Großbritannien, das Absteigequartier der weltbeherrschenden Briten

In Großbritannien, von einem seiner größten Staatsmänner (Fox) sehr bedeutsam „das Absteigequartier der weltbeherrschenden Briten“ genannt, in dem Lande beispielloser Tätigkeit, unerschöpflicher Mittel und eines öffentlichen Lebens sonder Gleichen, verkünden schlimme Zeichen eine düstere Zukunft. Zu Ende des Jahres 1839 stockt der Handel, gibt die ungünstigste Witterung trübe Aussichten auf die nächste Ernte, benutzt die radikale Partei den aus Mangel an Arbeit und bei teurem Brote missvergnügten Fabrikpöbel zu Aufständen gegen die Regierung und die Reichen. Die Verwicklungen in Ostindien, mit Kandahar, Kabul und China, die türkisch-ägyptischen Wirren, die Verhältnisse in und zu Spanien und Frankreich, und das Wachsen und Gedeihen des deutschen Zollvereins erregen Besorgnisse; auch Russlands begütigende, zugestehende Politik kann weder den Argwohn des Kabinetts von London noch das Vorurteil der Engländer beschwichtigen.

Selbst die für das Fortbestehen der Dynastie so bedeutungsvolle Wahl der iungen Königin, die — eingedenk des eignen wie ihres Volkes Ursprung — den deutschen Gemahl aus vielen Bewerbern sich erkoren, scheint ihre Bedeutung unter den Bewegungen der Gemüter zu verlieren; wo aller Interessen als gefährdet sich zeigen kann das gemeinsame Interesse keinen Anklang finden; weder dem Tory noch dem Whig, noch dem Chartisten ist der Thron England - und nur an Alt-England glaubt, für Alt-England lebt der Brite: der Konservative wie der Reformer. Sind iene Befürchtungen wahr, nur möglich? Denn welch ein Reich, welch ein Staat ist Britannia, die Nichts fürchtende, alles hassende Weltmacht! Ihre Flotten bedecken und beherrschen die Meere; in allen Weltteilen gehört ihr das beste Besitztum; in Ostindien allein gehorchen ihr 100 Millionen Menschen. Im Bewusstsein ihres unermesslichen Reichtums rühmt sie sich: mehr als einmal alle Heere Europas erkauft und besoldet zu haben. Ihr Interesse macht sie geltend als das höchste der Welt: durch ihre Industrie und ihren Handel fordert sie Tribut von allen Völkern der Erde. Ihre Verfassung wird als ein Muster überall gepriesen, und Englands ungeheures Wachstum unter ihrem Schule zeugt für sie. Die stete innere Gährung, auf dem europäischen Kontinent ein Krankheitszeichen, ist in England das Hauptsymptom rechter Gesundheit; diese Gährung zum Aufklären zu bringen, ist die fortwährende Ausgabe der Regierung; sie unterdrücken würde Selbstmord sein.


Aber wenn zur ungestörten Lösung dieser Aufgabe Großbritannien des Friedens bedarf, so fürchtet es den Krieg nicht, denn es traut sich zu, alle Flotten der andern Mächte zu zerstören, wenn es sein muss, und durch Vernichtung ihres Handels die Verlegenheiten der Gegner aus das Äußerste zu treiben, oder sie zu einer dienstbaren Allianz zu zwingen. Damit ist die Geschichte und das Geschick Alt-Englands bis jetzt ausgesprochen, dass beide auf einem Wendepunkte stehen, das fühlt sich überall durch: in den Debatten des letzten Parliaments, in der immer feindseliger werdenden Stellung des Geldbesitzes gegen den Grundbesitz, in der Gährung der Volksmassen, in den Maßregeln der Regierung nach Innen, in ihrer Politik gegen das Ausland. Aber die Macht, welche seit Langem schon nie Geringeres sich zugetraut, als den Seekampf mit jedem Feinde, oder auch mit allen auf einmal bestehen, den Handel Europas vernichten und mit diesem Weltteile die Welt ihrem Willen und Gesetz unterwerfen zu können, will, ia darf auch wohl nicht gestehen, wohin es mit ihr gekommen, dass ein Gegengewicht da ist wider ihre Weltherrschaft, welche lange Zelt so geduldig ertragen, so demütig erkannt worden ist überall, wo Regierungen und Volker zum Begreifen zu träge, zum Wagen zu bänglich, hier zu arm, dort zu befangen, überall zu unfrei und zu leichtgläubig waren.

Es beginnt gegen den Weltmonopolisten ein Geschlecht auszutreten - selbst im eignen Lande - das, aufgeweckt und belehrt wie es ist, dem Gängelbande Alt-Englands nicht mehr folgen will wie vordem, weil es zum Bewusstsein eigener Kraft und Mittel gekommen durch die größte Lehrerin: die Not. Alle Versuche zur Restauration der alten Handelsdespotie scheitern; weder die partiellen Verträge, noch die Einmischungen aller Art in die Handelspolitik der Hauptmächte wollen mehr Frucht bringen; der verlorne Markt mit willkürlichen Preisbestimmungen und Umsatzdekreten ist nicht wieder zu gewinnen: außer etwa auf der pyrenäischen Halbinsel, vielleicht in Griechenland, möglicherweise in der Levante; anderswo will es kaum noch gelingen, die Konkurrenz durch Arbeit auf Verlust und Verschleuderung aufrecht zu erhalten. Das neue Projekt, Europa durch Übertreibungen von Russlands kolossaler Macht und dessen Eroberungsprojekten einzuschüchtern, ist mit Brunnows neuer Sendung nach London gescheitert; aber auch die Anmahnungen zum Löwenbunde mit britischem Geld und Stolze, die improvisierte Einmischung in die Angelegenheiten der Pforte verhüllen nichts mehr; die Stimmen im Lande wie in den beiden Häusern, die ihrer Versammlung entgegensehen, wollen und werden nicht mehr schweigen; Russlands Expedition nach China und Frankreichs fast souveräner Einfluss in Ägypten scheinen den Schleier britischer Zukunft zu lüften; eben so enthüllt sich Englands Not und Gefahr aus dem beginnenden Kriege gegen China, das seinen Tee und sein Silber nicht ferner gutwillig für Opiumgift geben will, und aus der kaum mehr heimlich getriebenen Unterstützung der Tscherkessen gegen Russland, das die Südküste des schwarzen Meeres zu gewinnen und dem britisch - ostindischen Handel den Weg über Trapezunt und Satala nach dem Euphrat, oder von Erzerum den Tigris hinab in den persischen Busen abzuschneiden sich bemüht.

Daher die Aufregung am Schlusse des Jahrs 1836; aber eben daher auch das Streben der in ihren höchsten Interessen bedrohten Regierung: sich allmählich des Prohibitivsystems zu entledigen. Im neuen Parliament stehen Änderungen in den Korngesetzen, Handelsverträge auf freisinnigerer Basis, besonders aber bessere Würdigung des deutschen Zollvereins in Aussicht, und es scheint als wolle das Jahr 1840 Zeugnis geben, wie die britische Handelspolitik sich mit Deutschland um jeden Preis verständigen muss, damit — wenn etwa der große Kampf um die asiatischen Interessen zum Ausbruch kommen sollte, der Schlüssel zur letzten sichersten Straße durch die Lande des deutschen Bundes in Englands Händen und der Orient nach Belieben zu sperren sei. Das Moment eines Wechsels der Dinge ist also in mehr als einer Beziehung da, und das Jahr 1840 hat für Großbritannien viel zu entscheiden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Chronik des neunzehnten Jahrhunderts - 1840