Zustände am Schlusse des Jahres 1839

Wenn schon zu Anfange 1839 es sich in Zeichen bedeutsamster Art aussprach, dass der Zeitraum des allgemeinen Provisoriums, das — von der Verhältnisse Macht beherrscht — der Wiener Kongress 1814/1815 dem harrenden Europa geben musste statt einer Organisation, seinem Ende sich zuneige; so bestätigte dieses Jahres Schluss dies bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit. Europas Interessen waren zu Weltinteressen allmählich herangewachsen; sie begannen als solche allwärts hervorzutreten, und weil sie kein Zentrum gefunden, keine sichtbare Macht, die ihnen Schutz gewähren konnte, so drohten sie in demselben Maße, wie die besonderen Interessen einzelner Mächte zu wechseln schienen, mit diesen in Konflikt zu geraten; und zwar um so ernstlicher, als sie — nur der Gewalt der Dinge und der Natur der Gesellschaft anvertraut — in den letzten 25 Jahren manchen partiellen Kampf bestanden und, mit Ausnahme des kaum halben Sieges in Frankreich und Belgien im Jahr 1830, keinen Gewinn als den davon getragen hatten, dass ihr Dasein und ihre Mittel erkannt worden waren.

Dies Erkennen hatte die Zahl und Bedeutung der Parteien gemehrt; jede derselben hatte sich eine politische Doktrin gebildet, die entweder auf dem absolut monarchischen Prinzipe, oder — um bei den Extremen zu bleiben — auf dem Prinzipe der Volkssouveränetat, mit allen Aussprüchen auf souveräne Geltung und Anerkennung der dahin leitenden Grundsätze basiert war. Die Entzweiung also, wie sehr auch imaginärer Natur, hatte sich bereits ausgesprochen, und Europa, der herrschende, überall influierende Weltteil, war in zwei feindliche Lager geteilt. Aus jedem derselben konnte plötzlich ein Angriff kommen: ohne Kriegserklärung — denn jedes Lager hatte seine Feldpatres zum Absolvieren, deren Macht jetzt größer war als je seit dem Mittelalter — die aber — wie damals — nicht immer dem Banner dienten, unter dessen Schirm und Schatten sie lagerten und predigten. Ihnen hauptsächlich war es zuzurechnen, dass in einem Momente, wo es mehr als die rechter Verständigkeit bedurft hätte um die eigentliche Ursache des Streites auszumitteln, man hie und da schon ganz natürlich zu finden anfing, wie unsere Vorfahren 30 Jahre lang hatten Krieg führen können über den geringen und obendrein kaum verständlichen Unterschied zwischen katholischen und protestantischen Glaubenslehren, wovon die eine Partei ungefähr eben so viel wusste als die andere.


Dergleichen ward immer lauter, und trieb, eben weil nur mit Zunge und Feder, nicht mit Schwert und Lanze gefochten wurde, den Kampf überall hin und in Alles hinein. Indem jede Partei die Theorie und Deduktion des Gegners, statt sie gründlich und rechtlich zu widerlegen, verdrehte und als absurd hinzustellen sich abmühte, ward von den Massen, denen klare Begriffe selten gefallen, grade dies Absurde mit Eifer aufgegriffen, und damit eine allgemeine Verwirrung angerichtet, die der guten Sache ehrlichen Streites das Ansehen allseitiger Übertreibung, ja vielfach der Wahnwitzigkeit gab. Das stellt sich in den Übergangstagen von 1839 zu 1840 durch die Erscheinungen heraus, welche sowohl in Europa selbst, als in den übrigen Weltteilen sich da zeigen, wo irgend europäische Hand oder europäischer Geist im Spiel ist: leitend wie verleitend, denn anders kann es nicht möglich sein bei einem Weltteile, der, wie seit Langem Europa, in intellektueller wie in materieller Spaltung ein Musterblatt der verschiedenartigsten Zeichen und Zustände des Weltlebens, doch aber überall durch das Gewicht der Zivilisation herrschend ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Chronik des neunzehnten Jahrhunderts - 1840