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Ruth

Tante Ruth wurde geboren, als mein Vater in der Grundschule war. Sie war intelligent, klug und sehr hübsch, insbesondere ihr Haar, dass sie zu einem Zopf geflochten trug. Während die Erziehung meines Vaters (er wurde Handelsdiplomkaufmann) vielleicht wenig überrascht, so ist die Tatsache, dass sowohl meine Mutter als auch Tante Ruth das Abitur bestanden, schon sehr bemerkenswert und sehr ungewöhnlich für die Zeit, in der sie aufwuchsen. Ruth hatte oft mit Antisemitismus in der Schule zu kämpfen: So weigerte sich in der Grundschule eine Mitschülerin neben ihr zu sitzen. Als Tante Ruth sie nach dem Grund fragte, sagte die Mitschülerin: „Weil ihr unseren Herrn Jesus ermordet habt!“ – worauf Ruth richtigstellte, dass Jesus, ein Jude, wohl eher unser als ihr Herr sei. Später in ihrer Schulzeit – die Nazis waren bereits an der Macht – bat ein Lehrer sie, etwas auf die Tafel zu schreiben. Als sie fertig war, meinte er: „Bitte wischen Sie die Tafel und die ganze Mischpoche (Jiddisch für Familie).“ Tante Ruth ließ diese Beleidigung nicht auf sich sitzen und zeigte den Lehrer an. Er wurde der Schule verwiesen. Wenn Ruth diese Erinnerung mit mir teilte, war ich immer sehr beeindruckt, wie ein jüdisches Mädchen es geschafft hatte, ihren deutschen („arischen“) Lehrer während der Nazizeit von der Schule zu verweisen. Trotz dieser und anderer antisemitischen Begebenheiten bestand Tante Ruth, wie gesagt, ihr Abitur und lernte Gartenbau. Ihrem Titel als Diplomgärtnerin machte sie alle Ehre, als sie später nach Palästina (später Israel) zog und dort über 60 Jahre lang Landwirtschaft betrieb.

Tante Ruth absovierte ihre Ausbildung auf der baltischen Insel Wollin, vor der polnischen Küste. Dort war sie das einzige jüdische Mädchen auf der Gärtnerei. Und obwohl die Nazis bereits an der Macht waren und Wollin zu Deutschland gehörte, konnte Ruth dort ihre Ausbildung beenden. Auf Wollin hat sie nie Antisemitismus erlebt. Trotzdem war ihr früh klar, dass Juden keine Zukunft in Deutschland hatten – und sie bereitete sich auf die Auswanderung nach Palästina vor.

So machte sie „Hachsharah“ (Vorbereitung zur Einwanderung) in Dänemark. Dort traf sie auf Dvorah Goldschmidt, ihre zukünftige Schwägerin. Eine interessante Aneinanderreihung von Zufällen wollte es, dass mein Vater Dvorahs Schwester Brigitte auf dem Schiff nach Palästina traf. Dvorah und Ruth konnten sich anfangs nicht ausstehen: Die sehr gebildete Dvorah - die in Mathematik nur glatte Einser und eines der besten Abiturergebnisse Deutschlands hatte - war nämlich der physischen Arbeit eher abgeneigt. Tante Ruth hingegen sah in der Arbeit der Erde einen Lebenssinn. Und so ergab es sich, dass Tante Ruth 1936 in Palästina ankam und dort bis zu ihrem Lebensende 2006 sich der Landwirtschaft widmete. Meine Mutter Dvorah kam im selben Jahr an – jedoch Landwirtschaft war nie eine große Leidenschaft für sie. Am Hafen in Haifa wartete ein gewisser Hr. Strauss, dessen Familienmitglied mit Ruth ankam. Tante Ruth und Hr. Strauss unterhielten sich recht nett. Er besaß eine Kuh und wollte selbst gemolkene Milch verkaufen. Heutzutage ist Strauss ein Wirtschaftsimperium in Israel, dessen Milchprodukte in sämtlichen Supermärkten des Landes verkauft werden. Geleitet wird Strauss übrigens von Ofra Strauss, der Enkelin dieses Herrn Strauss, der damals eine einzige Kuh besessen hat.

Palästina

Tanta Ruth kam also 1936 in Palästina ohne größere Probleme an. Bei meinem Vater verhielt es sich da anders: Nach der Warnung des Polizeibeamten in Recklinghausen zog mein Vater erst einmal weg aus Datteln, zuerst nach Bonn, und dann nach Oberschlesien, zur Hachscharah. Dort lernte er Peter Heckmann, einen jüdischen Sozialdemokraten, kennen, der ihm später helfen sollte, zurück nach Datteln zu ziehen. In der Hachscharah blieb mein Vater bis 1937, wo sein Pass jedes Jahr für genau ein Jahr verlängert wurde. Am 4. November des Jahres ging mein Vater nach Dänemark, wo er in der Landwirtschaft arbeitete. Er sagte immer, dass Dänemark, verglichen mit Deutschland, ein Paradies sei: Während in Deutschland das Motto „Kanonen statt Butter“ ausgegeben wurde, war es in Dänemark genau umgekehrt. Die Landwirtschaft wurde sehr gefördert, so dass Dänemark zu den fortschrittlichsten Ländern in Europa in diesem Bereich zählte. Das hatte zur Folge, dass man Brot oder Kuchen für Pfennige kaufen konnte. Zudem war Kopenhagen eine Weltstadt, wo Lebensfreude herrschte. Aber am meisten beeindruckte meinen Vater die komplette Absenz von Antisemitismus: Bekanntlich hatte König Christian, als die Nazis Dänemark besetzten und verlangten, dass die Juden den gelben Stern tragen, sich als erstes einen „Judenstern“ angeheftet. „Der Erste, der den Stern trägt, bin ich“, soll er gesagt haben. Das Dekret wurde daraufhin verworfen, und Dänemarks Juden wurden gerettet. Mein Vater erlebte auch persönlich niemals Antisemitismus in Dänemark.

In Dänemark wurde meinem Vater mitgeteilt, dass er eine Scheinehe einzugehen habe: Um in seinem Alter nach Palästina einzuwandern, musste man – so hatten es die Engländer bestimmt - verheiratet sein. Also wurden mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip Paare zusammengestellt. Dies hatte zugleich den Vorteil, dass man pro Paar nur ein Visa beantragen musste. Auf jeden Fall wurde mein Vater auf diese Weise verheiratet und konnte weiter, in Richtung Palästina.

Zunächst ging es aber nach Polen, wo der Antisemitismus sehr schlimm war. Mein Vater meinte immer, dass auf jedes Mitglied der NSDAP ein polnischer Antisemit käme. Von Polen fuhr er über Jugoslawien nach Triest, das damals in einen jugoslawischen und einen italienischen Teil geteilt war. Er fuhr mit dem Schiff vom italienischen Teil schließlich nach Palästina. Wie es der Zufall so wollte, traf er auf dem Schiff Brigitte Goldschmidt, die Schwester meiner Mutter (ein paar Jahre vorher hatte seine Schwester, Tante Ruth, meine zukünftige Mutter getroffen). Auch traf er auf Adi Berger aus Siegesdorf (bei Bonn). Die beiden wurden lebenslange Freunde, und auch ihre Kinder und Enkel sind noch in engem Kontakt.

Mitte März 1938 kam mein Vater in Palästina an, am Hafen von Haifa. Er hebräsierte seinen Namen zu „Arie“ (Löwe) und ging auf Beutejagd. Allein – seine „Ehefrau“ und er gingen gleich nach ihrer Ankunft verschiedene Wege - machte sich mein Vater auf den Weg in verschiedene Kibbutzim: Kibbutz Dan, Kibbutz Dafna waren nur zwei der vielen landwirtschaftlichen Kollektive, wo er sich zum Arbeiten anwarb. Kibbutz Dafna wollte ihn aufgrund seiner Fleißes gleich anwerben, aber mein Vater lehnte ab: Er liebte seine Freiheit, und konnte sich nicht vorstellen, in einem landwirtschaftlichen Kollektiv, wo man alles teilen müsse und keinen Platz für sich selbst habe, zu leben. Später ging er nach Beer Tuvia und Ezra-Bizaron. Es fehlte so ziemlich an allem: Morgens gab es Tee und eine Scheibe Brot mit Marmelade, und ab und an ein Stück eingelegten Fisch. Die Schwerstarbeiter bekamen manchmal als Belohnung zwei Scheiben Brot mit Marmelade. Unruhen und Überfälle der arabischen Bevölkerung auf die Kibbutzim und Moshavim waren an der Tagesordnung, so dass bald jedes Kibbutz einen Wachturm hatte und außerdem von seinen Mitgliedern patrouilliert wurde. Arbeit gab es zur Genüge: Sümpfe mussten trocken gelegt werden, und das Land musste zu landwirtschaftlich nutzbarem Boden gemacht werden. Malaria war sehr weit verbreitet. Als mein Vater in Chamadia arbeitete, bekam er diese Krankheit selbst. Das einzige Mittel dagegen war damals Chinnin. Es half, aber machte meinen Vater schwerhörig. So war er für den Rest seines Lebens halbblind und halbtaub...

Aber es gab auch gute Nachrichten: Mein Vater lernte Dorothee (Dvorah) Goldschmidt kennen und stellte sie Tante Ruth vor, die sie gleich wiedererkannte. „Wir wollen heiraten“, verkündete er laut. Tante Ruth bat ihren Bruder, nicht voreilig zu handeln, was ihn sehr wütend machte. Schließlich gab sie ihm ihren Segen und wünschte ihm viel Glück. 1940 heirateten meine Eltern in Ezra-Bizaron. Mein Vater wollte sich den Tag freinehmen. Sein Arbeitgeber jedoch sagte ihm, dass das unmöglich sei. Ob er heirate oder nicht, sei Ludwigs Problem. Um 8 Uhr früh pünktlich zu beginnen, sei jedoch sein –des Arbeitgebers - Problem. Jedoch nach der Arbeit könne er machen, was er wolle. Und so ging mein Vater zur Arbeit. Am späten Nachmittag heirateten meine Eltern, ein Galadinner folgte: Linsensuppe...

Meine Mutter wurde umgehend schwanger, bekam jedoch Gelbsucht und erlitt eine Fehlgeburt. Das war für meine Mutter eine sehr traumatische Erfahrung, weil sie während dieser Zeit wie eine Aussätzige behandelt und gemieden wurde. Auch fühlten sich meine Eltern in Ezra-Bizaron nicht sehr wohl, unter anderem deshalb, weil sie zu den wenigen europäischen Juden zählten, für die die Traditionen der orientalischen Juden, die in dieser Region die Mehrheit stellten, sehr fremd waren.

Meine Eltern zogen also um – nach Nachlath Yehuda. 1941 wurde meine Mutter erneut schwanger, und am 17. Mai 1942 wurde ich geboren. Meine Geburt ist eine interessante, und richtig jüdische Geschichte: Das Datum stand fest, der Krankenwagen und ein Krankenzimmer im Krankenhaus Beilinson in Petach-Tikvah waren bereits bestellt worden. So kam der Krankenwagen also pünktlich an und man begrüßte sich freundlich mit „shalom, shalom“. „Bitte zum Krankenhaus Beilinson“, sagte mein Vater. „Ken, ken“, (ja,ja) antwortete der Fahrer und fuhr los. Jedoch nicht nach Petach-Tikvah, sondern nach Tel-Aviv. „Beilinson!“, rief mein Vater. „Beseder“ (in Ordnung) sagte der Fahrer – und fuhr weiter in die falsche Richtung. Es entwickelte sich ein regelrechter Streit zwischen den beiden, so dass mein Vater schließlich drohte, einen anderen Krankenwagen zu verlangen. Und auf einmal ging es in die richtige Richtung, zum Krankenhaus Beilinson. Mir war jedoch die Wartezeit zu lang geworden und so kam ich bereits im Krankenwagen auf die Welt. Die Hebamme kam, gratulierte meinen Vater – und ich war da. Es war der 17. Mai 1942.

Aufgewachsen bin ich in Nachlat Yehuda, in einer Baracke. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen war die UN-Resolution vom 29. November 1947, als sich die Mehrheit der Vereinten Nationen für die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat entschied. Das ganze Land war vor den Radios versammelt und sank in einen Freudentaumel – nach 2000 Jahren gab es wieder einen unabhängigen jüdischen Staat! Leider fing kurz darauf der Unabhängigkeitskrieg wieder an, so dass die Freude nur kurz währte. Eine weitere Erinnerung: Im Radio erklang das Lied „Batshewa“ von der berühmten israelischen Sängerin Shoshana Damari – und während das Lied gespielt wurde, flogen über unserem Haus israelische Militärhubschrauber, die „Batshewa“ hießen. Noch heute laufen mir bei dieser Erinnerung die Tränen herunter – sowohl Tränen der Freude über die neue Heimat in Israel als auch Tränen der Trauer über den Preis, den wir zu zahlen hatten (10% der Bevölkerung fiel im Unabhängigkeitskrieg). Am 15. Mai 1948 rief David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des Staates Israels aus. Eine neue Ära begann.

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