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Freunde

In der Schule hatte ich einige Freunde. Mein bester war Freund Sergej Weissmann (der ursprüngliche Name war Mochichenko), der in der Sanhedria-Nachbarschaft in Jerusalem wohnte. Sanhedria ist eine sehr alte Nachbarschaft im Norden Jerusalems, die vor allen wegen den antiken Grabhöhlen bekannt ist, die sich auf die Zeit des zweiten Tempels (im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung) datieren lassen. Zu meiner Kindheit waren diese Grabhöhlen der breiten Öffentlichkeit zugänglich (heute sind sie verschlossen), und Sergej und ich gingen sehr oft in die Höhlen herein, um unsere abenteuerlicher Phantasie freien Lauf zu lassen. Die Höhlen, die zwei Ebenen haben, sind in Fels gehauen, wobei jedes Grab zwei Räume einnimmt. Die obere Ebene ist im Durchschnitt zwei Meter tief und durch Treppen mit der unteren verbunden. Zwischen den beiden Ebenen gibt es eine Wand, die ein durch einen Stein verschlossenes Loch hat. Das Eingangspfortal ist meist verziert. Sergej und ich spielten, wie gesagt, gerne in den Höhlen, wir riefen laut und horchten dem Echo, rochen den feuchten Geruch und stellten uns vor, in der Zeit des zweiten Tempels durch Jerusalem zu gehen und uns mit den begrabenen Personen zu unterhalten. Heute sind die Höhlen der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Die Gegend ist jetzt eine ultra-orthodoxe Nachbarschaft, wo man auf Talmudlehrer mit langem Bart und Schäfenlocken trifft, nicht aber auf Abenteurer mit Phantasie, wie wir es waren. Neben den Höhlen gab es einen Park mit Maulbeerenbäumen, dessen Früchte Sergej und ich gerne pflückten und aßen. Eines Tages sahen wir hinter einem Maschendrahtzaun einen Maulbeerbaum mit roten Früchten – wir gingen hinüber und bedienten uns an den Früchte, die paradiesisch gut waren; es waren die besten Maulbeeren, die ich jemals gegessen habe. Kaum hatten wir zu kauen aufgehört, hörten wir ein Hundegebell. Wir sprangen sofort vom Baum und rannten, so schnell wir konnten, zum nahegelegenen Zaun, wo uns ein Schäferhund mit gefletschten Zähnen erwarteten. Hinter ihm stand schreiend der Besitzer (sowohl des Hundes als auch des Maulbeerenbaums). Gerade noch schafften wir es, den Zaun zu erklettern, auf der anderen Seite herunterzuspringen und das Weite zu suchen. Völlig außer Atem, voller Flecken und mit zerrissenen Hosen kamen wir bei Sergejs Eltern an. Aber es war es wert gewesen: Die Kirschen in Nachbarns Garten schmecken einfach am Besten! Sergejs Eltern waren sehr nett, insbesonders seine Mutter. Die Weissmanns luden mich fast jeden Samstag zu sich ein, und bewirteten mich immer sehr nett.
Ein weiteres Kind, an das ich mich erinnern kann, war Shimon Gorowitz, der sich seinen Namen später zu Barack Negbi änderte und heute ein ganz bekannter Maler in Jerusalem ist. Ebenso wie ich war Shimon ein Einzelkind, und zudem war er immer gut gelaunt. Wir verbrachten unsere Nachmittage entweder bei Sergejs Familie oder in Sanhedria und Umgebung. Oft gingen wir drei zu einen der vielen Aussichtspunkte, von wo man Jordanien sehen konnte, insbesonders die Westbank, die ja damals Teil von Jordanien war. Besonders an die Gegend von Nabi-Samuel (der Prophet Samuel), hebräisch Neve Shmuel genannt, und die Sendemasten der Stadt Ramallah kann ich mich gut erinnern. Die Grenze zu Jordanien war sehr nah, aber wir spielten immer in sicherer Distanz, denn es wurde oft von jordanischer Seite hinübergeschossen.

Shimon, Sergej und ich spielten sehr oft miteinander, und wie viele Kinder in der Welt liebten wir „Cowboy und Indianer“, Seilspringen und vor allen Murmeln, mein Lieblingsspiel. (Brettspiele hatte kaum jemand, den die waren recht teuer) Wir warfen die Murmeln jeweils in drei Löcher von einem Abstand von ca. Einem Meter. Blieben sie hängen, musste der andere sie herauskickern, und man hatte verloren. Wir haben viele unserer Nachmittage beim Murmelspielen verbracht, oft, bis die Sonne unterging. Anfangs hatte ich keine glückliche Hand, aber ich verbesserte mich. Bald lernte ich, die Tatsache, dass ich Linkshänder bin, auch beim Murmelspielen mir zu Nutzen zu machen.

Wir drei waren sehr eng befreundet, und konnten so die strengen Erziehungsmethoden unserer Schule viel besser verarbeiten. Manchmal machten wir aber wirklich schöne Erlebnisse mit dem Internat: So gab es einmal einen Schulausflug (zu Fuß natürlich) nach Beit Zait („Haus der Oliven“), ca. 5km von Jerusalem entfernt: Es war ein wirklich idyllischer Ort, mit schönen Obstbäumen, insbesondere Granatäpfeln. Unsere Aufgabe war es, dort Gartenarbeit zu verrichten, was uns dreien viel Spass gemacht hat, wohl mehr als anderen Studenten. Neben diesem Garten war eine Töpferei, wo viele Scherben herumlagen. Dort fand ich einen verzierten Marmorstein, der sehr schön aussah. Ich zeigte ihn einer Lehrerin namens Leah, die ihn an einen Antiquitätenhändler verkaufte – und mir vom Gewinn 5 Pfund abgab. Das war damals viel Geld: Ich machte mich am nächsten Tag also sofort auf, Murmeln zu kaufen...

Wenn ich nicht mit Sergej und Shimon unterwegs war, las ich gerne, insbesonder Abenteuerbücher von Jules Verne, Karl May und Jack London, die ich mir in der Schulbücherei ausleihte. Sie waren in einem wunderschönes Hebräisch übersetzt. Außerhalb der Schule war ich meistens bei Sergej. Manchmal wurden Schüler auch zu Familien eingeladen. Da kann ich mich an einige erinnern: Eine Familie hatte eineiige Zwillinge namens Hila und Halina. Sie wohnten in der Innenstadt, zogen aber bald weg. Es war eine ashkenazische (europäische) Familie, die –dem Klischee entsprechend- sehr gepflegt und elegant war. Damals sagte man den Mizrachim (sephardischen, nordafrikanischen Juden) nach, dass sie unkultiviert, ungebildet und laut seien, wobei rassistische Elemente mitschlugen. Ich glaubte diesen Vorurteilen, die man unter dem Aufschrei „Marokai-Sakin!“ (Marokkaner – Messer!) zusammenfasste als Kind – bis ich Familie Balulu kennenlernte: Der Vater war Marokkaner (ohne Messer) und die Mutter jordanische Jüdin. Ich habe selten so gepflegte und kultivierte Menschen getroffen, wie die Balulus, deren Sohn David ein Schulkamerad von mir war. Ihre finanzielle Lage war dennoch schwach, und sie lebten in Musrara, gleich neben der Altstadt (die damals zu Jordanien gehörte), einer sehr gefährlichen Gegend.

Und dann war da noch Mikka, der Friseur:
Ich hatte als Kind immer glatte Haare, den ich zu einem Scheitel kämmte. Irgendwie war er nie geradlinig, sondern neigte immer nach links, was mich sehr ärgerte. Eines Tages kam mir durch zwei neue Schüler die Idee für einen neuen Haarschnitt: Beide weinten, als ihre Eltern sie zum ersten Mal daließen. Während der kleinere der beiden sich schnell zusammenrieß, hörte der große Bruder nicht zum Weinen auf – und wurde nach einer Woche nach Hause geschickt, wo er sich statt dem Lernen dem Bodybuilding widmete. Als er die Schule später einmal besuchte, hatte er eine tolle Figur – und Frisur: Alle Haare waren nach hinten gekämmt. Das machte ich dann auch von nun an.
Kurz darauf breitete sich im Lande eine Hautkrankheit aus, die die Kopfhaut betraf, und die fast alle Kinder bekamne. Auch bei uns im Internat bekamen alle diese Krankheit, mit der Ausnahme eines tschsechischen Mädchens, die außer schönen Haaren auch eine klare und angenehme Stimme hatte, mit der sie wunderbar singen konnte. Außer ihr bekamen wir alle aber diese Hautkrankheit, was zur Folge hatte, dass uns allen eine Glatze geschnitten wurde, was insbesonders für die Mädchen eine traumatische Erfahrung war. Als mir die Haare nachwuchsen, waren sie nicht mehr glatt, sondern gewellt - und so sind sie bis heute geblieben. Für das Internat hatte diese Aktion zur Folge, dass nach einem Monat alle Kinder des Heims gleichzeitig zum Friseur gehen wollten. Um zu sparen, wurde auf der Straße des Internats ein billiger Friseur gefunden. Und so traf ich Mikka, den Friseur: Mikkas Onkel war der Besitzer des Friseurladens, der weder für seine Sauberkeit noch für seine Kreativät bekannt war. Auch das nach dem Haareschneiden benutzte Duftwasser war sehr billig. Bekannt war der Friseurladen aber für Mikka, der seinen Onkel aushalf, und dessen Borstenwalze.Mikki war geistig behindert, was wohl erklärt, warum er trotz seines jungen Alters nicht in die Schule ging, sondern bereits arbeitete. Für sein Alter (ca. 12 Jahre) war Mikka sehr groß, nämlich 1,75. Auch hatte er dicke Lippen und einen sehr starken russischen Akzent. Wenn sein Onkel, der Friseur, fertig mit dem Haarschnitt war, kam Mikka mit einer Borstenwalze, die die Form eines Zylinders mit zwei um 180 Grad versetzten Griffen hatte. Er drehte die Walze dann über das Haar – und alles, was unter die Walze kam, wurde flach wie Papier. Es gab keine Frisur, und kein noch so wildes Haar, das Mikkas Walze widerstand. Man konnte über Mikka nur eines sagen: Er war ein Meister seines Faches. Ich ging oft zu dem Friseur, obwohl ich anfangs das Gefühl der Walze nicht mochte. Jedoch habe ich mich mit Mikka immer gerne unterhalten. Er war sehr lustig und hatte sein Herz am richtigen Platz. Als mich sein Onkel beim Haareschneiden am Ohr verletzte, reinigte Mikka die Wunde und beruhigte mich. Ich bekam jedoch ein Farunkel, was meine Eltern veranlasste, mich von nun an zu einem anderen Friseur, der David hiess, zu nehmen. Bei David war es sauber und angenehm. Dem „Überlaufen“ zum Trotz war ich trotzdem auch weiterhin mit Mikka befreundet. Wir unterhielten uns immer über Politik, sein Lieblingsthema. Auch mit Segej und Shimon verstand er sich wunderbar, insbesondere mit Sergej, da die beiden sich auf russisch unterhalten konnten.
Unsere Schule hatte auch einen kleinen Sex-Skandal:
In der Tachkemoni-Straße wohnte eine deutsch-jüdische Familie namens Felsental, deren Vater Baruch vier Kinder hatte: Einen erwachsenen Sohn (an dessen Namen ich mich nicht erinnern kann), der bereits im Militär war, und drei Kinder in unserem Alter, die Baruch auf unsere Schule schickte: Lea, Diana und Raphael. Herr Baruch Feldental war ein sehr netter Mann, der viel Humor hatte, und uns bei jedem Besuch zum Lachen brachte. Er war bei uns sehr beliebt, mehr als seine Kinder, die alle keine besonderen Schüler waren. Sowohl Diana als auch Raphael brauchten Nachhilfestunden. Raphael wurde von einer Frau Gibson mit Engelsgeduld betreut – stundenlang mußte sie mit ihm fast täglich pauken, oft ohne Erfolg. Als Menschen und Mitschüler waren die beiden aber sehr nett, was man von der ältesten Schwester, Lea, nicht sagen konnte: Sie wirkte immer verstört, und galt obendrein als häßlich. Eines Tages wurde sie ohne Begründung aus dem Internat herausgeworfen. Ich kann mich noch erinnern, wie sie im Korridor der Schule schrie: „Ich bin unschuldig!“ Es hielf aber nichts: Lea mußte raus. Baruch Felsental nahm daraufhin seine anderen Kinder auch aus der Schule. Die Felsentals wanderten später nach Deutschland aus.
Erst viel später erfuhr ich den Grund für den Hinauswurf: Eines nachmittags kam Sergej zu mir und erzählte mir, dass Lea versucht hatte, David Balulu (siehe oben) zu verführen, und dann infligranti erwischt wurde. Was genau zwischen den beiden passiert ist, werden wir wohl nie erfahren. Die Gerüchteküche brodelte natürlich. Heute denke ich zurück und nehme an, dass es sich bei dieser „Lewinsky-Affaire“ wohl um kaum mehr als einen unschuldigen Kuss gehandelt haben konnte. Unsere Schule war aber sehr streng, wie die Gesellschaft dieser Zeit im allgemeinen. Viele Jahre später, als ich bereits verheiratet war, erinnerte ich mich an diese Episode: Nach meiner Zivilehe besuchte ich meine Frau und Schwiegermutter in Regensburg – und meine Schwiegermutter teilte mir mit, dass sie mich erst nach der Rabbinatsehe als den rechtlichen Ehemann ansähe. Folglich durfte ich nicht mit meiner Frau im selben Zimmer schlafen, und mußte mir –da die beiden in einer Ein-Zimmer-Wohnung lebten- ein Hotelzimmer nehmen. Zu meinem Unglück fand gerade eine Konferenz in Regensburg statt, so daß alle Hotels ausverkauft waren – außer dem teuersten, wo ich mir fast zwei Monatsgehälter für eine Übernachtung hinblättern mußte. Der Moral wurde aber gedient. (Ich würde gerne hier erwähnen, dass wir bei der Erzeihung unseres Sohnes viel toleranter waren, und er bereits drei Jahre mit seiner Freundin zusammenlebte, bevor er sie heiratete)
Zur selben Zeit wie der Sexskandal machte ich auch meine erste Erfahrung mit der Kunst des Espressos: Da war der Vater einer Mitschülerin, ein Einwanderer aus Rumänien, der etwas Faszinierendes an sich hatte: Er war ein schöner Mann, der immer tadellos gekleidet war und mich an Rudolpho Valentino erinnerte. Die Filme Valentinos wurden in einem Kino am Zionsplatz gezeigt, das –wie die meisten Kinos der Zeit- nicht mehr existiert. Gleich nebenan war aber ein Cafe – wo ich „Rudolpho II“ sah (so nannte ich ihn, an seinen wahren Namen kann ich mich nicht erinnerte). Er stand da, im Anzug, und mit einer Fliege, und bearbeitete eine Espressomaschine – die erste, an die ich mich erinnern kann. Der Geruch der frischen Kaffeebohnen lag in der Luft, und Rudolpho II, der eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte, bediente die Maschine mit Präzision und Fingerspitzengefühl. Der Prozess des Rösten der Bohnen und der Zubereitung des Espressos war aufwendig, lang und laut, aber ich genoß jede Sekunde. Zum Schluß, als er den fertigen Espresso in eine Espresso-Tasse gaß, strahlte er mit einem großen Lächeln. Es war eine wunderbare Erfahrung. Getrunken habe ich meinen ersten Espresso aber viel später ...

 

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