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Das Leben in Nachlath – Yehudah

Für war Nachlath-Yehudah, dieses kleine Dorf, die ganze Welt. Ich liebte die Einfachheit des Lebens und die Solidarität der Bewohner zueinander. Brot wurde in einen von Pferden gezogenen Blechwagen durch das Dorf gezogen. Am Wagen war außen eine Glocke befestigt, durch die man sich bemerkbar machen konnte, wenn man Brot haben wollte. Petroleum wurde in einem ähnlichen System geliefert. Von Kühlschränken war damals natürlich nicht die Rede, so dass wir stattdessen Eisblöcke vom Eiswagen kauften. Die restlichen Besorgungen konnte man in Nachlath-Yehudah alle zu Fuß machen, wobei der Weg niemals länger als 15-20 Minuten war. Insbesonders interessant war der Einkauf von Lebensmitteln: So kauften wir Eier und Hühner bei Herrn Fingerhut, der wie wir auch ein „Jecke“, also deutscher Juden, war. Die Eier wurden in eine Papiertüte gesteckt; das Huhn bekam man lebendig, mit den Beinen zusammen gebunden. Wollte man es geschlachtet haben, mußte man zum Lebensmittelmarkt gehen. Dort saß der koschere Metzger auf einen kleinen Schemel und wartete auf Kundschaft. Der Metzger war ein jemenitischer Jude namens „Basari“ (was sich übersetzen lässt als „fleischig“). Sein Sohn Yigal änderte den Nachnamen später zu „Bashan“ und ist heute ein sehr bekannter Sänger in Israel. Herr Basari Sr. saß jedenfalls auf seinen Schemel, mit einer Rasierklinge in der einen und einer Tora (Bibel) in der anderen Hand. Gab man ihm ein Huhn zum Schlachten, las er einen entsprechenden Segensspruch aus der Bibel (oder einem Gebetsbuch, das er neben sich hatte) und schnitt dann dem Huhn nach jüdischem Gesetzesbrauch die Kehle durch. Das Huhn flatterte noch eine Zeitlang kopflos am Boden und starb dann einen Tod, der zwar ein schrecklicher Anblick war, aber – wie mir einige Forscher versicherten – für das Tier gänzlich schmerzlos ist. Wie gesagt, war es aber wirklich ein schrecklicher Anblick, in der Mitte des Weges kopflose Hühner durch die Gegend laufen zu sehen. Zu Feiertagen kauften einige Bewohner auch Enten oder Gänse, bei denen dieser Prozess noch viel länger als bei den Hühnern andauerte.
Der Lebensmittelmarkt selbst war aber eine schöne Erfahrung: So gingen die Dorfbewohner mit einem leeren Marmeladenglas hinein, das dann je nach Vorliebe gefüllt wurde. Und probieren – auch mit den Fingern – war natürlich Ehrensache. Milchprodukte und Süßigkeiten gab es auch. Fleisch und Fisch hingegen waren eher selten. Verpackt wurde alles mit Zeitungspapier, berechnet wurde nach dem jeweiligen Preis und bezahlt wurde immer erst am Monatsende: Jeder ließ anschreiben. Von Einkaufstüten hatten wir übrigens auch noch nie gehört: Wir benutzten immer dasselbe Einkaufsnetz, das wir viele Male flicken ließen.

Später kam ein Gemüseladen hinzu: Er wurde von Manja, einer Einwanderin aus Rumänien, die immer sehr nett, höflich und ehrlich war, geleitet. Manjas Gemüseladen war eine aus Aluminiumsblech gebaute Bude. Sie hatte das herrlichste Obst und Gemüse. Dort einzukaufen war ein Höhepunkt des Dorflebens: Es war Kaufladen, Nachrichtenbörse, Klatsch- und Tratschbörse und sozialer Treffpunkt. Dort wurde diskutiert, geflucht, gelacht und hin und wieder auch getrauert. So sehr wir unsere Meinungsverschiedenheiten hatten, wir alle stimmten überein: Wir liebten unsere Manja. Als sie eines Tages von einer Schlange gebissen wurde und daraufhin erblindete, war ganz Nachlath-Yehuda in Sorge. Es war, als ob unserer Königin etwas zugestoßen sei. Glücklicherweise erhielt Manja aber wieder ihr Augenlicht zurück. Ein Seufzer der Erleichterung war überall zu hören – und Ruhe kehrte ins Dorf zurück...

Eines der Hauptarbeitsplätze in Nachlath-Yehuda war die Glasfabrik „Gavish“, bei der auch mein Vater eine Zeitlang arbeitete. Als die Fabrik pleite ging, wurde sie den Arbeitern geschenkt, die sie dann selber verwalteten. Bei Gavish wurden hauptsächlich Lampengläser für Petroleumlampen, aber auch Edelprodukte wie Glasschalen und Altglas hergestellt. Jeder in der Fabrik kannte meinen Vater und mich und grüßte uns immer sehr freundlich. Und ich schaute mit weit offenen Kinderaugen zu, wie mit Schmelzsand die Gläser in verschiedene Formen gepresst wurden. Für die damaligen Verhältnisse war das wirklich eine sehr moderne Fabrik. Die Glasherstellung hat mich seit damals sehr faszinierend und tut es noch heute. Leider habe ich erst jetzt, nach meiner Pensionierung, Zeit, selbst Lampen herzustellen (Tiffanylampen), was mir viel Freude zubereitet.

Gegenüber von Gavish war eine Rasierklingenfabrik namens „OKaWa“. OkaWa ist übrigens eine Abkürzung für „Otto Klotzmann, Warschau“. Leider war diese Fabrik fast das Gegenteil von „Gavish“: Von moderner Produktion konnte nicht die Rede sein und folglich war auch das Endprodukt nicht besonders qualitativ: Was „Okawa“ herstellte, konnte man eher als Mordwaffe denn als Rasierklinge benutzen. Wer es sich leisten konnte – und das waren sehr wenige - der kaufte sich importierte Rasierklingen. Außer Gavish und OkaWa gab es noch eine Silikatziegelfabrik.

Eine besondere Erinnerung aus Nachlath-Yehuda: Meine Mutter bekam eines Tages Besuch von ihrer Cousine und deren Tochter, Lani. Grundsätzlich war Lani, die in meinem Alter war, nicht besonders mein Fall. Jedoch hatte sie eine Eigenschaft, die sie zur Sensation im ganzen Dorf machte: Sie war blond. Als ich mit ihr spazieren ging, war ich das Gesprächsthema schlechthin bei Manjas Gemüseladen. Blondinen hatten in Nachlath-Yehuda ungefähr den Seltenheitswert eines Rohdiamanten. Jeder wollte also wissen, wie ich zu einer solch hübschen Freundin kam. Und so wurde ich den ganzen Tag über Lani befragt...

Meine letzte Erinnerung an Nachlath-Yehudah ist die Ausrufung der Unabhängigkeit des Staates Israel. Dies ist deshalb meine letzte Erinnerung an das Dorf, da ich kurz nachdem ich ins weit entfernte Jerusalem in die Schule geschickt wurde. Am Tag der Unabhängigkeitserklärung saß jedenfalls ganz Nachlath Yehudah vor den Radioempfängern, die man von der Straße von jedem Haus aus hören konnte. Als David Ben-Gurion, der erste Premierminister Israels, die Unabhängigkeitserklärung verlas, hörte man von überall Beifall und Jubelstimmen. Am nächsten Tag begann der Unabhängigkeitskrieg. Ich kann mich noch erinnern, wie ich vor dem Haus Zvi Millers stand und Halbkettenfahrzeuge vorbeifahren, in denen Soldaten mit Wollmützen saßen. Es gab nämlich nicht genügend Stahlhelme für jeden. Ich war von diesen Wollmützen jedenfalls sehr begeistert und als mir ein Soldat eine dieser Mützen aufsetzte, sagte ich ganz stolz: „Chajalim shelanu“ (unsere Soldaten). Vom Krieg selbst bekam ich nicht so viel mit, außer, dass wir sehr oft in Unterstände (Bunker) hinunter gehen musste. Später hörte ich, dass der Sohn der Chowews im Krieg gefallen war.

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