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 Gideon Rosendahl als Kind Vorgeschichte

Wenig ist über den Ursprung der Rosendahls bekannt, außer dem Folgenden, überliefert durch meine Tante Anna Ruth, die uns leider nach einem erfüllten Leben im Alter von 98 Jahren verließ:
„Deine Vorfahren verließen so gegen des 11. Jahrhunderts Palästina und wanderten nach Portugal aus. Im 15. Jahrhundert, zur Zeit der Judenverfolgung in Spanien und Portugal, der „Spanischen Inquisition“, wurden sie von den Holländern mit Schiffen nach Holland gebracht. Unsere Vorfahren lebten dann in Rosendahl („Tal der Rosen“) in Holland und nahmen später diesen Namen an.“


Die Ahnentafel der Familie Rosendahl

Mein Urgroßvater war David Rosendahl. Er lebte in Gengelt bei Geilenkirchen. Er heiratete Anna R. Kaufmann. Sie hatten 10 Kinder, 7 Söhne und 3 Töchter: Philippe, Emil, Hermann, Max, Robert, Eduard, Wilhelm, Nanette, Rosalie, Klara

Fin de Siecle

Zunächst ein paar Worte über meine Großeltern, die in Bonn lebten: Mein Großvater war Eduard Rosendahl (8. Juli 1874 – 12. Juni 1941). Eduard war gelernter Kaufmann und Schneidermeister. Er wurde im 1. Weltkrieg an die Russlandfront geschickt: Verwundet, aber als Träger des Eisernen Kreuzes kam er zurück.
Eduard heiratete Wilhelmine Callmann (15. Oktober 1878 – 15. März 1926). Wilhelmine war als Kind im Elsass im Internat gewesen. Als sie dort die Erzieherin auf deutsch fragte, ob sie etwas zu essen bekomme, bekam Sie folgende Antwort: „Je ne comprend pas“ (ich verstehe nicht, auf französisch) Hier sei Frankreich, und da habe man gefälligst französisch zu sprechen! So lernte Wilhelmine Französisch und beherrschte die Sprache so perfekt, dass sie außer dem Schulfranzösisch auch sämtliche Dialekte der verschiedenen Regionen Frankreichs verstand. Als sie Eduard heiratete und zu einer Rosendahl wurde, hat sie - deutsch-jüdischem Stolz zum Trotz - ihr Französisch immer auf dem Laufenden gehalten. So kam es, dass französische Besatzungssoldaten, die Anfang der 20er Jahre in das Kleidungsgeschäft der Rosendahls eintraten, sicher waren, es mit einer Exilfranzösin zu tun zu haben.

Mit Ausnahme der Sprachkenntnisse waren die Rosendahls, so wie die meisten deutschen Juden, eher assimiliert: Zwar kam Wilhelmine aus einer traditionellen Familie, hat aber die Koscher-Gesetze (jüdische Speisegesetze) nur gehalten, solange ihr Vater, der diesbezogen sehr strikt war, lebte und auch das eher aus familiärem Respekt als aus Glaubensgründen. Eduard und der Rest der zehn Rosendahls trafen sich zu den Hohen Feiertagen. Ansonsten sah er den Rabbiner eher im Kleidungsgeschäft als in der Synagoge.

1902 bekamen Eduard und Wilhelmine Zwillinge: Ludwig (mein Vater) und Benjamin. Benjamin starb kurz nach der Geburt und ist in Wuppertal begraben. Ich habe meinen Sohn nach ihm benannt (interessanterweise hieß auch der Vater meiner Frau, der im Holocaust umgebracht wurde, Benjamin – so ist unser Sohn von beiden Seiten nach einem engen Familienmitglied benannt). Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder hatte meinem Vater ein langes, ausgefülltes Leben, ebenso wie seine Schwester Anna.

 

Gideon Rosendahl als Kind in der DuscheLudwig

Als mein Vater in die Grundschule ging, wurde seine Schwester Anna (Ruth war ihr jüdischer Mittelname) geboren. Ich nannte sie immer „Tante Ruth“. Zuvor, im Alter von drei Jahren, verlor mein Vater ein Auge: Er spielte im Hof, während seine Mutter oben in der Wohnung war. Von unten rief er sie nach seiner Schaufel bittend. Wilhelmine rief zurück, er solle bitte im Hof bleiben – sie würde die Schaufel im Treppenhaus nach unten schmeißen. Doch leider hörte er nicht auf sie und lief nach innen. Es geschah das Unvermeidbare: Ludwig schaute just in dem Moment nach oben, als die Schaufel auf ihn zukam – und die Schaufel traf ein Auge, das von da an nur noch weiß war, ohne Pupille. Seine Mutter hatte sich nie verziehen, und bedauerte noch im Todesbett, dass sie ihren Sohn auf einem Auge blind gemacht habe. Im Rückblick war dieser Unfall jedoch auch ein versteckter Segen: Als mein Vater sich nämlich während des Zweiten Weltkriegs (er lebte bereits in Palästina) für die Jüdische Brigade melden wollte (eine Abteilung der Britischen Armee, die gegen die Nazis kämpfte), wurde er aufgrund seiner Teilblindheit abgelehnt. Hätte er sein Augenlicht gehabt, dann wäre es gut möglich, dass er zu den über 700 Gefallen der Jüdischen Brigade hinzugerechnet hätte werden können.

Nach dem ersten Weltkrieg besetzten die Franzosen das Rheinland. Wie gesagt, konnte meine Großmutter, Wilhelmine, fließend Französisch, was zu ihrem Vorteil war: Von Plünderungen der französischen Soldaten wurden meine Großeltern verschont, da man meine Großmutter für eine Landesgenossin hielt. Auch brachte die französische Besatzung die feinsten Parfüms und Delikatessen der französischen Küche nach Bonn. Und da die Besatzer gute Kunden des Kleidungsgeschäftes meines Großvaters waren, konnten sich die Rosendahls über die französische Besatzung nicht beschweren. Leider verstarben meine Großeltern in jungem Alter: Meine Großmutter Wilhelmine war 46 Jahre alt, als sie 1926 verstarb, und mein Grosvater 67 Jahre, als er 1941 verstarb. Die Tatsache, dass er neben meiner Großmutter in einem Familiengrab seine letzte Ruhe gefunden hat, ist übrigens einem jungen Arzt zu verdanken: Als mein Großvater mit Herzbeschwerden im Krankenhaus lag, stand die GeStaPo bereits vor der Türe, um ihn ins Konzentrationslager zu bringen. Der junge Arzt jedoch, dessen Namen wir nie erfahren haben, sagte ihnen, dass die Herzkrankheit meines Großvaters sehr selten sei, und dass er ihn im Krankenhaus behalten muss, um seinen Studenten die Symptome dieser seltenen Herzkrankheit zu zeigen. Bevor er starb, erzählte mein Großvater das seiner Tochter, Tante Ruth. Und so verstarb er friedlich im Krankenhaus. Und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bonn beerdigt, statt in einem Massengrab.

Im selben Jahr als meine Großmutter verstarb, bewarb sich mein Vater, der die Handelsschule mit dem Titel Handelsdiplomkaufmann abgeschlossen hatte, als Geschäftsführer eines Möbelgeschäfts in Datteln, einer Kleinstadt im Ruhrgebiet (bei Recklinghausen) – und wurde angestellt. Und obwohl er in Untermiete wohnte, ging es ihm finanziell recht gut: So konnte er sich jedes Jahr ein neues Motorrad leisten und fuhr viele Edelmarken wie z.B. Indian, BSA, Norton etc. Auch besaß mein Vater eine Pistolensammlung. (Mehr darüber später).

1928 gründete mein Vater den „Dattelner Motorrad Club“. Einer der besten Freunde meines Vaters – und er hatte einen großen Freundeskreis - war Hugo Piepen, der ein Motorradgeschäft führte. Mein Vater war nicht nur sein Freund, sondern auch sein bester Kunde. Trotz seines Halbblindheit fuhr mein Vater also Motorrad, und sogar Ralley. Er nahm an vielen Wettbewerben teil.

Was das jüdische Leben betraf, war Datteln relativ gut ausgestattet: Die Stadt hatte eine kleine, aber angesehene jüdische Gemeinde, eine Synagoge und einen kleinen Friedhof, der allerdings nicht benutzt wurde (es handelte sich um den alten Friedhof. Neue Todesfälle wurden in Recklinghausen begraben). Ferner gab es mehrere jüdische Geschäfte. In einem dieser Geschäfte arbeitete mein Vater: Möbel Schärf. Alles in allem pflegten Juden und Nichtjuden ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Das sollte sich bald ändern.

Ab dem Ende der 20er Jahre gab es zwei Gruppen, die in Datteln an Popularität gewannen: die Kommunisten und die Nationalsozialisten. Die Sympathie meines Vaters lagen bei den Kommunisten, was ihm als Juden beinahe doppelt zum Verhängnis werden sollten. 1933 kamen bekannterweise die Nazis an die Macht. Meinem Vater wurde im selben Jahr gekündigt. Kurze Zeit später erschien ein gewisser Herr Börgershausen an der Haustür meines Vaters. Zwischen den beiden entwickelte sich ein reger politischer Streit (mein Vater hat mir nie genau gesagt, worüber sie gestritten haben). Es endete damit, dass mein Vater eine Pistole aus seiner Sammlung in die Hand nahm und zu Herrn Börgershausen sagte, er solle verschwinden, oder...

Nietzsche-Buch meines Großvaters mit Widmung.Herr Börgershausen verschwand. Am nächsten Tag kam die GeStaPo und verhaftete meinen Vater. Sie brachten ihn nach Recklinghausen zum Verhör, wo er so stark geschlagen wurde, dass er sich die Schulter brach. Danach wurde er unter der Bedingung freigelassen, er müsse sich jeden Tag beim Polizeipräsidium in Recklinghausen melden. Der Zufall wollte es, dass im besagten Polizeipräsidium ein Veteran des Ersten Weltkrieges arbeitete, der meinen Großvater aus dieser Zeit noch sehr gut kannte. (Leider habe ich seinen Namen nie erfahren, genau so wenig wie den des Arztes. Dieser Freund meines Großvaters gab meinem Vater einen Tipp: „Verschwinde“, sagte er, „verlass Deutschland so schnell wie möglich! Hier kannst du als Jude nicht lange überleben.“

Am 6. August 1934 hat mein Vater folgende Inschrift im Buch „Also sprach Zarathustra“ für seinen Freund Fritz H. Müller hineingeschrieben:

„Mein lieber Freund Fritz! Bücher und Menschen haben ihr Schicksal und so gelangt auch dieses Buch in deinen Besitz. Dein 31. Geburtstag sei auch dem Andenken unserer 25 jährigen Freundschaft Erinnerung - Die Zeit ist hart und schwer für uns, doch niemand weiß, was und die Zukunft bringt, und das ist gut. Bonn, 6. August 1934. Ludwig.“

 

Nietzsche-Buch meines Großvaters mit Widmung.Die Inschrift auf der nächsten Seite ist 20 Jahre später geschrieben worden:
„Mein Freund Fritz H. Müller trat 1937 in die SS ein. Als Oberleutnant in einem Polizeiregiment ist er 1945 in Rumänien gefallen. 1957 erhielt ich dieses Buch von seiner Mutter, als ich aus Israel zurück kam. Ich hatte das Buch z. Zt. unter einem Haufen Altpapier gefunden. Ludwig Rosendahl.“...

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