Fürchte nicht die Gefahren dieser großen fremden Welt
Nein, meine theure geliebte Großmutter, rief Klara, indem sie sich weinend in die Arme der Fau von Burg warf, fürchte für mich nicht die Gefahren dieser großen fremden Welt. Der geliebte Freund, dem du mich anvertrauest, fuhr sie fort, indem sie ihrem Gatten, dem Grafen Nordeck, die Hand reichte, wird mir ein sicherer Führer sein. Und trage ich nicht dein Bild im Herzen? wird mir nicht ewig jede Erinnerung an dich zur Mahnung werden, deiner werth zubleiben? Kann dein Kind aufhören, dich zu lieben?
Nordeck zog seine Gemahlin sanft aus den sie umschlingenden Armen der ehrwürdigen Großmutter, von der sie seit ihrem vierten Jahre, wo der Tod ihrer Eltern sie zur Waise machte, erzogen war. Sorgen Sie nicht für Klara’s Geschick, bat er; ein reines Herz ist auch ein starkes Herz, und welche Gefahr kann sie bedrohen, wenn die Liebe sie beschützt?
Ach, antwortete Frau von Burg, bis jetzt ist sie in ihren süßen Jugendträumen von Menschenwerth und Menschenglück so ungestört geblieben, daß ich bei ihrem Eintritt in die Welt vor dem unausbleiblichen Erwachen aus demselben wol bangen muß. Unschuld, Liebe und Vertrauen waren die Schutzengel ihrer kindlichen Unbefangenheit, und sie hat bis heute, unbekümmert um die Folgen ihrer Handlungen, die Bedeutung ihrer Worte, nur den Eingebungen ihres Herzens gehorcht. Alle Sitten, Gebräuche und Meinungen der großen Welt sind ihr durchaus fremd. Seit vierzig Jahren aus den Stürmen des Lebens in diese stille, ländliche Abgeschiedenheit gerettet, bin ich selbst mit der jetzigen Welt so unbekannt, daß ich Klara aus meiner Vergangenheit, die wie ein halb vergessener Jugendtraum hinter mir liegt, keine für die Gegenwart brauchbare Lebensregeln mitzutheilen wußte. Für den Unerfahrenen sind diese überdem doch nur ein leeres Kapitel; nur der Erfahrene prüft sie mit dem Interesse, mit dem der Weltumsegler eine Reisebeschreibung liest die ihm die bekannten Klippen und Untiefen und seine bei ihrer Umschiffung bestandenen Gefahren zurückruft. Klara steht jetzt an einem Wendepunkte ihres Geschickes, der für ihr Glück und ihren Werth entscheidende Folgen herbeiführen muß; ich lege die Leitung desselben mit meinem besten Segen vertrauensvoll in Ihre Hände, lieber Sohn. Bringen Sie sie mir gut und unverdorben zurück, wie ich sie Ihnen jetzt übergebe, und sein und bleiben Sie ihr in allen Lagen ein weiser, zärtlicher und nachsichtiger Freund.
Nordeck drückte die Hand der ehrwürdigen Frau an seine Lippen, und die Thräne, die sein Auge füllte, wiederholte das Gelübde, das er am Morgen dieses Tages vor dem Altar ausgesprochen hatte. Er umfaßte seine Gattin und trug sie rasch in den mit vier Postpferden bespannten Wagen, der sie dem Landgute entführen sollte, dessen Umkreis bis jetzt ihre Welt gewesen war.
Noch in der Blüte des männlichen Alters, gehörte Graf Nordeck schon zu den ausgezeichnetsten Staatsmännern unserer Zeit. Seine Jugend hatte er auf Reisen und an den größten Höfen Europas zugebracht und es schwer gefunden, die Anfoderungen der Weltklugheit mit seiner moralischen Kraft und der sittlichen Reinheit seines Willens in ein richtiges Verhältniß zu bringen. Ungefährdet und unverletzt vermochte er seine Laufbahn als Diplomat nicht zu wandeln; doch blieb ihm stets die Erkenntniß des reinen Menschenwerthes und seine Hochachtung desselben, und je heller er den Trug des Weltverkehrs und die glänzende Nichtigkeit alles Dessen, was sich in ihm und durch ihn erstreben läßt, kennen lernte, desto lebendiger und tiefer wurde seine Sehnsucht nach einem stillen und wahren Herzensglück. Er erkannte die Gefahr, bei diesem flüchtigen Umherstreifen, bei diesem täglichen Verkehr mit Menschen, die den Menschen nur als Mittel, nur als Repräsentanten von Diesem und Jenem betrachten, sein Herz allmälig an der Fähigkeit, lieben und vertrauen zu können, verarmen zu fühlen. Fast allgemein glaubt man, der Verstand müsse durch mannichfaltige Lebenserfahrungen gewinnen und die Klugheit durch die Menschenkenntniß, die man ihnen verdankt, reifer werden; doch Nordeck empfand, daß man bei einem frischen, kräftigen Herzen, wenig Zweifel und viel Glauben an das Gute sicherer auf dem Wege zur Wahrheit und zum Glücke wandele, als es an der Hand des Weltverstandes und der Lebensklugheit zu geschehen vermag. Die vornehmen jungen Männer unserer Zeit sehen gemeinhin das Familienleben nur als eine Zuflucht an, die sie erst dann aufzusuchen brauchen, wenn sie sich auf ihrer Wanderung durch die Welt stumpf und müde gelaufen haben. Nordeck dagegen glaubte, daß man, einmal zu diesem Punkt ermattender Abspannung gelangt, so wenig mehr glücklich zu sein als glücklich zu machen vermöge, und war daher entschlossen, das Glück zu ergreifen so lange sein Herz noch die Kraft habe, es frisch und fröhlich zu empfinden. Reich, vornehm, von edler Gestalt, wurde er von den Müttern gefeiert, von den Töchtern ausgezeichnet, fand aber kein Mädchen, das er seine Gattin zu nennen gewünscht hätte. Da erhielt er von seinem Hofe den Befehl, mit geheimen Aufträgen nach Petersburg zu gehen, wo er, ohne officiell als Gesandter aufzutreten, doch wahrscheinlich ein bis zwei Jahr bleiben mußte. Auf der Reise dorthin führte ihn eine Familienangelegenheit zu der Frau von Burg, die er, ohne sie persönlich zu kennen, als eine treffliche Frau und als die geliebteste Jugendfreundin seiner verstorbenen Mutter ehrte. Frau von Burg wohnte in einer der reizendsten Gegenden unsers deutschen Vaterlandes, und als Nordeck an einem schönen Frühlingsabend von dem Gipfel eines Berges herab das Thal erblickte, in dem ihr Gut lag, glaubte er ein Paradies vor sich zu sehen: klare, stille Seen, maigrüne Saatteppiche, Fluren und Wiesen mit blühenden Fruchtbäumen eingefaßt, schattige Gebüsche auf den Bergen, grünes Walddunkel voll Nachtigallgesang und Quellengeriesel, reinliche Dörfer, Kirchen, die wie geweihete Friedensstätten dalagen - und in diesem Paradiese fand er gute, glückliche Menschen, fand an der Seite ihrer Großmutter die kaum siebzehnjährige Klara, blühend in vollem Zauber jener reinen, süßen Anmuth, die die unvergängliche Liebenswürdigkeit einer edeln, weiblichen Natur verbürgt. Alle seine Jünglingsträume gingen in diesem Elysium wie eine neue Morgenröthe des Daseins entzückend und verklärt in der Seele des Mannes wieder auf, und je länger er Klara sah, desto beglückter und vertrauender wurde er.
In Klara’s Herzen schlummerten die tiefsten und mächtigsten Gefühle noch unter dem Rosenduft reiner Kindlichkeit; ungefesselt von irdischer Schwere schwebte diese zarte Psyche, die die Natur in das Gewand der blühendsten Jugendschönheit gehüllt hatte, über das Leben hin. Ihre tiefblauen Augen schwammen in jenem ätherklaren Krystallglanz, der dem Menschenauge nur so lange entstrahlt, als noch keine Leidenschaft den mieden himmlischer Unschuld in unserer Seele getrübt hat. Lange dunkle Wimpern beschatteten den wundervollen Glanz dieser Augen, und einen ganz eigenen Zauber verlieh dieser holdseligen Erscheinung die Ahnung, daß sie sich im auf einiger Jahre zu noch herrlicherer Schönheit, die Knospe zur vollen Blüte sich entfalten werde. Nordeck führte durch seine Liebe für Klara den Uebergang von bewußtloser Kindlichkeit zur Jungfräulichkeit rasch herbei; sie verehrte ihn, wie sie ihren Schutzgeist verehrt haben würde, wenn er ihr sichtbar erschienen wäre, und mit tiefer Rührung und unaussprechlicher Wonne sah er in ihrem Besitz für sich das wahrste und höchste Glück erblühen. Die Zeit drängte ihn in ihren Anfoderungen; in dem kurzen Zeitraum weniger Wochen lernte er Klara kennen, warb um sie und empfing am Altar das Gelübde ihrer Liebe und Treue.
Als Klara jetzt an seiner Seite in dem Reisen wagen saß, war es, als wolle sie noch im Vorübereilen liebend von diesen, Fluren und Gebüschen Abschied nehmen, die der Schauplatz der Freuden ihrer Kindheit gewesen waren; sie bog sich weinend aus dem Wagenfenster und schien es ganz zu vergessen, daß sie nicht allein war; plötzlich wandte sie sich aber um und reichte ihrem Gatten die Hand mit einem Blick, der Verzeihung für ihren Schmerz zu fodern schien. Nordeck’s Zärtlichkeit, der Reiz seiner Unterhaltung, die Zerstreuung der Reise - es war die erste, die Klara über die Grenze des Thals führte - besänftigten allmälig den Trennungsschmerz, den sie empfand; er unterhielt sie durch eine Beschreibung von Petersburg und entwarf ihr ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie dort eintreten sollte. Klara hörte ihm mit Vergnügen zu; doch nie vergaß sie in dem Bild von ihrer Zukunft und der Freuden, die sie erwarteten, das Wiedersehen ihrer theuersten und geliebtesten Gespielin und Freundin voranzustellen, die seit einem Jahre in Petersburg lebte.
Wie glücklich bin ich, sagte sie eines Tages zu Nordeck, daß gerade das einzige bekannte Wesen, das ich in Petersburg vorfinde, meine Herzensfreundin ist. Ich habe, seitdem Frau von Walden Therese nach Rußland mitnahm, nur selten Nachricht von ihr gehabt, und dies betrübte mich sehr, da ich bis zu unserer Trennung gewohnt war, sie täglich zu sehen.
Du kennst ja auch wol den jungen Walden, da dieser gleichfalls in Deutschland erzogen ist? fragte Nordeck.
O ja, antwortete Klara erröthend; er brachte seine Ferien immer bei der Tante meiner Therese in Rosenhof zu, und wir sahen uns dann täglich.
Klara’s Erröthen fiel Nordeck auf; die Reinheit ihres klaren Blickes und die unbefangene Ruhe, mit der sie lächelnd zu ihm aufsah, machten dies Erröthen unverdächtig; aber er konnte es doch nicht lassen, sie neckend zu fragen, warum sie roth geworden sei?
Die Farbe ihrer Wangen wurde noch lebhafter, doch zögerte sie keinen Augenblick, ihm mit der Aufrichtigkeit eines Engels zu gestehen, sie wisse es selbst nicht; aber es sei ihr bei Nennung von Walden’s Namen schon öfter begegnet, daß sie roth geworden sei. Ich hatte Gustav sehr lieb, setzte sie hinzu, fast so lieb wie meine Therese, da wir Drei gewissermaßen mit einander aufgewachsen sind, und doch konnte ich meine Blödigkeit gegen ihn nie ganz überwinden. Als er das letzte Mal bei seiner Tante war, um von uns vor seiner Rückkehr nach Rußland Abschied zu nehmen, war er sehr betrübt, obgleich er zu seiner Braut reiste, und auch ich habe viel geweint, als er schied, und konnte mich lange nicht über seine Abreise trösten.
Schweige, rief Nordeck bewegt, wecke mich nicht aus dem süßen Traume, der Gegenstand deiner ersten Liebe, deiner ersten Jugendneigung zu sein!
Klara sah ihn groß an. Wohl bist du das, antwortete sie, indem sie seine Hand zärtlich an ihr Herz drückte; wie hätte ich denn Gustav lieben können? er war ja schon seit seiner Kindheit mit einer Andern verlobt und hat nie daran gedacht, mich heirathen zu wollen. Nein, lieber Nordeck, setzte sie mit dem vollen Ausdruck tief empfundener Wahrheit hinzu, ich habe gewiß nie einen andern Mann geliebt als dich; und nun ist es ja vollends ganz unmöglich, ich bin ja deine Frau.
Nordeck sah mit tiefer Rührung in ihr frommes, treues Auge und drückte sie fest an seine Brust. Er fand in ihrer unschuldsvollen Offenheit einen neuen Bürgen für die Ruhe seiner Zukunft, und doch blieb ein stummer Seufzer in seinem Herzen, da er sich nicht verhehlen konnte, daß sie sich seiner Liebe mehr dankbar und vertrauend hingab, als daß sie sie erwidert hätte. Ihr Herz schien sich, gleich einer Sensitive, zagend zu verschließen, sobald es von einem tiefern glühenden Gefühl berührt wurde, und die Liebe war in allen ihren leidenschaftlichen Empfindungen für sie immer noch ein Räthsel, für das es in ihrer Brust kein lösend des Wort gab. Er fühlte aber auch, daß ihr Vertrauen zu ihm ein tief innerliches und ihre Neigung zu ihm stark genug war, es ihr zum Bedürfniß zu machen, sich in alle seine Wünsche zu fügen und in seinem Glück ihr eignes zu finden. Klras Eintritt in die Welt und ihre neuen Verhältnisse mußten für sie manche gefährliche Prüfung herbeiführen; das konnte er sich nicht verbergen und fühlte die Schwierigkeit der Aufgabe, die sich ihr aufdringenden Ansichten und Erfahrungen so zu ordnen, daß die Harmonie ihres innern Lebens ungestört bleibe, und ihr Geist sich entfalte und bilde, ohne ihr die einfache Kraft des Herzens zu rauben, mit der ein weibliches Gemüth im Weltgewirre oft da siegend ausreicht, wo der geistesstarke Mann erliegt.
Nach einer dreiwöchentlichen Reise näherten sie sich dem Ziel derselben. Von Strelna aus ist der Weg nach Petersburg meilenweit mit reizenden Landhäusern besetzt, welche alle die Aussicht auf das Meer oder auf einen Arm der Newa haben. Von der Landstraße sind diese Wohnungen durch Gärten getrennt, deren Hauptzierden die Birken sind, welche mit ihren schneeweißen Stämmen und dem blassen Grün ihrer Blätter einen pittoresken Abstich zu den dunkeln Fichtenbäumen bilden, die, wie sie, keine Fremdlinge in dem kalten Lande sind. Alle diese Landhäuser sind in dem verschiedenartigsten Styl erbaut: hier erhebt sich in der Mitte eines großen Rasenplatzes ein zierlicher griechischer Tempel, dort eine chinesische Pagode, rundum mit silberhell erklingenden Glöckchen behangen; auf jener Seite sieht man ein Schweizerhaus, das unter der einfachen Außenseite einer Bauernwohnung alle Verfeinerungen des Luxus, alle Verzierungen fürstlicher Pracht birgt; ihm gegenüber blickt eine italienische Villa aus blühenden Gebüschen hervor und bildet einen reizenden Gegensatz zu jenem gothischen Schlosse mit den vielen geschnörkelten Thürmchen, das in ihrer Nähe liegt. In ungeheuer großen Treibhäusern reifen in diesen Gärten, für die der Frühling nur ein flüchtiges Lächeln hat, die Früchte milderer Zonen und schmücken in verschwenderischer Fülle die Tafel der russischen Großen. Ebenso fremdartig, ebenso märchenhaft als diese nahe Zusammenstellung aller Style antiker und moderner Baukunst erscheint auch die Stadt selbst in ihrer großartigen Schönheit, ihrer Regelemäßigkeit, mit ihren goldenen Kuppeln und Thürmen, ihren breiten Kanälen, ihren unabsehlichen Straßen, ihren riesengroßen Gebäuden, von denen mehrere den Umfang einer Stadt haben, und mit dem herrlichen Strom, der sie so mächtig durchflutet und aus seinen ätherklaren, tiefblauen Wogen die größten Linienschiffe bis zu dem Palast der Zaaren trägt. Petersburg ist eine Wunderstadt, mit der durchaus auf dem ganzen Erball nichts verglichen werden kann, und neben der Paris und London nur als unförmliche Massen, Rom wie eine Weltruine, Neapel wie ein Paradies erscheint. Alles, was man in Petersburg sieht, ist nach einem kolossalen Maßstabe angelegt; Alles ist großartig, prachtvoll, aber fremdartig und wie einem andern Welttheil angehörend. Konstantinopel allein macht einen ähnlichen Eindruck auf den Fremdling, der es auch bei seinem Anblick wie bei dem Anblick von Petersburg empfindet, daß er nicht mehr in der europäischen Heimat ist.
Klara glaubte sich in eine Feenwelt versetzt. Es war in den ersten Tagen des Juni, also in einer Jahreszeit, wo alle Reichen und Wohlhabenden auf ihren Gütern oder Landhäusern wohnen. Petersburg ist dann wie verödet, menschenleer, stumm und still. Die Bewohner aus den unteren Volksclassen, die man allein noch erblickt, geben der Stadt durch ihre Nationaltracht und ihre langen Bärte einen asiatischen Anstrich. - Es war schon spät am Abend, als unsere Reisenden ankamen. Die große Stadt war wie ausgestorben, und die Dämmerung einer nordischen Sommernacht, deren rosiger Schein so wenig dem Sonnenlicht als dem Mondesglanz gleicht, goß ihr magisches Licht über Alles aus, was sie erblickten.
Nordeck hatte im Voraus eine Wohnung für sich miethen und einrichten lassen, in der Alles aufgeboten war, um die für Klara bestimmten Zimmer mit eben so viel Zierlichkeit als Geschmack auszuschmücken. Sie war entzückt von diesem Beweis der liebevollen Aufmerksamkeit ihres Gemahls, und als am andern Morgen ihre Freundin, ihre Therese - der Nordeck ohne ihr Wissen schon unterwegs schriftlich den Tag ihrer Ankunft bestimmt hatte - der erste Gegenstand war, auf den beim Erwachen ihre Blicke fielen, fühlte sie sich vollkommen glücklich und wähnte sich in Petersburg schon einheimisch.
Thränen und einzelne Worte blieben lange die einzigen Dolmetscher der Empfindungen, mit der beide Freundinnen die schöne Stunde dieses Wiedersehens feierten, und nur als Nordeck erschien, sie in das Frühstückszimmer zu führen, wurden sie fähig, zusammenhängend zu reden. Alle Drei waren innig und traulich heiter, Nordeck vorzüglich froh, daß die Freundin seiner Klara einen höchst vortheilhaften Eindruck auf ihn machte, da er voraussah, wie bedeutend dies Verhältniß auf Klara’s weitere Ausbildung und Entwickelung einwirken müsse. Therese war einige Jahre älter als Klara und ein Beweis, wie schön sich ein reichbegabtes Gemüth auch unter ungünstigen äußeren Verhältnissen in kräftiger Eigenthümlichkeit zu entwickeln vermag. Ein heiterer, vorzugsweise auf die praktische Benutzung der Gegenwart gerichteter Sinn war der Grundzug ihres Charakters, sie gab sich dem Leben kindlich vertrauend hin, ohne besondere Ansprüche daran zu machen. Phantasie und Gefühl waren bei ihr nach Frauenart, leicht erregbar, und doch bewährte sie sich, wo es den Ernst der Pflicht galt, muthig, treu und freudig ausdauernd.
Von keinem unruhigen Hang nach äußerer Wirksamkeit getrieben, ergriff sie, selbst in Bezug auf geistige Bildung, vorzugsweise stets Das, was unmittelbar auf das Leben einzuwirken vermochte, und so suchte sie auch Alles, was sie kränkte und verletzte, durch Fleiß und vermehrte Thätigkeit zu überwältigen, ohne gegen sich und Andere viel Aufhebens davon zu machen. In Klara’s Seele schlummerte so leise, daß ihn die erste Anregung wecken mußte, der Hang, mit ihrer Phantasie beschauend über den Tiefen des Daseins zu schweben und sich, abgewendet von dem äußern Leben, in die Welt ihrer Träume und Gefühle zu versenken; Therese wußte dagegen das innere und äußere Leben als ein Ganzes aufzufassen und es mit den Strahlen anspruchloser Liebe zu erleuchten.
Beide Freundinnen waren durch ihre einfache Erziehung und die stille Abgeschiedenheit, in der sie ihre Kindheit verlebt hatten, vor der Verkehrtheit bewahrt worden, mit der man heut zu Tage bei der Erziehung junger Mädchen aus den sogenannten gebildeten Ständen vorzugsweise darnach strebt, ihre Aufmerksamkeit von der ersten Gestaltung ihrer Begriffe an nur auf äußere Gegenstände zu lenken und sie die Form der Dinge statt ihre innere Natur und Bestimmung kennen zu lehren. Nur mit Anderen beschäftigt, nie mit sich selbst, nur in den äußeren Umgebungen, nicht mehr in dem holden Blumengarten kindlicher Bewußtlosigkeit lebend, werden sie schon in den ersten Jahren ihres Daseins der Herrschaft des Gemüthes entrissen, um der eines eiteln Weltverstandes unterthan zu werden. Die Grausamkeit, mit der man jetzt, vorzüglich in Deutschland, die Kinder behandelt, ist viel empörender und strafbarer als es je eine andere Sklaverei war. Welches Recht habt ihr Eltern denn, euern Kindern das von Gott bestimmte und geschenkte Glück der Kinderzeit zu rauben und sie von ihrem sechsten, siebenten Jahr an von früh Morgens bis Abends in euere Schulstuben einzusperren und sie dann noch obendrein in den sogenannten Freistunden mit Lernen und Schularbeiten so zu peinigen und matt zu quälen, daß ihre arme kleine Seele davon verkrüppelt und die Natur in ihrem heiligen Geschäft der leisen Entwickelung, der individuellen Ausbildung nach angeborenen Neigungen und Fähigkeiten, tyrannisch gehemmt wird. Wer nie Kind gewesen, sich nie seine Spiele selbst erfunden, nie in Kinderträumen gelebt hat, wird und bleibt zeitlebens ein verkrüppeltes Wesen. Dies gilt von euern Söhnen, aber noch zehnmal mehr von euern Töchtern. Wozu soll diesen der Ballast von ästhetischer und wissenschaftlicher Bildung dienen, den ihr ihnen aufladet? Wie viel liebenswürdiger, wie viel fähiger, beglückend glücklich zu werden, würden eure Töchter erscheinen, wenn ihr es ihnen und euch selbst leichter machtet und der Natur in der Entfaltung der Individualität - und nur diese ist ächte Menschenbildung - leise zur Hülfe kämet, statt ihr Wirken gewaltsam zu hemmen!
Befreit die Frauen von ihrer geistigen Unmündigkeit; denn so schön es auch ist, wenn ein edles weibliches Gemüth in Gottes großem Menschengarten in aller Bewußtlosigkeit der Blumennatur aufblüht, so reicht in unsrer Zeit doch keine Frau mehr für das Leben mit diesem Seeleninstinkt sittlicher Schönheit aus. Zur vollendeten Menschheit jedes einzelnen Menschen gehören Grundsätze und ein inniger Zusammenhang dieser Grundsätze mit dem Charakter, und es ist ein höchst gefährlicher Irrthum, diese bei Frauen für entbehrlich zu halten, da es gerade für sie keine schlechtere Lehrmeisterin gibt, als die praktische Erfahrung. Das sichere Bewußtsein klar erkannter, reiner Zwecke muß in schwierigen Lagen sowol Weib als Mann im Gleichgewicht erhalten und Geist und Herz zum Widerstand gegen das Böse kräftigen. Der Macht des Zufalls darf kein sittlich freies Wesen sich preisgegeben wähnen; um aber das Bessere frei erwählen zu können, muß es feste Begriffe und Urtheile haben, auf die sich im Leben fußen läßt. Das Ideal der Tugend, das uns vorschwebt, so lange die Wirklichkeit noch von den Morgenwolken jugendlicher Täuschung verhüllt wird, ist oft nur ein Trugbild, nicht die für immer auserkorene Geliebte unsers Herzens. Mit Weisheit und Verstand gerecht und tugendhaft zu sein, ist nicht so leicht, als das schnell auflodernde jugendliche Gemüth es wähnt, und so süß es ist, die Tugend zu lieben, so schwer ist es, ihr treu zu bleiben. Das wußte Nordeck, und es war ihm daher überaus wichtig und erfreulich, in Therese ein Wesen zu erkennen, dessen Fürsorge er das Kleinod seines Herzens da sicher anvertrauen konnte, wo sein Blick ihr nicht folgen, seine Hand sie nicht stützen konnte.
Therese lud ihre Freunde im Namen ihrer Mutter, der Frau von Walden, ein, den Tag bei ihr zuzubringen und erbot sich, nach Tische mit Klara zu den berühmtesten Modehändlerinnen zu fahren, da diese ihre Ausstattung an Putz und Kleidung erst in Petersburg einzukaufen gesonnen war. Nach dem Frühstück entfernte sich Nordeck, und beide Freundinnen rückten nun zu traulichem Geplauder näher an einander.
Wie glücklich macht mich deine Ankunft! sagte Therese. Wie schön werden nun die frohen Tage wiederkehren, wo wir am Abend bei unserer Trennung keinen andern Wunsch hatten, als uns am Morgen wiederzusehen! Unaussprechlich habe ich mich hier oft nach dir gesehnt, dich vermißt, dich entbehrt! Die Hoffnung, dich wiederzusehen, lag in so weiter Ferne, und nun bist du da, und ich kann dir aus voller Seele Glück wünschen, da es über den Charakter und den Werth deines Mannes nur Eine Stimme gibt.
Klara erzählte ihm, wie Nordeck sie kennen und lieben gelernt habe, und fragte dann im Fortgang des Gespräches, ob Gustav nicht auch mit seiner jungen Frau zum Winter nach Petersburg kommen werde.
Mein Vruder, antwortete Therese, ist nicht verheirathet und wird sich auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, sobald nicht verheirathen.
Wie geht das zu? rief Klara erstaunt. Als ich ihn zum letzten Male sah, ging er ja nach Liefland, um sich mit Maria Rosen zu vermählen.
Diese Verbindung ist gelöst worden, sagte Therese zögernd; du scheinst aber mit Gustav’s Schicksal und seinen Gesinnungen unbekannter als ich glaubte, und ich weiß wahrlich nicht, ob ich dir da Alles sagen darf.
Und warum nicht? unterbrach Klara sie lebhaft. Wir haben ja nie ein Geheimniß vor einander gehabt, und es würde mich unendlich betrüben, wenn du glaubtest, daß ich in meiner jetzigen Lage nicht noch ebenso innigen Antheil an Allem nähme, was dich und Gustav betrifft, als vor meiner Verheirathung. Nein, Therese, verschweigen darfst du mir nichts, du mußt mir Alles erzählen, was Gustav begegnet ist, und das so ausführlich als möglich.
Therese fragte, ob Klara ihren Bruder noch oft nach ihrer Abreise von dem Gute ihrer Tante gesprochen habe. Ich weiß, setzte sie hinzu, daß er noch einige Male in Rosenhof war, aber es stimmte ihn stets so trübe, wenn ich das Gespräch auf seinen dortigen Aufenthalt lenkte, daß ich mir versagt habe, genauer darnach zu forschen, und ich nun von dir zu erfahren wünsche, ob dir damals in seinem Betragen und in seiner Stimmung keine Veränderung merkbar geworden ist.
Ich sah ihn bei seinen letzten Besuchen in Rosenhof fast ebenso oft, als wie du noch dort warst, antwortete Klara unbefangen. Seit meiner Kindheit daran gewöhnt, ihn wie meinen Bruder anzusehen, schloß ich mich nach deiner Abreise noch inniger an ihn an, da ich mit ihm ganze Stunden lang von dir reden konnte. Er hat dich so lieb! Aber so vergnügt wie sonst waren wir nicht mehr - du fehltest uns und Gustav wurde, je öfter wir uns sahen, je stiller und betrübter. Wir saßen oft lange ganz stumm neben einander; er seufzte; ich wußte, daß er dann an dich dachte, und seufzte mit. Als er zum letzten Mal zu uns kam, um von uns Abschied zu nehmen, waren wir Beide sehr betrübt; wir gingen den Abend vor seiner Abreise in dem kleinen Gehölz spazieren, das immer unser Lieblingsplatz war, und setzten uns bei dem Wasserfall nieder. Ich weinte ganz heimlich - von dir war ich schon getrennt, nun verließ Gustav mich auch, und ich durfte nicht hoffen, je wieder mit euch vereinigt zu werden. Ach, Gustav, sagte ich ihm endlich, ich bleibe hier nun ganz allein; wirst du dann oft an mich denken und mich auch in der Ferne lieb behalten? - Gewiß, gewiß, antwortete er mir mit gepreßter Stimme. Er küßte meine Hände, er weinte, es war, als ob er mir etwas sagen wollte, aber plötzlich sprang er auf: Lebe wohl, Klara! rief er, Engel mögen dich stets umschweben! und fort war er, liebste Therese, und ich habe ihn nicht wieder gesehen. O wie betrübt war ich damals! - Da kam mein Nordeck; ich wurde, ehe ich es mich versah, seine Braut, seine Frau, und nun bin ich auch wieder mit dir vereinigt, und nur Gustav fehlt uns noch, um ganz glücklich zu sein.
Du weißt, fing Therese ihre Erzählung an, daß er schon seit seiner Kindheit mit Marie Rosen versprochen war, und wir waren mit dem Gedanken an diese Verbindung so vertraut, daß wir sie für ebenso einfach nothwendig hielten, als daß er mein Bruder war, und uns um die Gründe dieser Verlobung nie kümmerten. Es war eine seit Mariens Geburt von den Vätern abgeschlossene Sache; das war Alles, was wir wußten. Gustav ist, wie du weißt, sechs Jahre älter als ich, und da ich schon in meinem vierten Jahre zu der Tante nach Rosenhof kam, um von ihr erzogen zu werden, blieb ich auch mit allen Familienverhältnissen des elterlichen Hauses fast ganz unbekannt, und ich habe erst jetzt erfahren, wie es mit dieser Verbindung zusammenhing. Für heute ist es zu einer ausführlichen Erzählung schon zu spät, aber morgen will ich dir einen Brief von Gustav bringen, der dich mit der schmerzlichen Vereitelung seiner Wünsche und Pläne bekannt machen wird.
Klara willigte, wenn gleich ungern, in diese Verzögerung, und beide Freundinnen trennten sich mit der süßen Gewißheit, sich im Verlauf weniger Stunden wiederzusehen.
Nordeck zog seine Gemahlin sanft aus den sie umschlingenden Armen der ehrwürdigen Großmutter, von der sie seit ihrem vierten Jahre, wo der Tod ihrer Eltern sie zur Waise machte, erzogen war. Sorgen Sie nicht für Klara’s Geschick, bat er; ein reines Herz ist auch ein starkes Herz, und welche Gefahr kann sie bedrohen, wenn die Liebe sie beschützt?
Ach, antwortete Frau von Burg, bis jetzt ist sie in ihren süßen Jugendträumen von Menschenwerth und Menschenglück so ungestört geblieben, daß ich bei ihrem Eintritt in die Welt vor dem unausbleiblichen Erwachen aus demselben wol bangen muß. Unschuld, Liebe und Vertrauen waren die Schutzengel ihrer kindlichen Unbefangenheit, und sie hat bis heute, unbekümmert um die Folgen ihrer Handlungen, die Bedeutung ihrer Worte, nur den Eingebungen ihres Herzens gehorcht. Alle Sitten, Gebräuche und Meinungen der großen Welt sind ihr durchaus fremd. Seit vierzig Jahren aus den Stürmen des Lebens in diese stille, ländliche Abgeschiedenheit gerettet, bin ich selbst mit der jetzigen Welt so unbekannt, daß ich Klara aus meiner Vergangenheit, die wie ein halb vergessener Jugendtraum hinter mir liegt, keine für die Gegenwart brauchbare Lebensregeln mitzutheilen wußte. Für den Unerfahrenen sind diese überdem doch nur ein leeres Kapitel; nur der Erfahrene prüft sie mit dem Interesse, mit dem der Weltumsegler eine Reisebeschreibung liest die ihm die bekannten Klippen und Untiefen und seine bei ihrer Umschiffung bestandenen Gefahren zurückruft. Klara steht jetzt an einem Wendepunkte ihres Geschickes, der für ihr Glück und ihren Werth entscheidende Folgen herbeiführen muß; ich lege die Leitung desselben mit meinem besten Segen vertrauensvoll in Ihre Hände, lieber Sohn. Bringen Sie sie mir gut und unverdorben zurück, wie ich sie Ihnen jetzt übergebe, und sein und bleiben Sie ihr in allen Lagen ein weiser, zärtlicher und nachsichtiger Freund.
Nordeck drückte die Hand der ehrwürdigen Frau an seine Lippen, und die Thräne, die sein Auge füllte, wiederholte das Gelübde, das er am Morgen dieses Tages vor dem Altar ausgesprochen hatte. Er umfaßte seine Gattin und trug sie rasch in den mit vier Postpferden bespannten Wagen, der sie dem Landgute entführen sollte, dessen Umkreis bis jetzt ihre Welt gewesen war.
Noch in der Blüte des männlichen Alters, gehörte Graf Nordeck schon zu den ausgezeichnetsten Staatsmännern unserer Zeit. Seine Jugend hatte er auf Reisen und an den größten Höfen Europas zugebracht und es schwer gefunden, die Anfoderungen der Weltklugheit mit seiner moralischen Kraft und der sittlichen Reinheit seines Willens in ein richtiges Verhältniß zu bringen. Ungefährdet und unverletzt vermochte er seine Laufbahn als Diplomat nicht zu wandeln; doch blieb ihm stets die Erkenntniß des reinen Menschenwerthes und seine Hochachtung desselben, und je heller er den Trug des Weltverkehrs und die glänzende Nichtigkeit alles Dessen, was sich in ihm und durch ihn erstreben läßt, kennen lernte, desto lebendiger und tiefer wurde seine Sehnsucht nach einem stillen und wahren Herzensglück. Er erkannte die Gefahr, bei diesem flüchtigen Umherstreifen, bei diesem täglichen Verkehr mit Menschen, die den Menschen nur als Mittel, nur als Repräsentanten von Diesem und Jenem betrachten, sein Herz allmälig an der Fähigkeit, lieben und vertrauen zu können, verarmen zu fühlen. Fast allgemein glaubt man, der Verstand müsse durch mannichfaltige Lebenserfahrungen gewinnen und die Klugheit durch die Menschenkenntniß, die man ihnen verdankt, reifer werden; doch Nordeck empfand, daß man bei einem frischen, kräftigen Herzen, wenig Zweifel und viel Glauben an das Gute sicherer auf dem Wege zur Wahrheit und zum Glücke wandele, als es an der Hand des Weltverstandes und der Lebensklugheit zu geschehen vermag. Die vornehmen jungen Männer unserer Zeit sehen gemeinhin das Familienleben nur als eine Zuflucht an, die sie erst dann aufzusuchen brauchen, wenn sie sich auf ihrer Wanderung durch die Welt stumpf und müde gelaufen haben. Nordeck dagegen glaubte, daß man, einmal zu diesem Punkt ermattender Abspannung gelangt, so wenig mehr glücklich zu sein als glücklich zu machen vermöge, und war daher entschlossen, das Glück zu ergreifen so lange sein Herz noch die Kraft habe, es frisch und fröhlich zu empfinden. Reich, vornehm, von edler Gestalt, wurde er von den Müttern gefeiert, von den Töchtern ausgezeichnet, fand aber kein Mädchen, das er seine Gattin zu nennen gewünscht hätte. Da erhielt er von seinem Hofe den Befehl, mit geheimen Aufträgen nach Petersburg zu gehen, wo er, ohne officiell als Gesandter aufzutreten, doch wahrscheinlich ein bis zwei Jahr bleiben mußte. Auf der Reise dorthin führte ihn eine Familienangelegenheit zu der Frau von Burg, die er, ohne sie persönlich zu kennen, als eine treffliche Frau und als die geliebteste Jugendfreundin seiner verstorbenen Mutter ehrte. Frau von Burg wohnte in einer der reizendsten Gegenden unsers deutschen Vaterlandes, und als Nordeck an einem schönen Frühlingsabend von dem Gipfel eines Berges herab das Thal erblickte, in dem ihr Gut lag, glaubte er ein Paradies vor sich zu sehen: klare, stille Seen, maigrüne Saatteppiche, Fluren und Wiesen mit blühenden Fruchtbäumen eingefaßt, schattige Gebüsche auf den Bergen, grünes Walddunkel voll Nachtigallgesang und Quellengeriesel, reinliche Dörfer, Kirchen, die wie geweihete Friedensstätten dalagen - und in diesem Paradiese fand er gute, glückliche Menschen, fand an der Seite ihrer Großmutter die kaum siebzehnjährige Klara, blühend in vollem Zauber jener reinen, süßen Anmuth, die die unvergängliche Liebenswürdigkeit einer edeln, weiblichen Natur verbürgt. Alle seine Jünglingsträume gingen in diesem Elysium wie eine neue Morgenröthe des Daseins entzückend und verklärt in der Seele des Mannes wieder auf, und je länger er Klara sah, desto beglückter und vertrauender wurde er.
In Klara’s Herzen schlummerten die tiefsten und mächtigsten Gefühle noch unter dem Rosenduft reiner Kindlichkeit; ungefesselt von irdischer Schwere schwebte diese zarte Psyche, die die Natur in das Gewand der blühendsten Jugendschönheit gehüllt hatte, über das Leben hin. Ihre tiefblauen Augen schwammen in jenem ätherklaren Krystallglanz, der dem Menschenauge nur so lange entstrahlt, als noch keine Leidenschaft den mieden himmlischer Unschuld in unserer Seele getrübt hat. Lange dunkle Wimpern beschatteten den wundervollen Glanz dieser Augen, und einen ganz eigenen Zauber verlieh dieser holdseligen Erscheinung die Ahnung, daß sie sich im auf einiger Jahre zu noch herrlicherer Schönheit, die Knospe zur vollen Blüte sich entfalten werde. Nordeck führte durch seine Liebe für Klara den Uebergang von bewußtloser Kindlichkeit zur Jungfräulichkeit rasch herbei; sie verehrte ihn, wie sie ihren Schutzgeist verehrt haben würde, wenn er ihr sichtbar erschienen wäre, und mit tiefer Rührung und unaussprechlicher Wonne sah er in ihrem Besitz für sich das wahrste und höchste Glück erblühen. Die Zeit drängte ihn in ihren Anfoderungen; in dem kurzen Zeitraum weniger Wochen lernte er Klara kennen, warb um sie und empfing am Altar das Gelübde ihrer Liebe und Treue.
Als Klara jetzt an seiner Seite in dem Reisen wagen saß, war es, als wolle sie noch im Vorübereilen liebend von diesen, Fluren und Gebüschen Abschied nehmen, die der Schauplatz der Freuden ihrer Kindheit gewesen waren; sie bog sich weinend aus dem Wagenfenster und schien es ganz zu vergessen, daß sie nicht allein war; plötzlich wandte sie sich aber um und reichte ihrem Gatten die Hand mit einem Blick, der Verzeihung für ihren Schmerz zu fodern schien. Nordeck’s Zärtlichkeit, der Reiz seiner Unterhaltung, die Zerstreuung der Reise - es war die erste, die Klara über die Grenze des Thals führte - besänftigten allmälig den Trennungsschmerz, den sie empfand; er unterhielt sie durch eine Beschreibung von Petersburg und entwarf ihr ein Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse, in die sie dort eintreten sollte. Klara hörte ihm mit Vergnügen zu; doch nie vergaß sie in dem Bild von ihrer Zukunft und der Freuden, die sie erwarteten, das Wiedersehen ihrer theuersten und geliebtesten Gespielin und Freundin voranzustellen, die seit einem Jahre in Petersburg lebte.
Wie glücklich bin ich, sagte sie eines Tages zu Nordeck, daß gerade das einzige bekannte Wesen, das ich in Petersburg vorfinde, meine Herzensfreundin ist. Ich habe, seitdem Frau von Walden Therese nach Rußland mitnahm, nur selten Nachricht von ihr gehabt, und dies betrübte mich sehr, da ich bis zu unserer Trennung gewohnt war, sie täglich zu sehen.
Du kennst ja auch wol den jungen Walden, da dieser gleichfalls in Deutschland erzogen ist? fragte Nordeck.
O ja, antwortete Klara erröthend; er brachte seine Ferien immer bei der Tante meiner Therese in Rosenhof zu, und wir sahen uns dann täglich.
Klara’s Erröthen fiel Nordeck auf; die Reinheit ihres klaren Blickes und die unbefangene Ruhe, mit der sie lächelnd zu ihm aufsah, machten dies Erröthen unverdächtig; aber er konnte es doch nicht lassen, sie neckend zu fragen, warum sie roth geworden sei?
Die Farbe ihrer Wangen wurde noch lebhafter, doch zögerte sie keinen Augenblick, ihm mit der Aufrichtigkeit eines Engels zu gestehen, sie wisse es selbst nicht; aber es sei ihr bei Nennung von Walden’s Namen schon öfter begegnet, daß sie roth geworden sei. Ich hatte Gustav sehr lieb, setzte sie hinzu, fast so lieb wie meine Therese, da wir Drei gewissermaßen mit einander aufgewachsen sind, und doch konnte ich meine Blödigkeit gegen ihn nie ganz überwinden. Als er das letzte Mal bei seiner Tante war, um von uns vor seiner Rückkehr nach Rußland Abschied zu nehmen, war er sehr betrübt, obgleich er zu seiner Braut reiste, und auch ich habe viel geweint, als er schied, und konnte mich lange nicht über seine Abreise trösten.
Schweige, rief Nordeck bewegt, wecke mich nicht aus dem süßen Traume, der Gegenstand deiner ersten Liebe, deiner ersten Jugendneigung zu sein!
Klara sah ihn groß an. Wohl bist du das, antwortete sie, indem sie seine Hand zärtlich an ihr Herz drückte; wie hätte ich denn Gustav lieben können? er war ja schon seit seiner Kindheit mit einer Andern verlobt und hat nie daran gedacht, mich heirathen zu wollen. Nein, lieber Nordeck, setzte sie mit dem vollen Ausdruck tief empfundener Wahrheit hinzu, ich habe gewiß nie einen andern Mann geliebt als dich; und nun ist es ja vollends ganz unmöglich, ich bin ja deine Frau.
Nordeck sah mit tiefer Rührung in ihr frommes, treues Auge und drückte sie fest an seine Brust. Er fand in ihrer unschuldsvollen Offenheit einen neuen Bürgen für die Ruhe seiner Zukunft, und doch blieb ein stummer Seufzer in seinem Herzen, da er sich nicht verhehlen konnte, daß sie sich seiner Liebe mehr dankbar und vertrauend hingab, als daß sie sie erwidert hätte. Ihr Herz schien sich, gleich einer Sensitive, zagend zu verschließen, sobald es von einem tiefern glühenden Gefühl berührt wurde, und die Liebe war in allen ihren leidenschaftlichen Empfindungen für sie immer noch ein Räthsel, für das es in ihrer Brust kein lösend des Wort gab. Er fühlte aber auch, daß ihr Vertrauen zu ihm ein tief innerliches und ihre Neigung zu ihm stark genug war, es ihr zum Bedürfniß zu machen, sich in alle seine Wünsche zu fügen und in seinem Glück ihr eignes zu finden. Klras Eintritt in die Welt und ihre neuen Verhältnisse mußten für sie manche gefährliche Prüfung herbeiführen; das konnte er sich nicht verbergen und fühlte die Schwierigkeit der Aufgabe, die sich ihr aufdringenden Ansichten und Erfahrungen so zu ordnen, daß die Harmonie ihres innern Lebens ungestört bleibe, und ihr Geist sich entfalte und bilde, ohne ihr die einfache Kraft des Herzens zu rauben, mit der ein weibliches Gemüth im Weltgewirre oft da siegend ausreicht, wo der geistesstarke Mann erliegt.
Nach einer dreiwöchentlichen Reise näherten sie sich dem Ziel derselben. Von Strelna aus ist der Weg nach Petersburg meilenweit mit reizenden Landhäusern besetzt, welche alle die Aussicht auf das Meer oder auf einen Arm der Newa haben. Von der Landstraße sind diese Wohnungen durch Gärten getrennt, deren Hauptzierden die Birken sind, welche mit ihren schneeweißen Stämmen und dem blassen Grün ihrer Blätter einen pittoresken Abstich zu den dunkeln Fichtenbäumen bilden, die, wie sie, keine Fremdlinge in dem kalten Lande sind. Alle diese Landhäuser sind in dem verschiedenartigsten Styl erbaut: hier erhebt sich in der Mitte eines großen Rasenplatzes ein zierlicher griechischer Tempel, dort eine chinesische Pagode, rundum mit silberhell erklingenden Glöckchen behangen; auf jener Seite sieht man ein Schweizerhaus, das unter der einfachen Außenseite einer Bauernwohnung alle Verfeinerungen des Luxus, alle Verzierungen fürstlicher Pracht birgt; ihm gegenüber blickt eine italienische Villa aus blühenden Gebüschen hervor und bildet einen reizenden Gegensatz zu jenem gothischen Schlosse mit den vielen geschnörkelten Thürmchen, das in ihrer Nähe liegt. In ungeheuer großen Treibhäusern reifen in diesen Gärten, für die der Frühling nur ein flüchtiges Lächeln hat, die Früchte milderer Zonen und schmücken in verschwenderischer Fülle die Tafel der russischen Großen. Ebenso fremdartig, ebenso märchenhaft als diese nahe Zusammenstellung aller Style antiker und moderner Baukunst erscheint auch die Stadt selbst in ihrer großartigen Schönheit, ihrer Regelemäßigkeit, mit ihren goldenen Kuppeln und Thürmen, ihren breiten Kanälen, ihren unabsehlichen Straßen, ihren riesengroßen Gebäuden, von denen mehrere den Umfang einer Stadt haben, und mit dem herrlichen Strom, der sie so mächtig durchflutet und aus seinen ätherklaren, tiefblauen Wogen die größten Linienschiffe bis zu dem Palast der Zaaren trägt. Petersburg ist eine Wunderstadt, mit der durchaus auf dem ganzen Erball nichts verglichen werden kann, und neben der Paris und London nur als unförmliche Massen, Rom wie eine Weltruine, Neapel wie ein Paradies erscheint. Alles, was man in Petersburg sieht, ist nach einem kolossalen Maßstabe angelegt; Alles ist großartig, prachtvoll, aber fremdartig und wie einem andern Welttheil angehörend. Konstantinopel allein macht einen ähnlichen Eindruck auf den Fremdling, der es auch bei seinem Anblick wie bei dem Anblick von Petersburg empfindet, daß er nicht mehr in der europäischen Heimat ist.
Klara glaubte sich in eine Feenwelt versetzt. Es war in den ersten Tagen des Juni, also in einer Jahreszeit, wo alle Reichen und Wohlhabenden auf ihren Gütern oder Landhäusern wohnen. Petersburg ist dann wie verödet, menschenleer, stumm und still. Die Bewohner aus den unteren Volksclassen, die man allein noch erblickt, geben der Stadt durch ihre Nationaltracht und ihre langen Bärte einen asiatischen Anstrich. - Es war schon spät am Abend, als unsere Reisenden ankamen. Die große Stadt war wie ausgestorben, und die Dämmerung einer nordischen Sommernacht, deren rosiger Schein so wenig dem Sonnenlicht als dem Mondesglanz gleicht, goß ihr magisches Licht über Alles aus, was sie erblickten.
Nordeck hatte im Voraus eine Wohnung für sich miethen und einrichten lassen, in der Alles aufgeboten war, um die für Klara bestimmten Zimmer mit eben so viel Zierlichkeit als Geschmack auszuschmücken. Sie war entzückt von diesem Beweis der liebevollen Aufmerksamkeit ihres Gemahls, und als am andern Morgen ihre Freundin, ihre Therese - der Nordeck ohne ihr Wissen schon unterwegs schriftlich den Tag ihrer Ankunft bestimmt hatte - der erste Gegenstand war, auf den beim Erwachen ihre Blicke fielen, fühlte sie sich vollkommen glücklich und wähnte sich in Petersburg schon einheimisch.
Thränen und einzelne Worte blieben lange die einzigen Dolmetscher der Empfindungen, mit der beide Freundinnen die schöne Stunde dieses Wiedersehens feierten, und nur als Nordeck erschien, sie in das Frühstückszimmer zu führen, wurden sie fähig, zusammenhängend zu reden. Alle Drei waren innig und traulich heiter, Nordeck vorzüglich froh, daß die Freundin seiner Klara einen höchst vortheilhaften Eindruck auf ihn machte, da er voraussah, wie bedeutend dies Verhältniß auf Klara’s weitere Ausbildung und Entwickelung einwirken müsse. Therese war einige Jahre älter als Klara und ein Beweis, wie schön sich ein reichbegabtes Gemüth auch unter ungünstigen äußeren Verhältnissen in kräftiger Eigenthümlichkeit zu entwickeln vermag. Ein heiterer, vorzugsweise auf die praktische Benutzung der Gegenwart gerichteter Sinn war der Grundzug ihres Charakters, sie gab sich dem Leben kindlich vertrauend hin, ohne besondere Ansprüche daran zu machen. Phantasie und Gefühl waren bei ihr nach Frauenart, leicht erregbar, und doch bewährte sie sich, wo es den Ernst der Pflicht galt, muthig, treu und freudig ausdauernd.
Von keinem unruhigen Hang nach äußerer Wirksamkeit getrieben, ergriff sie, selbst in Bezug auf geistige Bildung, vorzugsweise stets Das, was unmittelbar auf das Leben einzuwirken vermochte, und so suchte sie auch Alles, was sie kränkte und verletzte, durch Fleiß und vermehrte Thätigkeit zu überwältigen, ohne gegen sich und Andere viel Aufhebens davon zu machen. In Klara’s Seele schlummerte so leise, daß ihn die erste Anregung wecken mußte, der Hang, mit ihrer Phantasie beschauend über den Tiefen des Daseins zu schweben und sich, abgewendet von dem äußern Leben, in die Welt ihrer Träume und Gefühle zu versenken; Therese wußte dagegen das innere und äußere Leben als ein Ganzes aufzufassen und es mit den Strahlen anspruchloser Liebe zu erleuchten.
Beide Freundinnen waren durch ihre einfache Erziehung und die stille Abgeschiedenheit, in der sie ihre Kindheit verlebt hatten, vor der Verkehrtheit bewahrt worden, mit der man heut zu Tage bei der Erziehung junger Mädchen aus den sogenannten gebildeten Ständen vorzugsweise darnach strebt, ihre Aufmerksamkeit von der ersten Gestaltung ihrer Begriffe an nur auf äußere Gegenstände zu lenken und sie die Form der Dinge statt ihre innere Natur und Bestimmung kennen zu lehren. Nur mit Anderen beschäftigt, nie mit sich selbst, nur in den äußeren Umgebungen, nicht mehr in dem holden Blumengarten kindlicher Bewußtlosigkeit lebend, werden sie schon in den ersten Jahren ihres Daseins der Herrschaft des Gemüthes entrissen, um der eines eiteln Weltverstandes unterthan zu werden. Die Grausamkeit, mit der man jetzt, vorzüglich in Deutschland, die Kinder behandelt, ist viel empörender und strafbarer als es je eine andere Sklaverei war. Welches Recht habt ihr Eltern denn, euern Kindern das von Gott bestimmte und geschenkte Glück der Kinderzeit zu rauben und sie von ihrem sechsten, siebenten Jahr an von früh Morgens bis Abends in euere Schulstuben einzusperren und sie dann noch obendrein in den sogenannten Freistunden mit Lernen und Schularbeiten so zu peinigen und matt zu quälen, daß ihre arme kleine Seele davon verkrüppelt und die Natur in ihrem heiligen Geschäft der leisen Entwickelung, der individuellen Ausbildung nach angeborenen Neigungen und Fähigkeiten, tyrannisch gehemmt wird. Wer nie Kind gewesen, sich nie seine Spiele selbst erfunden, nie in Kinderträumen gelebt hat, wird und bleibt zeitlebens ein verkrüppeltes Wesen. Dies gilt von euern Söhnen, aber noch zehnmal mehr von euern Töchtern. Wozu soll diesen der Ballast von ästhetischer und wissenschaftlicher Bildung dienen, den ihr ihnen aufladet? Wie viel liebenswürdiger, wie viel fähiger, beglückend glücklich zu werden, würden eure Töchter erscheinen, wenn ihr es ihnen und euch selbst leichter machtet und der Natur in der Entfaltung der Individualität - und nur diese ist ächte Menschenbildung - leise zur Hülfe kämet, statt ihr Wirken gewaltsam zu hemmen!
Befreit die Frauen von ihrer geistigen Unmündigkeit; denn so schön es auch ist, wenn ein edles weibliches Gemüth in Gottes großem Menschengarten in aller Bewußtlosigkeit der Blumennatur aufblüht, so reicht in unsrer Zeit doch keine Frau mehr für das Leben mit diesem Seeleninstinkt sittlicher Schönheit aus. Zur vollendeten Menschheit jedes einzelnen Menschen gehören Grundsätze und ein inniger Zusammenhang dieser Grundsätze mit dem Charakter, und es ist ein höchst gefährlicher Irrthum, diese bei Frauen für entbehrlich zu halten, da es gerade für sie keine schlechtere Lehrmeisterin gibt, als die praktische Erfahrung. Das sichere Bewußtsein klar erkannter, reiner Zwecke muß in schwierigen Lagen sowol Weib als Mann im Gleichgewicht erhalten und Geist und Herz zum Widerstand gegen das Böse kräftigen. Der Macht des Zufalls darf kein sittlich freies Wesen sich preisgegeben wähnen; um aber das Bessere frei erwählen zu können, muß es feste Begriffe und Urtheile haben, auf die sich im Leben fußen läßt. Das Ideal der Tugend, das uns vorschwebt, so lange die Wirklichkeit noch von den Morgenwolken jugendlicher Täuschung verhüllt wird, ist oft nur ein Trugbild, nicht die für immer auserkorene Geliebte unsers Herzens. Mit Weisheit und Verstand gerecht und tugendhaft zu sein, ist nicht so leicht, als das schnell auflodernde jugendliche Gemüth es wähnt, und so süß es ist, die Tugend zu lieben, so schwer ist es, ihr treu zu bleiben. Das wußte Nordeck, und es war ihm daher überaus wichtig und erfreulich, in Therese ein Wesen zu erkennen, dessen Fürsorge er das Kleinod seines Herzens da sicher anvertrauen konnte, wo sein Blick ihr nicht folgen, seine Hand sie nicht stützen konnte.
Therese lud ihre Freunde im Namen ihrer Mutter, der Frau von Walden, ein, den Tag bei ihr zuzubringen und erbot sich, nach Tische mit Klara zu den berühmtesten Modehändlerinnen zu fahren, da diese ihre Ausstattung an Putz und Kleidung erst in Petersburg einzukaufen gesonnen war. Nach dem Frühstück entfernte sich Nordeck, und beide Freundinnen rückten nun zu traulichem Geplauder näher an einander.
Wie glücklich macht mich deine Ankunft! sagte Therese. Wie schön werden nun die frohen Tage wiederkehren, wo wir am Abend bei unserer Trennung keinen andern Wunsch hatten, als uns am Morgen wiederzusehen! Unaussprechlich habe ich mich hier oft nach dir gesehnt, dich vermißt, dich entbehrt! Die Hoffnung, dich wiederzusehen, lag in so weiter Ferne, und nun bist du da, und ich kann dir aus voller Seele Glück wünschen, da es über den Charakter und den Werth deines Mannes nur Eine Stimme gibt.
Klara erzählte ihm, wie Nordeck sie kennen und lieben gelernt habe, und fragte dann im Fortgang des Gespräches, ob Gustav nicht auch mit seiner jungen Frau zum Winter nach Petersburg kommen werde.
Mein Vruder, antwortete Therese, ist nicht verheirathet und wird sich auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, sobald nicht verheirathen.
Wie geht das zu? rief Klara erstaunt. Als ich ihn zum letzten Male sah, ging er ja nach Liefland, um sich mit Maria Rosen zu vermählen.
Diese Verbindung ist gelöst worden, sagte Therese zögernd; du scheinst aber mit Gustav’s Schicksal und seinen Gesinnungen unbekannter als ich glaubte, und ich weiß wahrlich nicht, ob ich dir da Alles sagen darf.
Und warum nicht? unterbrach Klara sie lebhaft. Wir haben ja nie ein Geheimniß vor einander gehabt, und es würde mich unendlich betrüben, wenn du glaubtest, daß ich in meiner jetzigen Lage nicht noch ebenso innigen Antheil an Allem nähme, was dich und Gustav betrifft, als vor meiner Verheirathung. Nein, Therese, verschweigen darfst du mir nichts, du mußt mir Alles erzählen, was Gustav begegnet ist, und das so ausführlich als möglich.
Therese fragte, ob Klara ihren Bruder noch oft nach ihrer Abreise von dem Gute ihrer Tante gesprochen habe. Ich weiß, setzte sie hinzu, daß er noch einige Male in Rosenhof war, aber es stimmte ihn stets so trübe, wenn ich das Gespräch auf seinen dortigen Aufenthalt lenkte, daß ich mir versagt habe, genauer darnach zu forschen, und ich nun von dir zu erfahren wünsche, ob dir damals in seinem Betragen und in seiner Stimmung keine Veränderung merkbar geworden ist.
Ich sah ihn bei seinen letzten Besuchen in Rosenhof fast ebenso oft, als wie du noch dort warst, antwortete Klara unbefangen. Seit meiner Kindheit daran gewöhnt, ihn wie meinen Bruder anzusehen, schloß ich mich nach deiner Abreise noch inniger an ihn an, da ich mit ihm ganze Stunden lang von dir reden konnte. Er hat dich so lieb! Aber so vergnügt wie sonst waren wir nicht mehr - du fehltest uns und Gustav wurde, je öfter wir uns sahen, je stiller und betrübter. Wir saßen oft lange ganz stumm neben einander; er seufzte; ich wußte, daß er dann an dich dachte, und seufzte mit. Als er zum letzten Mal zu uns kam, um von uns Abschied zu nehmen, waren wir Beide sehr betrübt; wir gingen den Abend vor seiner Abreise in dem kleinen Gehölz spazieren, das immer unser Lieblingsplatz war, und setzten uns bei dem Wasserfall nieder. Ich weinte ganz heimlich - von dir war ich schon getrennt, nun verließ Gustav mich auch, und ich durfte nicht hoffen, je wieder mit euch vereinigt zu werden. Ach, Gustav, sagte ich ihm endlich, ich bleibe hier nun ganz allein; wirst du dann oft an mich denken und mich auch in der Ferne lieb behalten? - Gewiß, gewiß, antwortete er mir mit gepreßter Stimme. Er küßte meine Hände, er weinte, es war, als ob er mir etwas sagen wollte, aber plötzlich sprang er auf: Lebe wohl, Klara! rief er, Engel mögen dich stets umschweben! und fort war er, liebste Therese, und ich habe ihn nicht wieder gesehen. O wie betrübt war ich damals! - Da kam mein Nordeck; ich wurde, ehe ich es mich versah, seine Braut, seine Frau, und nun bin ich auch wieder mit dir vereinigt, und nur Gustav fehlt uns noch, um ganz glücklich zu sein.
Du weißt, fing Therese ihre Erzählung an, daß er schon seit seiner Kindheit mit Marie Rosen versprochen war, und wir waren mit dem Gedanken an diese Verbindung so vertraut, daß wir sie für ebenso einfach nothwendig hielten, als daß er mein Bruder war, und uns um die Gründe dieser Verlobung nie kümmerten. Es war eine seit Mariens Geburt von den Vätern abgeschlossene Sache; das war Alles, was wir wußten. Gustav ist, wie du weißt, sechs Jahre älter als ich, und da ich schon in meinem vierten Jahre zu der Tante nach Rosenhof kam, um von ihr erzogen zu werden, blieb ich auch mit allen Familienverhältnissen des elterlichen Hauses fast ganz unbekannt, und ich habe erst jetzt erfahren, wie es mit dieser Verbindung zusammenhing. Für heute ist es zu einer ausführlichen Erzählung schon zu spät, aber morgen will ich dir einen Brief von Gustav bringen, der dich mit der schmerzlichen Vereitelung seiner Wünsche und Pläne bekannt machen wird.
Klara willigte, wenn gleich ungern, in diese Verzögerung, und beide Freundinnen trennten sich mit der süßen Gewißheit, sich im Verlauf weniger Stunden wiederzusehen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwei Jahre in Petersburg