereitelt sah, seine Schützlinge flüchten oder den Briten sich unterwerfen mussten, eine Tat und einen Erfolg seiner selbstständigen und in der Nähe bereiten Macht entgegen zu selben, und so das dort bedenklich erschütterte Gleichgewicht britischen und russischen Einflusses wieder herzustellen. Als Vorwand reichen die Gewalttätigkeiten des Chans von Chiwa eben so gut aus, als bei den Engländern die Usurpation Dost Mohameds von Kabul und die Notwendigkeit der Wiedereinsetzung des vertriebenen Schah Schudscha. Mit diesem geschickten und wahrscheinlich auch sichern Schritte gewinnt Russland wieder in Asien, was Englands Schlauheit ihm abgewonnen, und paralysiert zugleich Frankreichs Versuche, von Alexandrien über den Isthmus von Suez, durch Arabien nach Bagdad und Teheran hin, dem Einflusse Englands und Russlands einen dritten: den eignen Einfluss, an die Seite zu setzen; während ein gewandter Diplomat das Kabinett von London und nebenbei auch die der übrigen Großmächte mit Vorschlägen über die Angelegenheit der Pforte beschäftigt, auch die Publizistik durch das zierliche Jesuitenbuch „die europäische Pentarchie“ mit allerlei merkwürdigen Projekten unterhalten wird, damit die Aufmerksamkeit von dem was ist ab und auf das hingeleitet werde, was allenfalls sein könnte.
So steht am Schlusse des Jahres 1839 der Konflikt der drei genannten Großmächte, mit einer Aussicht auf ein Zusammentreffen von England und Russland auf erster Linie, mit einer andern auf ein Zusammentreffen beider Mächte mit Frankreich zu Konstantinopel auf zweiter, und einer dritten - der entscheidenden - auf einen allgemeinen europäischen Krieg, hervorgebracht durch das bezeichnete Verhältnis der Mächte zu einander, die schwerlich ihre Kämpfe anderswo ausfechten werden, als da, wo noch jeder Weltkampf entschieden worden ist: auf dem europäischen Kontinente. Dagegen dürften jedoch - Österreich und Preußen an der Spitze — die übrigen Mächte Europas protestieren, und den streitigen Parteien, statt — wie sonst wohl geschehen — sich vor ihrem Unterfangen zu bekreuzigen, auf deren Vorgeben von „gestörtem europäischem Gleichgewicht“ Folgendes antworten:
„Ein reales politisches Gleichgewicht hat, so lang es Geschichte gibt, niemals existiert; der Sinn des idealen Gleichgewichts, das mit dem Austritte der Zeit aus dem Mittelalter zum Stichwort für die Diplomatie geworden, wenn sie nichts weiter vorzubringen wusste oder um Beweise für ihr Tun verlegen war, ist kein anderes als: eine fortwährende Opposition gegen weltherrschende Tendenzen zu bilden. Von der Priorität zur Suprematie ist keine Grenze abgesteckt; wer die erste hat — und England und Russland haben sie und Frankreich reklamiert sie —, strebt von selbst nach der letzten. Also ist die Frage für uns die: mit welchem Rechte soll in Europa gefochten werden um Interessen, die in Asien liegen, mindestens auf der äußersten Ostgrenze Europas?“ Hier sind zugleich mit den Kriegsmächten auch die Friedensmächte gegeben; ob jene den in London, im mittelländischen Meer, in Konstantinopel, an den Südufern des kaspischen Sees und an den Oxusmündungen sich schürzenden Knoten mit dem Schwerte zerhauen, oder diese ihn mit dem Wort und der Feder lösen sollen; das liegt in Aussicht. Jedenfalls kündigt sich das Jahr 1840 auch in solchem Betrachte bedeutungsvoll genug an, und eben darum erscheint es notwendig, hier die beiden andern Großmächte bis zur Grenze dieses Jahres zu führen, und zwar in eben der Weise, als dies mit den drei genannten geschehen ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Chronik des neunzehnten Jahrhunderts - 1840