Eintritt in eine größere, fremde Gesellschaft

Wie schön war diese Welt gestaltet,
So lang die Knospe sie noch Barg!
Wie wenig hat sie , ach, entfaltet –
Dies Wenige wie rauh und karg!
Schiller.

Therese hatte ihre Freundin darauf vorbereitet, daß sie außer ihrer Familie noch einige Personen bei ihrer Mutter vorfinden werde, und so stieg sie nicht ohne einiges Bangen in den Wagen, der sie nach dem Landhause der Frau von Walden führen sollte, da es ihren ersten Eintritt in eine größere, ihr ganz fremde Gesellschaft galt.


Frau von Walden, eine kleine dicke, mit modischem Flitterstaat aufgeputzte Gestalt, empfing Klara nicht mit der freundlichen Gutmüthigkeit, die ihr natürlich gewesen wäre, sondern mit all der steifen Förmlichkeit, die sie dem Range der Gräfin von Nordeck und den Foderungen des guten Tones schuldig zu sein glaubte, und stellte ihr ihre älteste Tochter, die Oberstin von Korsakow, und noch einige anwesende Damen vor. Klara war noch so gar nicht daran gewöhnt, als eine Dame von Rang anzutretend ihr war noch so mädchenhaft zu Sinne, daß sie, zum großen Befremden der Frau von Walden, Miene machte, sich fern vom Sopha neben Therese setzen zu wollen. Doch ein solcher Verstoß gegen alle Ceremonialgesetze konnte nicht geduldet werden, und sie mußte den ihr gebührenden Platz einnehmen.

Klara zog Aller Blicke auf sich und wurde der Gegenstand neugieriger Beobachtung. Mehrere der anwesenden Herren traten in eine Fenstervertiefung zusammen, um sich ihr Urtheil über sie mitzutheilen. Graf Butbu führte hier das Wort. Er gehörte zu den vornehmen Vagabonden, die man, ohne daß sie irgendwo einheimisch sind, bald hier, bald dort in den europäischen Salons antrifft. Jung, wohlgestaltet, der jüngere Sohn eines reichen und vornehmen Hauses, wußte er sich in gewissen Kreisen leicht die Bedeutenheit eines Tonangebers zu erwerben und wurde auch als solcher in dem Hause der Frau von Salden gefeiert. Eigentlich war er viel unschädlicher, als er es zu sein wünschte, da er im Grunde nur ein Aggregat von lauter Surrogaten der Eigenschaften war, die er gerne hätte besitzen mögen; so war er z. B. geckenhaft statt liebenswürdig, impertinent statt witzig, boshaft statt geistreich u. s. w. Neben ihm stand der Baron Sasdorf. Der Gott des Reichthums ist nicht allein blind, sondern er verblendet auch seine Günstlinge und verhindert sie dadurch, die Armseligkeit ihres Daseins einzusehen. Der Baron gehörte zu diesen Günstlingen; der Langenweile so gewohnt, daß sie ihm ein ganz natürlicher Zustand der Reichen und Vornehmen zu sein dünkte, glaubte er, die ganze Welt sei mit ihm so zufrieden, wie er selbst es war. Er lieh seine englischen Reitpferde Jedem, der sie zu reiten wünschte; er spielte hoch, ohne das Spiel zu lieben, machte aus Gefälligkeit Alles mit, was man ihm vorschlug, und galt für einen liebenswürdigen jungen Mann von dem besten Herzen. Er hatte sich kürzlich dem Fäulein von Korsakow, der Schwester des Obersten, verlobt, ohne eigentlich zu wissen warum; aber es hatte sich Alles so hübsch bequem wie von selbst bei dieser Verbindung gefügt, und heirathen mußte er ja doch ein Mal, da es in seiner Familie hergebrachte Sitte war, daß der älteste Sohn sich mit dem fünfundzwanzigsten Jahre verheirathete.

Ihm zur Seite stand der Kammerherr Bülow, einer jener heiteren Lebemänner, die ohne Kunst, Wissen, Mühe und Zwang ihr Dasein verleben, es mit Niemanden gern verderben, Jedermanns Freund sind, Allen in Allem Recht geben, Alles über die Maßen bewundern und sich ebenso über Alles verwundern, Alles belachen und am geläufigsten über Dinge reden, von denen sie durchaus nichts verstehen.

Oberst Korsakow, Theresens Schwager, war jung und gut gewachsen; allein seine sonst regelmäßigen Züge waren durch den Ausdruck zweier gemeinen Leidenschaften so entstellt, daß ein Maler ihn hätte zum Modell brauchen können, wenn er Neid und Habsucht in einem Wesen vereinigt darzustellen gehabt hätte. Für sich allein oder im Familienkreise sah er ernst und mürrisch aus; in Gesellschaft, und wo er sich angenehm machen wollte, verzogen sich seine Züge zu einem Lächeln, das ihn vollends entstellte. Nie hatte er irgend einem Menschen ohne Nebenabsicht die kleinste Gefälligkeit erzeigt, und man wußte allgemein, daß er kein Bedenken tragen würde, seine Pflicht seinem Vortheil aufzuopfern; und doch war er in der Gesellschaft gern gesehen: er tanzte, er sang, er spielte hoch und hatte ein besonderes Geschick, vornehme Bekanntschaften zu erhaschen und es prahlend geltend zu machen, daß er sie habe. Dabei ließ er sich zu Vielem gebrauchen und übernahm für die ganze Welt Aufträge und Bestellungen, bei deren Besorgung er die Kunst übte, aus ihnen stets Vortheil fur sich zu ziehen.

Während diese Herren Klara lorgnirten, wandte sich ihre Nachbarin von ihr ab, um mit Frau von Korsakow zu flüstern. Klara empfand, daß sie der Gegenstand ihres Gesprächs sei, und erröthete im Gefühl der Unbehaglichkeit. Auch trog ihre Ahnung sie nicht. Beide Frauen verwunderten sich spottend über die Einfachheit ihres Anzugs. Frau von Korsakow kannte nichts Wichtigeres als ihre Toilettenangelegenheiten; sie hatte sich diesen Tag besonders sorgfältig gekleidet, um nicht von Klara verdunkelt zu werden, von der sie voraussetzte, daß sie, eben erst aus Deutschland angekommen, im Besitz der neuesten Moden sein müsse, und nun fand sie sich in dieser Erwartung durch Klara’s höchst einfachen Anzug getäuscht. Auch war sie mit ihrem Urtheil über sie schnell fertig. Die Frau muß ganz unbedeutend sein, sagte sie sich und Anderen, ein wahres Gänschen; unbegreiflich, daß Nordeck sie gewählt hat; und dumm! dumm! sie versteht ja nicht einmal sich ordentlich anzuziehen, und wird, wenn man mit ihr spricht, einmal über das andere roth, als sei sie eine deutsche Pastorstochter.

Endlich öffneten sich die Thüren des Eßzimmers, und der Oberst Korsakow bot Klara den Arm, sie zu Tische zu führen. Ihr Nachbar bei demselben, suchte er sie durch Mittheilung von Petersburger Tagsneuigkeiten zu unterhalten, die für Klara kein Interesse haben konnten, da sie Kunde aus einer ihr ganz unbekannten Welt waren. Aber diese Nachricht hatte er bei dem Fürsten Gallizin, jene bei der Gräfin Woronzow gehört; diese Neuigkeit wußte er aus einem Briefe, den ihm der *sche gesandte zu lesen gegeben hatte, jene war ihm von dem Minister N.. selbst bestätigt worden. Frau von Walden hörte mit sichtlichem Vergnügen dem Gespräch ihres Schwiegersohns zu und sandte spähend ihre Blicke auf Entdeckung umher, ob die Gesellschaft auch höre, auf welchem vertrauten Fuß er mit so vornehmen Leuten umgehe. Keiner dachte daran, ein Gespräch auf die Bahn zu bringen, an das die Fremde, in diesem Kreise ganz Unbekannte Antheil nehmen könne, bis sich endlich eine der anwesenden Damen an Klara mit der Frage wandte, ob sie der deutschen oder der französischen Schauspielergesellschaft den Vorzug gebe, und welches Theater sie zuerst besucht habe.

Ich bin erst seit gestern in Petersburg angekommen, antwortete sie; aber ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, der Aufführung eines Schauspiels beizuwohnen , und seeue mich sehr auf den Besuch der hiesigen Theater.

O welch ein beneidenswerthes Glück, gnädigste Frau, rief hier ein junger Mann, der nicht fern von ihr saß; und was wollte ich darum geben, es mir erkaufen zu können! Man macht unseren neueren dramatischen Dichtern häufig einen Vorwurf daraus, daß sie uns nicht mehr hinzureißen und zu entzücken vermögen, und doch ist dies nur unsere Schuld und nicht die ihre. Wir sind von Kindheit auf mit den dramatischen Vorstellungen zu vertraut, und dadurch geht die Ueberraschung und die Gewalt des ersten Eindruckes für uns verloren, noch ehe wir uns ihrer bewußt sind. Wer das große, das wahrhaft Schöne in Kunst, Leben und Natur erfassen und sich daran erfreuen und bereichern will, sollte sich vor Allem die Freiheit eigner Auffassung zu erhalten streben; aber wo wird Einem von uns noch das Glück zu Theil, etwas zu sehen, zu hören, zu denken, zu empfinden, von dem er nicht schon reden gehört, oder von dem er nicht schon gelesen hat. Wüthend hat es mich gemacht, als mir in Italien bei den schönsten Gemälden und Statuen unaufhörlich Gedichte in den Sinn kamen, in denen sie besungen waren, oder fremde Urtheile, die ich gehört, Beschreibungen, die ich gelesen hatte, und vor deren Andrang ich mir nun meiner eignen, treuen, ursprünglichen Empfindung bei ihrem Anblick nicht bewußt zu werden vermochte.

Gewiß, sagte Nordeck lächelnd, so angenehm es ist, späterhin seine eignen Beobachtungen durch fremde berichtigen zu können, so nachtheilig ist es für uns im umgekehrten Fall. Das Erstere führt allein zum ächten Selbstgenuß, das letztere nur zur Kritik, und diese ist unfruchtbar für die Bereicherung unsers innern Lebens.

Daher ist auch in unseren Tagen nichts seltner, antwortete Baron Rehbinder - so hieß der junge Mann - als ein offner Sinn, der still und ohne Klügelei die reichen Schätze der Kunst und der Natur in sich aufnimmt. Allen Beweisen und Urtheilen im Gebiet des Schönen kann am Ende doch nur in der Tiefe des eignen Gemüths Bestätigung zu Theil werden. Die Kunst ist in unserer Zeit aus einer heiligen Prophetengabe zu einem Handwerk geworden, der Geist geht in todten Formeln unter, und der Mensch verarmt, wo der Gelehrte sich bildet. Wie anders war es in jenem Zeitalter, wo der Dichter, der Künstler mitlebend, mitgenießend in und zu seinem Volke stand, und die Lieblinge der Musen, wie Göttersöhne geehrt, der Stolz ihres Landes und ihrer Fürsten waren und sich in ihnen noch die Kraft der alten Welt mit der romantischen Blüte der neuern Zeit vermählte!

Es ist leider nur zu wahr, nahm einer der Anwesenden, ein Mann von mittleren Jahren, der Nordeck als ein Graf Sivers vorgestellt worden war, das Wort, daß den Dichtern vorzüglich in unserer Zeit das Einwirken auf ihre Zeitgenossen und das Mitleben mit ihnen fehlt, wodurch allein die Blüten ihrer Phantasie sich jugendfrisch zu erhalten vermögen. Der Dichter ist uns jetzt weit öfter ein Räthsel, das auf eine verhüllte Zukunft hindeutet, als ein Spiegel der Gegenwart, und daher auch das allgemeine Streben, diesen Mangel des eignen, frischen, kräftigen Lebens durch Aneignung des Alten und des Ausländischen ersetzen zu wollen. Was aber einmal vom Zeitenstrom hinweggerissen ist, vermag keine lebende Macht mehr zu üben. Wol erklingen auf ihm dahinflutend die Töne der Vergangenheit, gleich dem Lied des sterbenden Schwanes, in zaubervoller Verklärung; sie bewegen unser Herz wie jeder Anklang von der Flüchtigkeit des irdischen Daseins, von der Sehnsucht nach dem Ewigen, die im Menschengeschlecht nie erstirbt; aber sie können uns nicht zu der großartigen Einfachheit versunkener Jahrhunderte zurückführen. Das Alterthum gleicht einem hochgewölbten tausendjährigen Eichenhain, unsere Zeit einer in bunter Mannichfaltigkeit prangenden Blumenebene. In der neuern dramatischen Literatur läßt nun vollends der fremdartige Geist der ausländischen Formen nachgebildeten Schaum spiele das eigentliche Leben gleichgültig, und das Erdenken scheint bei ihren Verfassern das Dichten mehr und mehr verdrängen zu wollen.

Die fremdartige Form und die ausländischen Stoffe tragen nicht allein die Schuld, wandte Baron Rehbinder ein, wenn das Publicum durch die neueren dramatischen Producte so gar nicht zu lebendiger Theilnahme angeregt wird. Die Deutschen sind ja jetzt reicher denn je an vaterländischen Trauerspielen; ihre talentvollsten und ausgezeichnetsten Dichter haben sich an der Ausführung von Tieck’s und Solger’s Idee, die Geschichte der Hohenstaufen zu einem Cyklus von Trauerspielen zu benutzen, versucht; aber nirgends hat das Publicum, so wenig das lesende als das zuschauende, ein nur einigermaßen lebendiges Interesse an diesen Werken gezeigt.

Weil dem Publicum so gut wie den Dichtern, antwortete Nordeck, die Bewußtlosigkeit fehlt, die eben so wol eine Bedingung des ächten Kunstgenusses als des ächten Kunstwerkes selbst ist. Die Personen in allen diesen Trauerspielen scheinen uns von dem Dichter nur erdacht, damit sie diese oder jene Ansicht, diese oder jene Meinung aussprechen sollen; mir sind viele dieser Dichtungen oft nur als Allegorien vorgekommen, wol gar als erklärrende Verspiele zu irgend einer historischen oder juristischen Dissertation. Nur Das, was ohne äußeres Zuthun, aus der Brust des Dichters, dem tiefsten, innerlichsten Quell seines reichsten Lebens entströmt, wird zu jeder Zeit Theilnahme wecken und Verständniß erzeugen; ein solches Dichterwerk wird, indem es jeder erdachten Absicht, jedes bewußten Zweckes ermangelt, tausend herrliche Gedanken wecken, und künftige Jahrhunderte werden die Ideen, die ihre Heroen begeistern, schon in ihnen niedergelegt zu finden glauben. Ich erinnere hier nur an Shakspeare; wie erscheint er uns so unerschöpflich reich, ewig neu, ewig räthselhaft und doch unsere Zeit so leicht mit ihm sich verständigend. Er ist ein schlagender Beweis, daß das wahr Empfundene, wahr Gedachte nie zu veralten vermag und in seiner Tiefe nie zu erschöpfen ist. Wo aber das ganze Drama nur zur Entwickelung einer einzigen, gleichsam erstarrten Idee bestimmt zu sein scheint, da kann nur eine Zeit daran Behagen finden, deren Schoßkind eben diese Idee ist; jede andere bleibt gleichgültig dagegen. Ein Beispiel davon sehen wir an der Schicksalsidee einiger neueren dramatischen Dichter; diese ist dem lebenden Geschlecht so fremd, sie ist so entschieden unchristlich, daß sich die Menge im dunkeln Gefühl dadurch empört fühlt und alle diese Stücke, von ihr unbeachtet und ungeliebt, schnell der Vergessenheit anheimfallen.

Mir scheint auch, sagte Rehbinder, das Publicum in seiner Bildung zu dem Punkt gekommen zu sein, wo es an jeden Schriftsteller die Froderung macht, daß er den Leser productiv anregen soll, statt ihn, sei es auch auf geistreiche Weise, zwingen zu wollen, sich mit ihm in die Sphäre seiner Ideen und Ansichten einschließen zu lassen.

Lassen Sie uns hoffen, fiel Graf Sivers ein, daß bald wieder ein Werk voll mächtigen, unwiderstehlichen Natursinnes den Zauber der Erstarrung löse, der jetzt die tragische Muse der deutschen dramatischen Dichter zu lähmen scheint. Phantasie, reines Naturgefühl, Liebe und Begeisterung sind zu unvergängliche Züge der deutschen Volksthümlichkeit, als daß sie je in den deutschen Dichtern ersterben könnten, und die Schärfe des herrschsüchtigen Verstandes mußte sich vielleicht nur eine Zeit lang unter uns geltend machen, um die Ueberschwenglichkeit einer gewissen neu-romantischen Schule zu der ruhigen und klaren Besonnenheit zurückzuführen, die den Deutschen so wohl ansteht.

Mag man unsere Zeit überhaupt anklagen, wie man will, setzte Nordeck hinzu, so ist sie doch darin schön und groß, daß Kunst und Wissenschaft jetzt allgemein als die edelsten Gemeingüter der veredelten Menschheit anerkannt werden; gleichsam als die befruchtende Mittelregion, aus der die hohen Berggipfel Religion und Staat emporragen, um durch sie hin den Ebenen in ihren Quellen Nahrung und Gedeihen zuzusenden.

Klara hörte dieser Unterredung mit um so gespannterm Interesse zu, da ihr der reinste geistige Genuß, der einem weiblichen Wesen zu Theil werden kann, der, gebildete Männer sich mit einander besprechen zu hören, ganz neu war; aber für den größten Theil der Anwesenden war diese Unterhalttung eben so langweilig als unverständlich, und sie wurde auch für Frau von Walden die Veranlassung, die Tafel früher aufzuheben, als es sonst der Fall gewesen sein würde.

Im übrigen Verlauf des Abends fand sich für die beiden Freundinnen keine Gelegenheit zur Fortsetzung von Gustav’s Geschichte; Therese versprach aber beim Abschied, den andern Morgen zu Klara kommen zu wollen, und diese, des späten Aufbleibens noch nicht gewohnt, fühlte sich zu ermüdet, um noch mit Nordeck die Eindrücke des verlebten Tages auf sie besprechen zu mögen. Beim Erwachen war aber Therese ihr erster Gedanke; so wenig sie auch von der Welt wußte, so hatte sie doch die vielen Frauen eigne Gabe, Vieles von ihr zu errathen, und so war auch von ihr das Misverhältniß, in dem Therese zu ihrer Familie stand, nicht unentdeckt geblieben, und sie fühlte in der Seele ihrer Freundin den Schmerz, durch Familienbande mit Menschen verbunden zu sein, die man nicht achten kann und die uns durch ihre Gehaltlosigkeit verletzen.

Frau von Walden war in ländlicher Einsamkeit aufgewachsen und ihre Erziehung sehr vernachlässigt worden. Jung verheirathet, bewohnte sie mit ihrem Mann ein Gut in Liefland, und als er starb, änderte sie auch in den ersten Jahren ihres Witwenstandes nichts in ihrer Lebensweise. Der Oberst Korsakow lernte ihre älteste Tochter, die der Abgott der Mutter war, in Riga auf einem Balle kennen; ihre Schönheit zog ihn an, ihr Vermögen fesselte ihn; er warb um ihre Hand und beredete, als er diese erhielt, seine Schwiegermutter, ihn nach Petersburg zu begleiten, wo er in Garnison stand, um dort mit ihm ein Haus auszumachen. In diesen neuen Verhältnissen entwickelten sich nun schnell bei Frau von Walden alle die Charakterfehler, die sich in ihren früheren Lebensverhältnissen nur als kleine Schwächen angedeutet hatten. Eitelkeit und Glanzsucht waren die hervorstechendsten darunter. Ihre Tochter in die große Welt eingeführt, sie darin glänzen zu sehen, galt ihr für ein um so wünschenswertheres Glück, da sie selbst sich nicht die Feinheit einer großstädtischen Lebensweise anzueignen vermochte. Frau von Korsakow stürzte sich in die Zerstreuungen der großen Welt, und ohne innern Gehalt, nahm sie alle Verkehrtheiten einer Modedame an. Therese nahm wenig Theil an dem geräuschvollen Leben in ihrer Mutter Hause; außer demselben erzogen und im Besitz eines unabhängigen Vermögens, wußte sie, trotz ihrer Jugend, eine edle Selbständigkeit zu behaupten, und das bedeutende Kostgeld, das sie zahlte, sicherte ihr eine Freiheit der Lebensweise, die man ihr sonst schwerlich zugestanden haben würde.

Als sie am folgenden Morgen bei Klara erschien, löste sie ihr Versprechen durch folgende Erzählung:

In meinem vierten Jahre verließ ich, wie du weißt, das Haus meiner Eltern, und da ich es erst nach dem Tode meines Vaters wieder betreten habe, vermag ich mich des theuern Mannes kaum noch zu erinnern. Nur dunkel schwebt mir seine Gestalt vor, er war groß, sah sehr ernst aus und wurde von Allen, die ihn umgaben, geliebt, aber auch gefürchtet. Als er meine Mutter heirathete, war sie ein armes Mädchen und er ein unbemittelter junger Officier, doch schon in dem ersten Jahr ihrer Verbindung erbte er von einem weitläufigen Verwandten das schöne große Rittergut Lindenthal in Liefland, das meine Eltern seitdem bewohnten, doch mit diesem Gute auch zugleich einen Proceß mit einem benachbarten Gutsbesitzer, dem Baron Rosen, dessen Sohn der liebste und vertrauteste Herzensfreund meines Vaters war. Dieser Proceß hinderte, ob es sich gleich um den Besitz von Lindenthal handelte, den freundschaftlichen Umgang beider Familien nicht. Der junge Rosen hatte nur eine Tochter, die mit mir in gleichem Alter war; wir sahen uns oft, und wenn Marie, so hieß sie, sich nach Kinderart häufig mit mir zankte, so wurde dagegen das gute Vernehmen zwischen ihr und Gustav nie gestört, und sie liebte diesen mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen Innigkeit. Nie trennte sie sich von ihm ohne Thränen, und keins unserer Spiele hatte Reiz für sie, wenn er nicht daran Antheil nahm.

Die beiden Väter belustigten sich oft an den kindlich naiven Zügen dieser Zärtlichkeit und Mariens Vater gefiel sich darin, auf einem so unsichern Grund, wie es die Empfindungen zweier Kinder sind, Entwürfe für die Zukunft zu gründen. Er suchte Mariens Zärtlichkeit für Gustav auf alle ersinnliche Weise zu vermehren, nannte sie immer seine kleine Braut, und als nach dem Tode seines Vaters das Urteil der zweiten Instanz in dem Prozesse, der um Lindenthal geführt wurde, zu seinem Vortheil ausfiel, schlug er meinem Vater vor, den Proceß niederzuschlagen und ihn ungetsört in dem Besitz des Gutes zu lassen, wo es dann das gemeinschaftliche Eigenthum des jungen Paares werden sollte. Mein Vater nahm diesen Vorschlag dankbar an, und es wurde nun noch festgesetzt, daß, wenn durch Mariens Schuld diese Verbindung nicht zu Stande komme, Lindenthal dann an Gustav, und so im entgegengestzten Falle, an Marie fallen solle.

Von diesem Zeitpunkte an gewöhnte man die Kinder, sich als für einander bestimmt anzusehen, und vielleicht wäre aus diesem Verhältnis Beider Lebensglück erblüht, wenn Marie nicht ihre Mutter verloren hätte und ihr Vater, der seiner siebenjährigen Tochter auf dem Lande nicht die Erziehung geben zu können glaubte, die er für sie wünschte, sie nach Königsberg zu Ihrer Großmutter, der Gräfin Dohna, gebracht hätte. Seit dieser Trennung hat Gustav sie nicht wiedergesehen.

Baron Rosen, der ihn ganz wie seinen eigenen Sohn liebte, nahm ihn nach zwei Jahren mit zum Besuch nach Königsberg; allein sie fanden Marie an den Masern krank und Gustav, der diese noch nicht gehabt hatte, durfte seine kleine Braut während der Zeit seines dortigen Aufenthalts nicht sehen. Die Abwechselungen und die Zerstreuungen der Reise trösteten ihn leicht darüber. Das Jahr darauf starb mein Vater, und die Vormünder sandten Gustav nach Deutschland, um dort auf einer Ritterakademie und später auf einer Universität seine Studien zu vollenden. Nun lernte er dich kennen, meine Klara, und gewiß, es sind unvergeßlich glückliche Tage, die wir in jenen Jahren während seiner Ferien mit ihm verlebten, und meine Liebe für dich war zu innig, als daß ich je auf den Vorzug, den er dir so sichtlich gab, eifere süchtig geworden wäre.

Die Verheirathung meiner Schwester gab auch meinem Schicksal eine andere Wendung; mein Schwager fand, daß ich, statt bei meiner Tante zu leben, verpflichtet werden könne, ihm und meiner Mutter ein beträchtliches Kostgeld zu zahlen, und bestimmte diese daher, auf meine Zurückkunft nach Rußland zu dringen. Du weißt, wie schwer mir die Trennung von Rosenhof wurde, aber ich hielt es für Pflicht, den Wunsch meiner Mutter zu erfüllen. Gustav blieb noch ein Jahr länger in Deutschland und kam dann zu uns. Mir entging bei diesem Wiedersehen die an Abneigung grenzende Gleichgültigkeit nicht, die er gegen seine Braut zu empfinden schien; das Bild der Gespienlin seiner Kindheit war in seinem Herzen ganz erloschen und ein anderes mit Feuerzügen darein gegraben; ich war aber zu unerfahren, um sein Geheimniß zu errathen; ich ahnte kaum, daß er eins hatte, und von Jugend auf daran gewöhnt, mir nur Marie als seine Braut zu denken, schien es mir auch ausgemacht, daß er keine Andere lieben könne.

Baron Rosen konnte jetzt mit Recht erwarten, daß Gustav zu ihm eilen werde, das Glück in Anspruch zu nehmen, das er ihm zugesagt hatte; allein Gustav verzögerte unter mancherlei Vorwand seine Reise nach Liefland von Woche zu Woche. Er liebte und verehrte den Baron wie einen zweiten Vater; er wußte, daß der treffliche Mann alle seine Hoffnungen auf Mariens Verbindung mit ihm begründete, und noch ernster fühlte er die Verpflichtung, das von seinem Vater gegebene Wort zu ehren. Dem Willen eines Lebenden setzt man viel leichter Widerstand entgegen, aber es ist eine Verletzung der Pietät, den letzten Wunsch eines Sterbenden, sein Vermächtnis an die Treue der Seinigen, unerfüllt zu lassen. Auch verlor Gustav mit der Rückgabe von Lindenthal an Marien nicht nur sein ganzes eignes Vermögen, sondern auch meine Mutter den größten Theil des ihr ausgesetzten Witthums, da mein Vater in seinem Testament Alles, was er außer Lindenthal besaß, meiner Schwester und mir vermacht hatte. Alle diese Verpflichtungen bestimmten Gustav, unseren Bitten nachzugeben und nach Liefland zu gehen. Marie war noch in Königsberg, und er brachte mehrere Tage bei ihrem Vater zu, ohne daß von seiner Vermählung mit ihr die Rede war. Der Baron war zu stolz und zu zartsinnig, um zuerst davon reden zu wollen, und Gustav hielt jeden Tag der Verzögerung seiner Werbung für Gewinn. Er hatte versprochen, mir Nachricht zu geben, sobald sein Schicksal entschieden sei; aber es vergingen einige Wochen, ohne daß ich einen Brief von ihm erhielt, und schon begann sein Schweigen mich zu beunruhigen, als ein uns Allen unerwartetes Ereigniß seinem Schicksal eine neue Wendung zu geben verhieß.

Der einzige Bruder meiner Mutter starb plötzlich. Er war ein berüchtigter Geizhals, doch hielt man ihn bei weitem nicht für so reich, als er es wirklich war. In seinem Testament hatte er nur einen Theil seines Vermögens den Verwandten seiner schon vor einigen Jahren verstorbenen Fau vermacht, die größere Hälfte desselben aber meinem Bruder Gustav. Meine Mutter verbarg ihre Unzufriedenheit mit dieser Verfügung nicht, die meinen Schwager wüthend machte. Nicht einmal ein Legat war ihm oder meiner Schwester ausgesetzt, da er doch seit seinem Eintritt in unsere Familie dem alten geizigen Onkel auf die kriechendste Weise den Hof gemacht hatte.

In dieser Zeit erfuhr ich deine Verlobung mit Nordeck und wenige Tage nachher erhielt ich einen Brief von Gustav, der mir sein Betragen erklärte, mich aber unter diesen Umständen schmerzlich betrüben mußte. Hier ist er.

Klara nahm das Blatt, das sie nicht ohne tiefe Bewegung zu lesen vermochte.

,,Meine Therese, wie hat sich mein Schicksal so gegen alle meine Erwartung glücklich umgewandelt! Das Vermächtniß meines Onkels schien mich unauflöslicher denn je m Bande zu verstricken, die mir zur drückendsten Fessel geworden waren, da ich mir nun nicht den kleinsten Versuch zu ihrer Lösung erlauben durfte, ohne mich dem Verdacht preiszugeben, daß ich nur aus niedrigem Eigennutz bis jetzt geschwiegen habe. Marie allein konnte mir meine Freiheit zurückgeben, und der Himmel lohne es ihr, daß sie es that. Bedarf es für Dich, meine Schwester, meine Vertraute, noch des Geständnisses, daß es Liebe für eine Andere war, die mir meine Verbindung mit Marie so schreckensvoll machte? Brauche ich Dir noch Klara’s Namen zu nennen, um Dich mit dem Geheimniß meines Herzens bekannt zu machen? Doch mir selbst wurde ja das Geheimniß dieser Liebe erst in dem Schmerz des Trennungsaugenblickes enthüllt; bis zu ihm hatte ich mich ebenso bewußtlos als unbedingt dem süßen allmächtigen Zauber hingegeben, der mich an dies anbetungswürdige Wesen von Jahr zu Jahr unauflöslicher fesselte. Was habe ich seit meinem Abschied von ihr gelitten! Wie gewaltsam fühlte ich mich durch den Gedanken erschüttert, einer Andern meine Hand geben zu sollen! Wäre Marie früher meine eigne Wahl gewesen, hätte ich ihr freiwillig mein Wort gegeben, so hätte ich als Mann von Ehre nicht daran denken dürfen, es zu brechen; so aber hatten nur unsere Eltern diese Verbindung geschlossen, als wir beide noch an Geist und Gemüth Kinder, unmündige Kinder waren; und doch war ich gefesselt, doch durfte ich mir den Gedanken, meine Verbindung mit ihr lösen zu wollen, nicht erlauben. Mariens Vater hatte dem meinigen einst mit großsinniger Uneigennützigkeit die Hand seiner Tochter für mich angeboten; diese Verbindung war der innigste Herzenswunsch meines Vaters gewesen; es erschien mir so unheilig, ein Wort zu brechen, das der Todte für mich gegeben hatte; und dann meine Mutter! Mein eignes Vermögen kam bei mir nicht in Betracht; ich fühlte mich kräftig, meiner Geliebten durch Fleiß und Geschicklichkeit ein sorgenloses Leben bereiten zu können - aber meine Mutter; in den ersten Jahren durfte ich nicht hoffen, ihr für Das, was sie verlor, hinreichenden Ersatz bieten zu können, und der Gedanke an ihre Klagen, ihre Vorwürfe gab mir Muth zur Erfüllung meiner Pflicht.

,,Baron Rosen nahm mich bei meiner Ankunft auf, als sei ich sein Sohn. Aus jedem seiner Blicke strahlte Liebe und Vaterfreude; ich sah, wie er von Minute zu Minute darauf wartete ,daß ich von Marien reden solle; und doch band mir, so oft ich es zu thun versuchen wollte, eine höchst peinliche Befangenheit die Zunge. Dies Schweigen gab aber unserm Zusammensein etwas Gedrücktes und Zwangvolles, das uns Beiden gleich fühlbar und unangenehm zu sein schien. Da erhielt er eines Tages in meiner Gegenwart einen Brief, den er mit sichtlicher Bewegung mehrere Male überlas; er faltete ihn dann langsam zusammen und ging mit großen Schritten schweigend im Zimmer auf und ab, wobei zuweilen ein Blick auf mich fiel, aus dem Unruhe und Besorgniß sprachen. Endlich warf er sich mir gegenüber in rinen Lehnsessel und schien, den Kopf auf die Hand gestützt, in tiefes Nachsinnen zu versinken.

,,Besorgt näherte ich mich ihm und fragte, ob er unangenehme Nachrichten erhalten habe?

,,Er sah mich lange an, als sei er unschlüssig, was er mir sagen sollte. Dann zog er den eben erhaltenen Brief hervor und reichte ihn mir. Lies selbst, sagte er, und ohne weiter ein Wort hinzuzufügen, begann er wieder im Zimmer auf- und abzugehen, wobei er mich aber nicht aus den Augen ließ, um den Eindruck zu beobachten, den der Brief auf mich machen werde.

,,Er war von seiner Schwiegermutter, der Gräfin Dohna, bei der Marie in Königsberg lebte, und aus jeder Zeile sprach der bitterste Unmuth gegen mich. Die Zahl der Bewerber um Mariens Hand, schrieb sie, mehre sich von Monat zu Monat; in den letzten Tagen sei ihr wieder ein, in jeder Hinsicht glänzender, annehmenswerther Antrag gemacht worden, den sie um so mehr sich verpflichtet fühle, ihm zur Beachtung zu empfehlen, da mein Betragen nur zu deutlich zeige, daß die Verbindung mit Marie keinen Werth für mich habe. Mein Betragen, setzte sie hinzu, sei in seinem Verstummen und in seiner beleidigenden Vernachlässigung der mir bestimmten Braut so empörend, daß sie den Gedanken nicht tragen könne, Marie an mich verschleudert zu sehen. Marie selbst sei zu edelstolz, um eine so unziemlich verspätete Werbung, wie es die meinige jetzt sein würde, anders als aus kindlichem Gehorsam gegen den ausdrücklichen Befehl des Vaters anzunehmen. Dringend bitte sie ihn daher, sein mir gegebenes Wort zurückzunehmen und selbst nach Königsberg zu kommen, um die Hand seiner Marie in die eines Mannes zu legen, der stolz daraufsein werde, in ihr das Kleinod seines Glückes und die Zierde seines Hauses zu erhalten.

,,Ich las den Brief zwei Mal, um Zeit zu gewinnen, mich zu sammeln und mich auf die Erklärung vorzubereiten, die nun unausbleiblich zwischen dem Baron und mir erfolgen mußte. Dieser schien entschlossen, mich zuerst reden zu lassen, und so faßte ich mir endlich Muth. Dieser Brief, sagte ich ihm, spricht Das aus, was ich oft empfunden habe, daß ich mir nämlich nicht erlauben darf, die freie Wahl Mariens beschränkt zu glauben.

,,Der Baron sah mich betrübt an. Gustav, antwortete er, indem er mir liebevoll die Hand bot, verläugne die freimüthige Offenhrit deines Charakters nicht, die dich mir so lieb macht; vergiß für den Augenblick, daß du mit Mariens Vater redest, und gesteh mir aufrichtig, was dich der Verbindung mit ihr abgeneigt macht.

,,Bei diesen letzten Worten siegte aber sein Stolz und seine beleidigte Vaterliebe; er schleuderte meine Hand fort und trat, von mir abgewendet, an das Fenster. Hören Sie mich, bat ich ihn, und entscheiden Sie dann. Ich war noch Knabe, als ich Marie zum letzten Male sah; ich kenne sie also nicht und kann sie nicht aus Liebe wählen. Ohne jenen Vergleich, der fast mein ganzes Vermögen von der Verbindung mit ihr abhängig macht, könnte ich nur stolz darauf sein, von Ihnen zum Sohn erwählt zu werden. Sie wissen, Sie fühlen, wie ich Sie von ganzem Herzen liebe und verehre; aber jene Bedingung verleidet mir jede Verbindung mit Ihrer Tochter, da sie mich mit dem Verdacht eines schmuzigen Eigennutzes belastet. welche Bürgschaft kann ich Marien, ihrer Familie und der Welt anbieten, daß ich nur aus ihrer würdigen Bewegungsgründen um sie werben würde?

,,Diese Gesinnungen, Gustav, sagte er, würden von manchem Andern romanhafte Ueberspannung genannt werden; ich lasse ihnen mehr Gerechtigkeit widerfahren; aber ich würde aufhören, dich zu achten, wenn du sie nur als Vorwand brauchtest, um einen andern Grund deines Betragens damit zu verhüllen.

,,Tief beschämt erglühte ich hier. Nein, mein Vater, rief ich, diese Gesinnungen würden unter allen Umständen die Richtschnur meines Betragens gewesen sein; aber Sie sollen in meinem Herzen lesen, wie Gott darin liest.

,,Ich vertraute ihm nun das Geheimniß meiner Liebe zu Klara, das ihr selbst noch Geheimniß war und sich mir erst im Augenblick der Trennung von ihr enthüllt hatte. Er hörte mir theilnehmend zu. Ich kann den Wunsch, dich mit Marie vermählt zu sehen, nicht so leicht aufgeben; ich liebe euch Beide mit fast gleicher Zärtlichkeit und würde über Mariens Zukunft ganz beruhigt sein, wenn ich sie als deine Frau sähe. Wenig junge Männer sind in unseren Tagen dazu geeignet, dem Vaterherzen ein solches Vertrauen einzuflößen. Es beleidigt mich nicht, daß du unter diesen Umständen mich bisher nicht an die Erfüllung meines Versprechens gemahnt hast; ich billige den Zartsinn deiner Empfindungen, aber ich kann auch deine Liebe zu dem jungen Mädchen in Deutschland nicht so wichtig nehmen, als du es thust. Jeder Mann, mein Sohn, hat wol irgend einmal einen schönen Jugendtraum dieser Art geträumt; allein das Leben ist zu ernst und zu reich, als daß wir alle seine Hoffnungen einem Traum anvertrauen dürften. Doch bist du von diesem Augenblick an berechtigt, dich für völlig frei zu halten; ich entbinde dich jeder Verpflichtung gegen meine Tochter; aber ich fordere dagegen von dir als Freund, daß du mich nach Königsberg begleitest, um Marie kennen zu lernen und dich zu überzeugen, daß ich Recht habe, auf den Besitz einer solchen Tochter stolz zu sein.

,,Ich erklärte mich berritwillig, ihn zu begleiten, und er schrieb nun an die Gräfin Dohna, daß Marie allerdings berechtigt sei, sich für frei anzusehen und ganz nach ihrer Neigung eine andere Wahl zu treffen; doch wünsche er, ihr und mir Glelegenheit zu verschaffen, uns gegenseitig kennen zu lernen, da er überzeugt sei, daß ich Marie nicht werde sehen können, ohne sie liebzugewinnen, und ebenso gewiß voraussetzen könne, daß auch ich ihr gefallen werde; er bitte daher die Gräfin, ihm mit Marien bis zu dem Landgut, das sie einige Meilen von Königsberg besaß, entgegenzukommen, damit wir, dort vereint, einige Tage ganz ungestört im engen Familienkreise zusammen verleben könnten.

,,Nothwendige Geschäfte verzögerten unsere Abreise um einige Tage; auch mußte ja der Gräfin und Marien Frist gelassen werden, sich nach dem Empfang seines Briefes zur Reise nach dem Gute zu rüsten. Der Baron war in diesen Tagen still und innig vergnügt; ich las in jedem seiner Blicke die Ueberzeugung, daß Marie Klara aus meinem Herzen verdrängen werde. Desto schmerzlicher traf es ihn, als er am Abend vor dem zu unserer Abreise festgesetzten Tage durch einen reitenden Eilboten einen Brief von der alten Gräfin erhielt, der alle seine Hoffnungen für immer vereitelte. Er schlug, als er ihn gelesen hatte, beide Hände vor das Gesicht und blieb so einige Augenblicke stumm, dann warf er mir den Brief hin und verließ das Zimmer.

,,Die Gräfin schrieb ihm: Marie finde es unter ihrer Würde, mir entgegenreisen und sich dem ungewissen Erfolg dieser Zusammenkunft aussetzen zu sollen; sie habe daher die ihr gewordene Freiheit der Wahl und der Entscheidung benutzt, um sich mit dem Grafen von Dorn zu verloben, den ihr Herz allen ihren anderen Bewerbern vorziehe. Sie bitte um seinen väterlichen Segen und hoffe, ihn bald in Königsberg zu sehen, doch ohne mich, dessen Begleitung für Alle jetzt nur drückend und peinlich sein könne.

,,Gott sei gedankt, ich bin frei! sagte ich mir selbst, und mit unaussprechlichem Entzücken nannte ich mir Klara’s Namen! Wohl fühlte ich, als ich den Baron wiedersah, daß es meine Schuldigkeit sei, ihm meine Freude zu verbergen; er mußte sie mir aber doch, gegen meinen Willen, anmerken, denn er sah mich, als ich ihm den Brief zurückgab, finster an und versuchte, ohne mir weiter ein Wort über den Inhalt desselben zu sagen, ein gleichgültiges Gespräch mit mir anzuknüpfen. Dieser Zwang war aber für uns Beide gleich peinlich; auch ertrug er ihn nicht lange, er sagte mir, daß er am andern Morgen früh nach Königsberg abreisen wolle, und nahm kaltsinnig von mir Abschied. Ich war tief bewegt, doch zu befangen, um meinem Gefühl Worte geben zu können. An der Thür des Zimmers wandte ich mich noch einmal um - mir standen Thränen in den Augen - Gustav! rief er, und streckte mir die Arme entgegen; weinend stürzte ich mich an seine Brust: ich vermag mich nicht so von Ihnen zu trennen, rief ich, Ihr Unwille, Ihr Kaltsinn bricht mir das Herz.

,,Vergib mir, sagte er, aber ich kann mich mit dem Gedanken nicht versöhnen, daß du und Marie nun auf immer für einander verloren seid; ich bin zu fest überzeugt, daß ihr Beide mit einander glücklich geworden sein würdet. Jetzt darf ich es dir sagen. Marie ist ein Engel und du hast in ihr ein unersetzliches Kleinod verloren. Von dem Mann, den sie jetzt heirathet, weiß ich nichts, als daß er reich und vornehm ist, und wie wenig ist das, wo es auf das Lebensglück meines einzigen Kmdes ankommt. Zu ihm kann ich nur beklommen sagen. Nehmen Sie sie hin; zu dir hätte ich mit ganzer Seele gesagt. Da ist sie - ich gebe sie dir! - Die Nacht verging mir schlaflos. Die rührenden Beweise der wahrhast väterlichen Liebe, die ich von dem edeln Mann noch im Augenblick unserer Trennung erhalten hatte, beklemmten gewissermaßen mein Herz; dagegen erwachte in mir das frühere Wohlwollen gegen Marie, die liebliche Gespielin meiner Kindheit; sie stand nicht mehr trennend zwischen Klara und mir, und der Augenblick, in dem ich ihre Verlobung erfuhr, hatte ihr alle ihre Rechte auf meine brüderliche Theilnahme und Liebe zurückgegeben. Ich freute mich ihres Glückes; doch über alle diese Empfindungen siegte triumphirend der Gedanke: ich war frei, ich durfte jetzt zu Klara eilen, durfte ihr sagen, daß ich sie liebte, daß ich hoffen dürfe, sie in dem Zeitraum einiger Jahre mein nennen zu können! -

Noch vor Anbruch des Tages stand ich auf und sagte dem Baron noch einmal schriftlich Lebewohl, indem ich ihm zugleich meine innigsten Segenswünsche für sein und seiner Tochter Wohl aussprach und ihn bat, seinem Geschäftsführer die nöthigen Anweisungen zu geben, da, meiner festen Ueberzeugung nach, Marie durch ihre Handlungsweise keineswegs ihr Recht auf diese Besitzung aufgegeben habe. Ich fuhr dann nach Lindenthal und hier erhielt ich, wenig Tage nach meiner Ankunft, die Nachricht von der mir durch den Tod des Enkels zugefallenen Erbschaft. Nun, meine Therese, steht meinem höchsten seligen Lebensglück kein Hinderniß mehr im Wege, denn gewiß Klara’s Herz hat das meine verstanden; sie wird mein werden! Ich eile nach Deutschland und hoffe, Dir binnen kurzem den Engel als Schwester zuführen zu können. Mein Herz erliegt dem Vorgefühl dieser Wonne. Bald mehr von Deinem
glücklichen Gustav.“

Zwei große Thränen rollten über Klara’s Wangen, als sie den Brief schweigend an Therese zurückgab.

Mein Brief, nahm diese das Wort, in dem ich ihn von deiner Heirath und deiner bevorstehenden Ankunft in Petersburg benachrichtigte, traf ihn auf dem Wege nach Deutschland. Seit dieser Zeit sind wir ohne Nachricht von ihm, und ich weiß nicht, wie er diese Vereitelung seiner schönen Hoffnung erträgt. Nach Lindenthal ist er nicht zurückgekommen; der Besitz dieses Gutes hat zwischen ihm und Marie einen Streit der Großmuth herbeigeführt, den der alte Rosen dahin verglichen hat, daß es gegen Auszahlung einer gewissen Summe Gustav’s Eigenthum geblieben ist.

Klara trocknete sich die Augen und bot dann Theresen freundlich die Hand. Nordeck ist so unbedingt meiner Liebe und Verehrung würdig, sagte sie ihr, daß mich die Anerkennung seines Werthes fester an ihn bindet, als dies irgend ein anderes Gefühl an Gustav zu thun vermocht hätte. Ich bin glücklich und müßte mich selbst verachten, wenn ich auch nur in dem geheimsten Innern meiner Seele wünschen könnte, lieber das Eigenthum eines andern Mannes zu sein. Gustav ist mir sehr theuer; ich liebe ihn als Bruder und werde nie aufhören, warmen, herzlichen Antheil an seinem Schicksal zu nehmen; doch kann ich nach Dem, was ich eben erfahren habe, nicht mehr so unbefangen von ihm reden und an ihn denken als sonst. Gott mache ihn glücklich und schenke dem theuern Freund den verlornen Frieden seines Herzens wieder; wir aber, meine Therese, wollen es uns geloben, nie wieder von seiner Liebe zu mir und von irgend Etwas, das darauf Bezug hat, zu reden. Nimmt sein Schicksal eine glückliche Wendung, so laß es mich erfahren - die Geständnisse dieser Stunde sollen aber stumm in unserer Brust versenkt bleiben.

Therese drückte ihr die Hand. So ist es recht, Klara, sagte sie, und wir wollen gleich zusammen ausfahren, um uns auf andere Gedanken zu bringen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwei Jahre in Petersburg