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Israel

Für uns änderte sich wenig nach der Staatsgründung – mit der Ausnahme, dass keine britischen Soldaten mehr zu sehen waren. Wir lebten auch weiterhin in unserer Baracke.
Unser Hausherr war ein Herr Meschiach, ein Einwanderer aus Bulgarien. Wie viele andere, konnte er Deutsche nicht ausstehen, und machte auch keine Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden. Eines Tages sprach er meinen Vater mit „du dreckiger Deutsche“ an. Mein Vater stand daraufhin stramm – und sang die bulgarische Nationalhymne (er hatte in der Schule verschiedene europäische Nationalhymnen auswendig gelernt). Die Augen des Herrn Meschiachs glänzten daraufhin. „Arie, ab heute bist du Bulgare!“ sagte er die Tränen unterdrückend. Von da an war die Beziehung mit Herrn Meschiach besser...

Herr Meschiach war ein älterer Herr und verkaufte das Haus an einen Orangenhainbesitzer namens Barowski. Zu dessen Besitz gehörten auch Grapefruit- (Pampelmuse), Zitronenhaine als auch Bienenstöcke. Er baute einen großen Hühnerkäfig, die Tiere erhielten Mais als Futter. Für die damalige Zeit war Herr Barowski sehr wohlhabend und konnte sich sogar ein Haus mit vier bis fünf Zimmern leisten.

Wir hingegen wohnten zur Miete in einer Baracke, die mehr oder weniger baufällig war. Sie bestand aus drei Zimmern: Einem Eingangsraum, der als Schlafzimmer diente, einer Abstellkammer die Werkzeugraum war und einer Küche. In der Küche war eine gusseiserne Spüle, ein Wasserhahn, drei Petroleumkocher, zwei Kolbenkocher mit Docht und ein Primus (Schnellkocher). Außerdem hatten wir einen Backofenaufsatz. Im Großen und Ganzen ließ sich damit gut kochen. Jedoch waren die Geräte oft defekt. Beim Primus bestand permanent die Gefahr, dass mit ihm die ganze Küche in die Luft fliege. Es roch ständig nach Petroleum. Als Baby und Kleinkind wurde ich in der Küche gebadet. Im Schlafzimmer wohnten und schliefen vier Personen: meine Eltern, ich und der Hund. Wir hatten eine Hündin namens Frina, ein Boxer, der mich einmal biss, als ich versehentlich auf sie trat. Als sie starb, schafften meine Eltern wieder einen Boxer an, dieses Mal einen Rüden: Er hieß Max, wohl nach seinem Namensvetter, dem Boxer Max Schmeling, und war von einer viel netteren Natur.

Das Schlafzimmer war nicht unbedingt in der besten Verfassung: von der Decke fiel der Putz herunter und Stromleitungen liefen hindurch. Sie waren unsauber verlegt, was aber wenig ausmachte, da wir im Schlafzimmer sowieso keinen Strom hatten: Den gab es nur in der Küche und im Werkraum, wo ich mir einmal einen kräftigen Stromschlag geholt hatte, der aber glücklicherweise keinen bleibenden Schaden anrichtete. Ansonsten standen im Schlafzimmer zwei Betten, nämlich das meiner Eltern und mein Bett. Auf den Betten aus Stahlrohr lagen Matratzen, die Spiralfederböden darunter brachen hin und wieder. Ansonsten hatten wir einen Tisch mit vier Flechtstühlen. Der einzige Wertgegenstand, den wir besaßen, war ein Aquarellbild des Münchner Malers Fidus, das meine Eltern an die Wand hingen, wohl, um zumindest eine Erinnerung an ihre alte Heimat zu haben. Für mich sagte das Bild aber wenig aus. Als größten Luxus empfand ich etwas anderes, nämlich das Radio, das wir besaßen. Dieses einfache Gerät aus Bakalit hatte für mich damals einen größeren Wert als heute jeder Flachbildfarbfernseher.

In Nachlat Yehudah kannte ich nur zwei Familien, die arm waren: die Napolskis und die Rosendahls. Und die Napolskis hatten immerhin ihr eigenes Grundstück, das auch eine bessere Lage hatte als unsere Baracke. Kleidung bekam ich hauptsächlich von Tante Ruth, die damals noch in Kfar Sirkin wohnte. Auch gab sie mir viele Spielzeuge, u.a. ein Tretauto, mit dem ich schon das richtige Einparken übte. Unsere Nachbarschaft bestand hauptsächlich aus Einwanderern aus Polen und Russland. So war unser Vermieter, Barowski, Pole, während unsere Nachbarn, die Hubermanns, Russen waren. Und der Rest der Nachbarschaft hieß Jackobi, Daschewski, Rubaschkin und Lischka, alles osteuropäische Namen. Einige jedoch hebräisierten ihre Namen zu Slomin oder Chowew. In der Nachbarschaft hatten viele eigene Felder, die sie bestellten. Sowohl Barowski als auch Hubermann, Chowew und Jackobi gehörten zu den Landbesitzern, wobei Jackobis eine Zeit lang sogar einen Weinberg besaßen.

In der Nachbarschaft wohnte ein gleichaltriges Mädchen namens Edna (Edna Darchewski), mit der ich mich gut verstand. Sie zog aber bald weg, so dass ich ziemlich einsam blieb. Jedoch auch da half mir meine geliebte Tante Ruth: Sie gab uns nämlich zwei von ihren eigenen Ziegen ab, die unserer Familie Gesellschaft leisteten und uns mit Milch versorgten. Einmal kam ein sehr schöner Mann namens Schönermann, der in Kfar Malal wohnte, zu ihr und bat sie, ihm einen Ziegenbock auszuleihen, um seine Ziege zu befruchten. Ruth kam dieser Bitte gerne nach. Der Mann änderte seinen Namen später zu Sharon – sein Sohn war Ariel Sharon, der später Verteidigungsminister und sogar Premierminister wurde. Was unsere Ziegen betraf, hatten wir weniger Glück: Eine von den beiden wurde uns nämlich schon sehr bald gestohlen. Damit wir nicht auch noch die andere verlieren, schaffte mein Vater uns eine Hündin an. Es war die bereits oben erwähnte Frina.

Ansonsten schlief sie aber meistens den Schlaf des Gerechten. Einmal wäre mir das beinahe zum Verhängnis geworden: Ich war draußen im Laufstall, als auf einmal jemand schrie: „Ein Stier ist los! Ein Stier ist los!“ Meine Mutter schaffte es gerade noch, zu mir zu laufen und mich rechtzeitig aus dem Laufstall zu reißen. Nur Sekunden später rammte unsere Ziege den Laufstall, der hoch in die Luft flog und auf einem Baumwipfel endete. Hier bewies meine Mutter, das sie sehr tapfer und ohne Angst sein konnte. Frina hingegen hatte diese Heldentat verpasst: Sie schlief friedlich.

Kurz darauf kam ich in den Kindergarten. Auch dort war die deutsche Herkunft meiner Eltern ein Problem: So kam es vor, daß die Kinder vor unserer Wohnbaracke standen und „Nazis“ schrieen. Ich war zu klein, um zu begreifen, worum es sich handelte, aber meine Mutter traf das sehr. Alleine das Wort „Deutschland“ war damals schon ein Tabu. Einmal jedoch hat es uns sehr genutzt: Es war noch in der Zeit des britischen Mandats, und Terroranschläge (sowohl von der arabischen als auch von der jüdischen Bevölkerung) waren damals leider an der Tagesordnung. Und so kamen auch die Soldaten Seiner Majestät nach Nachlath Yehuda und durchsuchten jedes Haus nach Waffen. Als sie an unser Haus kamen und anklopften, sagte mein Vater zu meiner Mutter, sie solle mit den Soldaten auf englisch sprechen. Woraufhin einer der Soldaten antwortete: „Mit mir könnt ihr auch deutsch reden.“ Die folgende Hausdurchsuchung war dann die kürzeste, die Nachlath Yehuda jemals gesehen hatte. Übrigens waren Terroranschläge nicht nur gegen die englischen Besatzer gerichtet: Auch zwischen den jüdischen Milizen gab es gewaltsame Streitigkeiten, die in der Altalena-Episode ausarteten: Bei der „Altalena“ handelte es sich um ein Schiff der rechtsgerichteten „Irgun Zvi Leumi“ (nationale Armee), geleitet von Menachem Begin, jahrzehntelanger Oppositionsführer und späteren Premierminister, die Waffen nach Tel-Aviv einführen wollten. Die linksgerichtete „Haganah“ (Verteidigungsgruppe), geleitet vom späteren Premierminister David Ben-Gurion, verbot der „Altalena“ die Einfuhr, da Ben-Gurion einen Bürgerkrieg fürchtete und sämtliche Armeegruppen unter einem Dach vereinigt haben wollte. Es endete mit einer Explosion: Die „Haganah“ sprengte die „Altalena“, deren Mitglieder sich weigerten, ihre Waffen abzuliefern, in die Luft. Diese Explosion war in ganz Tel-Aviv zu hören. Auch ich hörte sie, denn meine Mutter und ich waren just in dem Moment in Tel-Aviv, um Besorgungen zu erledigen. Der ganze Strand wurde für ein paar Tage gesperrt. Noch Jahre später konnte man den Wrack des Schiffes von der Strandpromenade sehen. Es war ein Warnungszeichen, wie nahe wir vor dem Bürgerkrieg gestanden hatten.

Übrigens war auch das Verhältnis zu England zwiespältig: Einerseits unterstützten wir die Engländer, denn sie bekämpften die Nazis. Andererseits beschränkten sie vor allem durch das sogenannte Weißbuch die Einreise nach Palästina und waren außerdem eine Besatzungsmacht. Der spätere Premierminister David Ben-Gurion fasste das einmal so zusammen: „Wir kämpfen mit England (gegen die Nazis), als ob es kein Weißbuch gäbe. Und wir kämpfen gegen England, als ob es keinen Krieg (2. Weltkrieg) gäbe.“ Bei mir in der Familie gab es jedenfalls einige Mitglieder, die für die Engländer kämpften: So war meine Tante Brigitte, die Schwester meiner Mutter, bei der Royal Air Force. Als sie zu Besuch nach Palästina kam, nahm sie mich auf eine Fahrt in einem Doppeldeckerbus mit. Das war ein tolles Ereignis für mich, denn ich hatte so einen Bus noch nie gesehen gehabt. Allgemein gab es nur sehr wenige Busse, und die waren zumeist schrottreif. Übrigens ist Tante Brigitte dann nach dem Krieg für den Rest ihres Lebens in England geblieben, wo sie 1994 verstarb. Tante Ruths Mann, Onkel Heinz, war auch in der englischen Armee. (Übrigens bewarb sich mein Vater bei der Jüdischen Brigade, wurde aber nicht genommen, da er auf einem Auge blind war) Um Tante Ruth zu helfen, verbrachte ich einige Monate in Kfar Sirkin, einem Dorf, wo sie lebte. Als Onkel Heinz zurückkam, versuchte er sich als inoffizieller Banker, d.h. er verlieh Geld zu Prozenten. Leider zahlten die Gläubiger so gut wie nie zurück, so daß dieses Geschäft nicht sehr lange standhielt. Er war zu großmütig. Später waren Tante Ruth und Onkel Heinz Mitbegründer von Bnei Zion, einem Moshav (landwirtschaftlichen Kollektiv), wo sie bis zu ihrem Tod lebten. Ihr Sohn, mein Cousin Dan, lebt dort immer noch. Dans große Liebe als Kind war Channah Katz, das Nachbarsmädchen. Sie war pummelig, aber sehr hübsch, mit schwarzem Haar, das sie geflochten trug. Tante Ruth erzählte mir, dass Channah oft mit lauter Stimme und voller Selbstvertrauen vor der Tür stand, Dan bei der Hand packte und ihn zur Schule zog. Übrigens lebt mein Cousin immer noch in Bnei Zion, zusammen mit seiner Frau (sie haben keine Kinder) und betreibt auch weiterhin Landwirtschaft – er verkauft Gemüse und Hühnereier. Channah Katz ist aber weggezogen und lebt mit Mann und Kindern in Petach Tikvah, einer Stadt, die ich bereits als Kind besonders toll gefunden habe: Insbesondere ist der offene Markt in der Stadtmitte (für Lebensmittel, Gebrauchswaren und Kleidung) wunderschön und viel exotischer als der in Tel-Aviv. Und natürlich ist um alles gefeilscht worden.

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