Bewundernswerte Nahrung der Pflanzen, von Brockes

Nicht weit von zwo erhab'nen Linden, die wolkenwärts die Äste streckten,
Und welchen erst entspross'ne Blätter die oft geteilten Zweige deckten,
Besah' ich jüngst derselben Pracht, bewunderte des Wuchses Höh',
Betrachtete der beiden Wipfel gebogner Zweig' und Blätter Menge,
Zumal der von der Wurzel ab so weit gedehnten Fibern Länge,
Und fasste nicht, wie ihre Nahrung durch so entfernte Wege geh'.
Wie, dacht' ich, können ihre Höhen, so weit entfernet von der Erden,
Da sie kein Mensch begießen kann, getränket und genähret werden?
Die hohen Wipfel brauchen Nässe; wer tränket, wer begießet sie?
Würd' auch der allerklügste Mensch, mit aller Kunst, mit aller Müh',
So große Körper anzufeuchten, sie zu besprühen, sie zu tränken.
Ein Mittel zu ersinnen wissen, ja nur die Weise zu erdenken?
So aber hat ein andrer Geist, ein weit erhabnerer Verstand,
Ein herrlich Mittel ausgefunden: das, weil es uns zu sehr bekannt,
Zwar nicht von uns bewundert wird; das aber an sich selber wert,
Dass man's bemerket, und darin die Weisheit des Erfinders ehrt,
Sammt seiner Lieb' und seiner Macht. Es ziehen, aus der tiefen See,
Durch der beflammten Sonne Kraft, sich Feuchtigkeiten in die Höh',
Versammeln sich, formieren Wolken, und werden, als im Schlauch gefasst,
Von Winden hin und her getrieben, bis sie zuletzt, durch eig'ne Last,
Sich wieder abwärts senken müssen: da, wenn sie nun herunter eilen,
Die ihnen widersteh'nden Lüfte sie sanfte von einander teilen,
Daß sie nur tröpfelnd fallen können; wodurch, recht wie ein Gärtner gießt,
Der Trank der Blätter und der Pflanzen nur mählich auf dieselben fließt,
Sie netzet, kühlt, erfrischt und tränkt: da sie sich durch die hohlen Röhren,
Nachher annoch von unten auf, durch ein besonders Triebwerk, nähren;
So noch ein neues Wunderwerk. Ein Tier bemerket dieses nicht,
Und sieht in dem, was in dem Regen Bewundernswürdiges geschicht,
Kein' Absicht, keine Weisheit, Ordnung, noch Fruchtbarkeit noch' Nutz, noch Segen.
Allein die kluge Kreatur, der Mensch, wird dies oft überlegen,
In diesem unentbehrlichen und segenreichen Welt-Getränke,
Ein ihm, nebst allen Pflanzen, Tieren, so nöt- als nützliches Geschenke
Befinden, sich darüber freuen, dem Geber öfters dankbar sein,
Zu Ihm in Gegenlieb' entbrennen, und Ihn verehren? Leider! nein,
Die meisten danken nie dafür, ja denken nicht einmal daran;
So daß man: Ja so viel, als wir, dankt auch ein Tier! wohl sagen kann.

Brockes



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Lust, Lob und Trost der edlen Landwirtschaft. Teil 1