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Wiederbelebung

Das hätte sich die junge schriftstellernde Dame aus gutem Hause sicher nicht träumen lassen, dass ihr erster Roman mit dem naiv-harmlosen Titel „Prinzessin Christelchen“ nach über 100 Jahren seit seinem Entstehen in einer Publikationstechnik wiederbelebt würde, für die damals noch jede Vorstellung fehlte, nämlich digital und für jedermann abrufbar. Diese junge Dame hieß Gertrud von le Fort und lebte mit Vater und Mutter in Ludwigslust, wo es zwar idyllisch, aber doch auch recht eintönig zuging und eine Haltung entstand, die man mit dem vornehmen Ausdruck ennuyiert bezeichnete, um nicht gelangweilt oder verdrossen sagen zu müssen und wo die charakteristischen Linden mit ihrem Rauschen vor allem die eine Botschaft verkündeten : „Das ist immer so gewesen…


Fehlstart oder literarischer Test?

Wie andere junge Damen aus gutem Hause suchte Gertrud von le Fort Impulse und Selbstbestätigung im Schreiben und wählte dazu die Ebene, in der sie sich am besten auskannte: das Leben bei Hofe, womit natürlich der Ludwigsluster Hof gemeint ist. Der geliebte und sehr gestrenge Vater, Lothar Freiherr von le Fort, war inzwischen verstorben, wirkte aber durchaus noch als innerer Zensor. Um nicht in den Ruf der Kolportage zu gelangen, griff Gertrud von le Fort nicht nur zum Mittel der Verfremdung, sondern auch zum Gebrauch eines Pseudonyms, machte aus Ludwigslust Herrenburg und aus sich selbst Gerta von Stark als wörtliche Übersetzung ihres Namens. Doch Ludwigslust ist allenthalben zu erkennen, und auch die sich entwickelnde Handschrift der später weltberühmten Dichterin ist unverkennbar. Der kleine Roman, eine anrührende Beziehungsgeschichte unter dem Aspekt von Opfer und Verzicht, ließ die Autorin unbefriedigt und erschien zunächst als literarischer Fehlstart, als unbedeutende Facette in der lawinenhaft anwachsenden Frauenliteratur mit Herz-Schmerz-Thematik.

Liebesgeschichten

Die Protagonistin, Prinzessin Christelchen, zeigt sich zunächst so, wie ihr Name vermuten lässt, harmlos bis schwach, abhängig von zwei übermächtigen Vaterfiguren, nämlich ihrem eigenen Vater, dem Herzog, und Herrn von Rambow, dessen Sohn Detlef sie liebt. Dennoch heiratet sie nach dem Selbstmord ihres Bruders, des Erbprinzen, den zukünftigen Regenten, einen gefühlsarmen Katholiken. Sie tut es, um dem evangelischen Land eine evangelische Herzogin zu gewährleisten.

Diese Linie wird von mehreren Nebenhandlungen begleitet, in denen eine Gestalt sichtbar wird, die Gertrud von le Fort sich vermutlich als Identifikationsfigur gewählt hat, Ursula von Ramberg. Sie drängt nach Emanzipation, ist versessen auf Lektüre, und man erfährt diskret, dass ihr eine große Liebe unerfüllt geblieben ist. Nun hat sie sich der Literatur zugewandt und zu schreiben begonnen, denn sie muß etwas haben, für das sie leben kann, sonst fühlt sie sich elend. Die größte Dichte des Romans leuchtet in den Entfaltungen des Eros auf. Eros steht höher als Pflicht. Eros ist mehr als Glück. In der alles überwindenden Leidenschaft sieht die Schriftstellerin Ursula von Ramberg ihre Identität. Hier kündigt sich ein großes, weit gefasstes literarisches Programm an.

Er wußte doch, daß im Herzen jeder Frau ein bodenloser Abgrund ist, den nur die Liebe auszufüllen vermag, wieviele Schätze man auch sonst noch hineinwirft…Es war gut, dass er ihre Augen nicht sehen konnte. Die waren leer bis in die tiefste Tiefe hinein, denn die Seele einer Frau, auch der kühlsten, flieht weit, weit fort, wenn sie Zärtlichkeiten nehmen oder geben muß, als sänke alles, alles, was an ihr Wunsch und Wille war, an ihr nieder wie ein Gewand. Nur eines einzigen Gefühls war sie sich noch bewußt: der Liebe. Daran merkte sie das Dasein. Nun fühlte sie, wie auch dieses versank – das mußte der Tod sein.

Prinzessin Christelchen gelingt es nicht, sich in der höfischen Gesellschaft durchzusetzen und sich neben ihrer vitalen, burschikosen Schwägerin Anna Luise zu behaupten. Christelchen kann keine Blumen welken sehen und ist von Mitleid mit allem Schwachen erfüllt, denn ihr war zumute, als trüge sie…nicht nur die eigene Last, sondern ein Stückchen von dem Leid der ganzen Menschheit.

Abgesehen von den Ludwigsluster Stadt- und Landschaftsmotiven finden sich in diesem Werk auch andere autobiographische Züge, so die distanzierte Beziehung des Herrn von Rambow zu den schriftstellerischen Neigungen seiner Tochter und die Schilderung des Rambergschen Familienbesitzes Rechow, womit das Gutshaus Boek an der Müritz gemeint ist.

Der Weg zur literarischen Meisterschaft

Der kleine Roman verrät eine kundige und fähige Hand und einen ausgeprägten Sinn sowohl für Atmosphärisches als auch für dramatische Höhepunkte. Die Welt der jungen Gertrud von le Fort ist bereits fest gefügt, der Weg zur Selbstfindung zeichnet sich in Umrissen ab. Der Weg zur literarischen Meisterschaft ist zwar noch lang, aber doch schon zu erkennen. Einzigartig und fast lehrstückhaft lässt sich dieser Weg gerade an diesem kleinen Roman nachzeichnen, die Autorin hat ihm nach über einem halben Jahrhundert eine eigenständige Variation hinzugefügt, eine Erzählung mit dem Titel Das fremde Kind.

Die Handlung ist wiederum in Ludwigslust und Boek angesiedelt, verfremdet als Die Träumerei und Groß-Ellersdorf. Das fremde Kind ist ein jüdisches Mädchen, das von einer Angehörigen des Ludwigsluster Hochadels als eigenes Kind ausgegeben wird, um es vor der Vernichtung zu retten.

Eine solche Verknüpfung von Früh- und Spätwerk ist in der deutschen Literaturgeschichte einmalig. Die Entstehungszeit der Erzählung führt schon an die Schwelle des digitalen Zeitalters. Und somit wären wir wieder beim Ausgangspunkt, der Wiederbelebung von Prinzessin Christelchen in einem digitalen Gewand zur Veröffentlichung bei Lexikus.de, wodurch dieses Projekt um eine wesentliche Facette bereichert wird.

Es war nicht einfach, ein Exemplar von Prinzessin Christelchen aus dem Jahre 1904 aufzutreiben, um daraus eine digitalisierte Form zu entwickeln. Dr. Detlef Männig, Mitglied der Gertrud-von-le-Fort-Gesellschaft, stellte den Titel aus seinem persönlichen Besitz zur Verfügung, wofür ihm ein herzliches Dankeschön gesagt sei.

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