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Ich fuhr auch gerne mit den Autobussen: Die meisten Busse kamen aus Amerika: Es waren White Dodge, GMC und Fargo, die mit Benzin, Petroleum oder Autogas fuhren. Die wenigen Sitzplätze, die es gab, waren sehr unbequem. Onehin musste man meistens stehen, geraucht wurde viel, und die meisten Mitfahrer hatten auch keine Hemmungen, Sonnenblumen- oder Fruchtkerne auszuspucken. Und so war der Boden der Busse immer unsauber. Außerdem waren Vorgänge wie das Wechseln der Gänge, Bremsen, um die Kurve biegen etc. sehr laut und bis zur letzten Sitzreihe spürbar. Wollte man aussteigen, mußte man mit einem Lederseil die Klingel betätigen. Die Tür musste dann per Hand geöffnet werden, was ein ziemlicher Kraftakt war. Am schlimmsten aber war das Verhalten an den Haltestellen: Da wurde geschubst, gedrängelt, geschrieen und gedrückt. Und trotz all dieser Nervigkeiten habe ich das Busfahren geliebt – denn es hatte eine gewisse Unschuld, eine Naivität: Man fuhr mit sehr einfachen Bussen auf primitiven Landstraßen durch und zu Dörfern, die aus einfachen einstöckigen Wohnhäuser bestanden, und wo alle Bewohner die Felder bestellten. In einem gewissen Sinne gab es eine Solidarität, ein Gefühl, daß wir alle im selben Boot bzw. im selben Bus sitzen. Heute sind die Klassenunterschiede in Israel leider sehr groß und die Gesellschaft ist viel mehr gespalten. Da sehne ich mich nach der Einfachheit dieser Zeit und den unbequemen Bussen, auch wenn ich in einem hochmodernen Bus mit schönen Sesseln und Klimaanlage sitze, der über eine von Israels neuen Autobahnen fährt. Insbesonders die Fahrten nach Jerusalem sind mir in Erinnerung geblieben: Im Winter war die Orangenblüte zu sehen, wahrlich ein Genuss der Sinne: Die weißen Blüten, die grünen Blätter waren unter blauen Himmel ein Fest für die Augen, und der Duft - ein Traum.

Mit meinen Vater fuhr ich oft nach Tel-Aviv gefahren, wo wir in der Gegend von der „Gutenbar Elektrostation“, an der Verlängerung der Allenbystraße, also nicht weit vom Meer, landwirtschaftliche Produkte kauften. Mein Vater hatte aber nur kurz in der Landwirtschaft, auf dem Feld, gearbeitet. Eines Tages schlug man ihm vor, Blöcke für den Bau herzustellen. Mein Vater fand die Idee sehr gut und hatte bereits alle Materialien zur Hand. Was ihm jedoch fehlte, war ein Formular (zur Registrierung). Als mein Vater nachfragte, wurde ihm gesagt, ein Araber in Jaffa hätte sämtliche Formulare. Mein Vater fuhr also nach Jaffa und beantragte das Formular. Auf die Frage, wann es fertig wäre, meinte jener Araber: „Bukra“ („morgen“ auf arabisch). Am nächsten Tag fuhr mein Vater wieder nach Jaffa. Das Formular war aber immer noch nicht fertig. Und die Antwort auf die Frage, wann es fertig sei, hieß immer noch: „Bukra“. Dies wiederholte sich für ein paar Tage, bis ein Bekannter meinen Vater wissen ließ, daß auf arabisch „bukra“ nicht nur „morgen“ heiße, sondern auch „irgendwann“. Am nächsten Tag fuhr mein Vater wieder nach Jaffa. Als er wieder „bukra“ als Antwort bekam, antwortet er in gebrochenen Hebräisch, daß ihn jener Araber mitsamt seinem Formular und seinem „bukra“ den Buckel herunterrutschen könne, wenn er das Formular morgen nicht bekäme. Und damit meine er nicht „bukra“, sondern den nächsten Tag. Nach dem Wutausbruch fuhr mein Vater zufrieden nach Hause. Am nächsten Tag war das Formular fertig. Die Blöcke waren eine wahre Goldgrube für meinen Vater. Er stellte zwischen 100 und 150 Blöcke pro Tag her, die am Bau verwendet wurden. Doch dann wurden Maschinen eingesetzt, die die Blöcke kleiner, exakter und in größerer Zahl herstellen konnten: 1000 Stück pro Tag nämlich. Da konnte mein Vater dann nicht mehr mithalten. Er stieg aus der Blockproduktion aus und arbeitete in der Schädlingsbekämpfung (Landwirtschaft) zusammen mit einem Geschäftspartner. Die beiden vertrugen sich sehr gut, und auch die Einkünfte waren gut. Am Anfang wurde die Arbeit mit einer Handspritze verrichtet, später dann mit einer Motorspritze der Marke Vermosel. Da der Zweitaktmotor der Vermoselspritze schnell seinen Dienst aufgab, wurde sie durch eine Spritze der englischen BSA ersetzt. Leider vertrug der Geschäftspartner die Gifte, u.a. DDT, nicht und stieg aus. Mein Vater machte alleine weiter, aber konnte sich nicht lange über Wasser halten. Er arbeitete dann eine Zeit lang für „Chabal“, eine Kooperative für die Vermarktung von Landwirtschaftsprodukten. Leider wurde „Chabal“ kurze Zeit später geschlossen. Schließlich wurde er als Bewacher für die Felder von Rishon Letzion und Nachlath Yehuda eingestellt. Seine Bewaffnung bestand aus einer Pistole der Marke Sauer & Sohn sowie Frina, unseres Wachhundes. Leider starb Frina kurz darauf, und so kaufte mein Vater einen neuen Hund, Max. Der war zwar nicht bissig, hatte aber psychologischen Effekt (Hunde, die bellen, beißen bekanntlich nicht. Angst können sie einem aber schon machen). Übrigens - meistens handelte es sich bei den „Übeltätern“ übrigens um Hühner oder Hasen, die sich auf den Feldern versorgten. Einmal fasste Max eine Familie, die wohl hungrig war und vom Feld stehlen wollten. Den meisten Familienmitgliedern gelang die Flucht vor Max. Der Kleinste jedoch, ein dreijähriges Kind, wurde von Max gefasst und am Fuß festgehalten. Körperlich verletzt hatte sich das Kind dabei nicht, aber es bekam einen gehörigen Schreck und war im Schockzustand. Die Eltern des Kindes kamen am selben Tag zu meinem Vater, um sich zu beschweren, daß ihr Kind seit dem Ereignis Wahnvorstellungen habe. Sie forderten meinen Vater auf, Max ein Büschel Haare abzuschneiden und diese vor den Augen des Kindes zu verbrennen. Mein Vater kam der Forderung nach, und das Kind beruhigte sich wieder. Ein anderes Mal hatte er Nachtschicht in Nachlat-Yehuda, in einem religiösen Mädchen-Internat namens „Bat Asher“. Da sah er ein Feuer! Schnell weckte mein Vater einen der Aufseher, der sofort die Feuerwehr anrief. Sofort liefen beide zum Haus, um die Gasflaschen abzumontieren, damit es nicht zu einer Explosion komme. Letztendlich hat mein Vater so das Internatsgebäude gerettet; beschädigt wurde nur die Küche. Als Dank bekam er von der Küche die Konservendosen, da diese nicht mehr kosher waren.

Eine der schönsten Erinnerungen von Nachlat-Yehuda war die Orangenernte: Das ganze Dorf beteiligte sich daran: Zuerst wurden Bretter und Trennbretter aus Holz gesägt, die Abmessungen von ca. 70-80 cm hatten. In die Mitte wurden durchgeschnittene Weidenzweige gelegt, die eine Zeitlang vorher in Wasserbecken gelegt worden waren, um weich zu werden. Die Kisten waren wirklich handwerkliche Meisterwerke, die im Akkord produziert wurden: Und zwar wurden die Trennbretter hochgestellt, dann das Unterteil und die Seiten befestigt und schließlich die Weidenzweige angenagelt. Die Orangen selbst wurden mit einer Spezialschere geerntet, so daß man mit einem Mal eine große Menge an Orangen ernten konnte. Und so stand ganz Nachlat-Yehuda auf Leitern und erntete Orangen mit den Spezialscheren. Bei der Arbeit wurde viel gesungen und man spürte die Freude, die sich verbreitete. Nach dem Pflücken wurde jede einzelne Orange überprüft. Die Orangen, die Flecken oder Missbildungen hatten, wurden aussortiert. Und nur die besten wurden zum Export bestimmt. Wir nannten sie „Tapuach Zahav“, also „Goldäpfel“. Diese wurden einzeln in Papier verpackt und in die Kisten in zwei Kammern gefüllt. Zum Schluß wurden die Kisten mit einem Brett oben verschlossen und mit einem Spezialhammer zugenagelt. Dabei musste natürlich aufgepasst werden, dass die Nägel nicht die Früchte beschädigten. Es war eine sehr laute Arbeit, die von absoluten Spezialisten gemacht wurde. Noch heute ziehe ich vor Bewunderung meinen Hut vor diesen Menschen, die keine Schreinerausbildung hatten und nur sehr wenig Werkzeuge, die aber eine absolute Spitzenarbeit lieferten. Von dieser Ernte ernährten sich Tausende von Menschen: Kistenmacher, Ernter, Sortierer, Verpacker, Transportunternehmen, Hafenarbeiter und natürlich auch die Kunden, die die Orangen bekamen...
Abgesehen von der Orangenernte war das Leben in Nachlath-Yehudah nicht sonderlich aufregend. So waren es die kleinen Dinge, die mir in schöner Erinnerung geblieben sind. Zum Beispiel der Besuch beim Friseur: Noch heute spüre ich den Inhalt der Sprühflasche (billiges Eaux de Cologne) in meinen Haaren, und komme mir vor wie im Paradies. Der Duft hat mich dann immer den ganzen Nachhauseweg noch betört. Und jedes Mal, wenn ich zum Friseur ging, freute ich mich auf diese Prozedur von Neuem. Eher unschöne Erinnerungen habe ich vom Zahnarzt: Die Instrumente erinnerten mich eher an mittelalterliche Folterinstrumente denn an moderne Medizin. Es war ein dunkler Raum, wo Riemchen, Röllchen und Zangen lagen. Der Geruch war bestialisch und das Surren des Bohrers ging einem durchs Rückenmark. Um den Geräuschepegel zu verringern, spielte der Zahnarzt chassidische Musik vom Radio. Viel half das aber nicht. Ansonsten waren Arztbesuche eher selten. Vor der Schule war ich ca. vier bis sechs Mal beim Arzt gewesen, einschließlich einer Verletzung des Unterkiefers und einem Furunkel unter dem Knie. Auch hatte ich eine Verletzung am Hinterkopf, die davon trug als mein Vater Hoppe-Hoppe-Reiter mit mir spielte und ich herunterfiel und auf einem Metallteil aufschlug. Glücklicherweise waren wir damals durch die Gewerkschaft, die „Histadruth“, gut krankenversichert. Der Hausarzt meiner Mutter war Dr. Steckel, den meine Mutter noch aus Deutschland kannte.
Er untersuchte sie auch im Zusammenhang mit den Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland. (Deutschland zahlte an den Staat Israel Wiedergutmachungszahlungen für die Nazizeit, was in Israel sehr umstritten war. Der Oppositionsführer Menachem Begin nannte diese Zahlungen „Blutgeld“. Zum Schluß stimmte das israelische Parlament aber für die Zahlungen – das Land brauchte das Geld!) Er stellte wenig körperliche Schaden fest – über seelische Schäden wußte man damals leider nicht genug...

Ein kurzes Wort zu meinem Vater: Zwei Seelen wohnten, ach, in seiner Brust! Er konnte wunderbar sein, oder aber unerträglich. Einfühlsam oder jähzornig. Entweder Ludwig („Dr. Jeckyll) oder Lutz („Mr. Hyde“). Das beste Beispiel für diese gespaltene Persönlichkeit waren die obengenannten ärztlichen Untersuchungen zur Wiedergutmachung. Als Jakob Gassner, ein Freund meines Vaters, bei diesen Untersuchungen seine Leiden sehr arg übertrieben hatte, war mein Vater sehr wütend auf ihn: „Das kannst du doch nicht machen, Jakob!“, meinte er. „Das ist Betrug!“ Woraufhin Jakob folgendes antwortete: „Meine ganze Familie wurde im Holocaust ermordet. Wenn ich könnte, würde ich das 10-1000-fache meiner Beschwerden erschwindeln. Es ist ein kleiner Preis zu zahlen.“ Daraufhin wurde aus Lutz wieder Ludwig: „Jakob! Richtig so! Bravo!“
Ein weiteres Mal, wo mein Vater sich von seiner besten Seite zeigte, war Purim: Purim ist ein jüdischer Feirtag, wo es –ähnlich wie beim Fasching- Tradition ist, sich zu verkleiden. Nun liefen alle Kinder in Nachlat-Yehuda maskiert herum. Alle, außer mir. Das konnte mein Vater nicht mitansehen: Schnell wirde aus Zeitungspapier und Pappe eine Maske gezaubert, die er noch bunt bemalte. Und so konnte ich maskiert wie alle anderen durch die Straßen laufen. Übrigens war mein Vater zwar nicht unbedingt ein großer Handwerker. Jedoch hat er, außer der Maske, öfter Mal eine Kleinigkeit für mich gebastelt, u.a. auch eine Schubkarre.

Zum Kleidungskauf gingen meine Mutter und ich immer zu Fuß von Nachlat-Yehuda nach Rishon- Letzion, der nächst grösseren Stadt. Der Weg von unserer Baracke bis zum Kleidungsgeschäft war ca. 30-45 Minuten lang. Dort angekommen, probierte meine Mutter Kleider. Ich war dabei immer in ihrer Nähe. Einmal jedoch passte ich ein paar Minuten nicht auf – und meine Mutter war weg. Ich wartete 15-20 Minuten, aber sie schien wie vom Erdboden verschluckt. Ich fragte das Personal, aber keiner wusste, wo sie war. Also machte ich mich auf der Hauptverkehrsstraße entlang auf dem Nachhauseweg. Inzwischen war bereits die Dunkelheit angebrochen und im 20-Minuten-Takt fuhren Lastwägen an mir vorbei, die die Umgebung mit ihren Scheinwerfern in grauem Nebel anleuchteten. Die riesigen Reifen der Lastwägen waren größer als ich. Mit wurde mulmig zumute, was ich wettmachen versuchte, indem ich mir einredete, ich sei ein großer Held. Genutzt hat das wenig. Als ich zuhause ankam, war keiner da. Die Tür konnte ich nicht aufkriegen, da ich zu klein war. Tränen flossen mir von den Wangen. Schließlich kam die Nachbarin, Frau Meisels, und nahm mich zu ihrer Wohnung, wo sie mir etwas Tee gab, und mich zu beruhigen versuchte. Wer nicht heimkam, war meine Mutter. Jedoch nicht, weil sie mich nun endlich los hatte, sondern weil sie bei der Polizei war, um mich als vermisst anzugeben. Die Polizei suchte mich auch, konnten mich aber weder im Geschäft noch auf dem Weg noch zuhause finden. Meine Mutter war schon ganz mit den Nerven fertig, als Frau Meisels mich bei ihr ablieferte. Ende gut, alles gut.

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