Abwesenheit des Kaisers

Nur die allein sind vom Glück unabhängig, die sich ein von der Welt abgesondertes Dasein zu schaffen wissen. - Fanny Tarnow.

Die Abwesenheit des Kaisers verzögerte Klara’s Vorstellung bei Hofe, und Nordeck benutzte diese Frist, einen kleinen Kreis ausgezeichneter Männer in seinem Hause zu vereinen und Klara allmälig auf ihre künftigen gesellschaftlichen Verhältnisse vorzubereiten. Sie schien ihm seit ihrer Ankunft in Petersburg einer Pflanze zu gleichen, die durch Versetzung die eigenthümliche Lebenskraft des heimischen Bodens verloren hat, aber die Liebe ihres Gatten und Theresens Nähe waren ihr, was dieser der frische Morgenthau und die Alles belebenden Strahlen milder Frühlingssonne sind. Bei der kräftigen Jugendlichkeit ihres Daseins und ihrer Empfindungen belebte die Neuheit der Gegenstände ihre Einbildungskraft und sie erfreute sich der feinen zierlichen Formen ihrer vornehmen, großstädtischen Umgebung, ohne noch zu ahnen, wie verderblich diese glänzende Politur der äußern Hülle leicht dem Kern des menschlichen Daseins wird. Nordeck gab ihr keine Regeln für ihr Betragen; überzeugt, daß der Mensch nur an selbstgewonnenen Erfahrungen sich kennen und sich und Andere verstehen lernen kann, fühlte er, es sei um Klara’s harmonische Ausbildung und Entwickelung gethan, wenn sie angeleitet werde, vorzugsweise an Dem zu halten, was sie mit dem Verstande erkennen lerne, und nur vereinzelt werde sich dann diese oder jene Blüte ihres Lesens kümmerlich erschließen.


Nordeck war ein edler Mann, aber er hatte seit früher Jugend am Hofe und in der großen Welt gelebt, und das kann man nicht, ohne gegen den sittlichen Unwerth der Menschen mit denen man lebt, abgestumpft zu werden. Die Gefühllosigkeit, die Lüge, die Eitelkeit, die Selbstsucht, die die Maschinisten des Weltgetriebes sind, machen es uns auf die Dauer unmöglich, in unseren Urtheilen und Gefühlen wahr und uns selbst treu zu bleiben. Für den geselligen Verkehr der vornehmen Gesellschaftscirkel ist nichts bequemer und liebenswürdiger als eine gewisse sittliche Gleichgültigkeit und Schwäche, eine Art von Unvernunft und der Leichtsinn, sich von Beispiel und Mode beherrschen und hinreißen zu lassen. Man heult mit den Wölfen, wenn man unter ihnen ist; nicht eben weil man will, sondern weil man, ohne es zu merken, allmälig mit zu heulen verleitet wird. Nordeck vermochte daher auch nicht ganz klar zu fühlen, welchen Zwiespalt der Eintritt in eine ihr durchaus fremdartige Welt in Klara’s Gemüth herbeiführen müsse; die Erscheinung des Lasters selbst ist für junge Gemüther lange nicht so gefährlich als die gefühllose Gleichgültigkeit gegen die Tugend, die eine wie der Aussatz ansteckende Krankheit der vornehmen Welt ist. Und nun Klara, dies reine, durch und durch wahre; unverdorbene Wesen, durch Nordeck’s Verhältnisse gezwungen, in diesen Kreisen zu leben und darin figuriren zu müssen - ließ es sich da im Voraus berechnen, was es sie kosten werde, in ihnen heimisch zu werden?

Nordeck wünschte Klara zu einer vertrauten, mitfühlenden Theilnehmerin seiner Freude an geistreicher Unterhaltung, an Kunst, Natur und Wissenschaft zu bilden und war sich bewußt, ihren angebornen Sinn dafür durch seine eigne Bildung entfalten und läutern zu können. Auch fühlte er sich innig beglückt, zu bemerken, wie ihr Geist immer mehr und mehr erstarkte, indem sie sich immer inniger und vertrauender an ihn anschloß. Sie hatte bis jetzt nur Märchen und Reisebeschreibungen gelesen, die weite unermeßliche Welt der Poesie lag noch verhüllt vor ihr da, und gewiß, mag der Mensch in unserer Zeit noch so viel Ursache zu haben glauben, über sein Schicksal zu klagen, so sollte er doch nie so undankbar sein, es ungewürdigt zu lassen, welch ein reicher unerschöpflicher Vorrath zum geistigen Genuß ihm auch in der beschränktesten Lage zu Gebote steht. Er selbst, das ganze Menschengeschlecht, mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die schwindelnde Höhe, die dunkle räthselhaste Tiefe des Menschendaseins, die Natur mit ihren Hieroglyphen, die Geheimnisse der intellectuellen Welt, und nun das unermeßliche Wundergebiet der Kunst und der Poesie, Alles, Alles steht ihm zu Gebot und als Priester bereit, ihn in dies Heiligthum einzuführen, die Werke der ausgezeichnetsten Dichter und Denker, die seit Jahrtausenden die Blüten ihres geistigen Daseins der Nachwelt zum heiligen Vermächtniß hinterlassen haben! Wie kurz und flüchtig ist das Menschenleben zur Benutzung dieses ungeheuern Reichthums!

Der Graf wollte Klara solle in dem müßigen Leben einer vornehmen Dame in Kunst und Poesie zwei Schutzgeister finden, die ihr in der Gestalt der Grazien treu zur Seite bleiben sollten; um ihr aber dies zu werden, mußten sie ihr nicht zu einer das Gemüth blos oberflächlich berührenden Ergötzung, sondern zur Stärkung und Erquickung des innern Lebens dienen. Der Wust der Tagesliteratur mußte ihr unbekannt bleiben, und die Poesie konnte ihr Leben nur in sofern wahrhast bereichern, als sie Gegenständen huldigte, um welche Liebe und Verehrung eine unsichtbare Gemeinde edler Menschen versammelte. Klara’s Geist war so frisch wie ihr Sinn und Herz; dies machte sie zu einer ebenso seltenen als anziehenden Erscheinung und gewann ihr die freundlichste Theilnahme von Seiten der ausgezeichneten Männer, die Nordeck in seinem Hause versammelte und fast täglich an seinem Tische sah. In ihrem ganzen Wesen offenbarte sich das Frühlingswehen eines jungen Lebens, das noch ungetrübt wie auf Schwanenfittigen durch die tiefblauen Wogen des Aethers dahinzog. Aus der Musik, aus dem Gesange, aus der Unterhaltung wehten sie Geisterfittige stiller Begeisterung an; alle Erscheinungen des Lebens redeten mit ihr eine Sprache, deren geheimen Sinn sie vorahnend empfand, obgleich ihr noch jeder Ton derselben ein Räthsel war. Jeder, der sie sah, erfreute sich ihrer Schönheit, jedes edle Wesen empfand den Trieb, sie wie eine zarte köstliche Blume vor der rauhen Erdenluft zu schützen; aber Jeder sagte sich auch wehmuthsvoll: so kann, so wird sie nicht bleiben, und wird diese Wunderblüte nur vergehen, um eine ebenso köstliche Frucht anzusetzen? -

Eines Morgens trat Nordeck in Klara’s Zimmer, an der Hand eines Mannes, dessen Gleichen an Hoheit und Adel der Gestalt ihr Auge noch nie erblickt hatte. Es war der General Friedrich Maximilian Klinger, ein Verwandter ihres Mannes, der gekommen war, um sie kennen zu lernen. Obgleich schon Greis, war doch seine Haltung, ohne steif zu sein, militärisch stolz und gerade, und vorzüglich lag in der Art, wie er den Kopf trug, etwas sehr Charakteristisches. Man sah es ihm an, daß er im Leben immer und allenthalben aufrecht gestanden und sich nie demüthig gebeugt hatte. In der Tiefe des ruhig sinnenden Blickes sprach sich eine Entschlossenheit und Kraft aus, die dem Aergsten, was der Mann im Leben zu erdulden gehabt hatte, Trotz geboten zu haben schien. In seinem Besicht war kein Zug von Milde, kein Schimmer von Freundlichkeit, aber auch durchs aus nichts Herbes und Abstoßendes, nur Gepräge der Großheit und einer im Lauf der Jahre vielleicht eisern gewordenen Kraft. Sein Sprachton klang hohl, und doch hatte sein Accent eine herzerschütternde, eine herzzermalmende Gewalt. Man konnte ihn jenen Felsengipfeln vergleichen, die, vom ewigen Eise bedeckt, dem Schein nach unfruchtbar, nur bestimmt scheinen, den Abglanz der versunkenen Sonne in die Erdennacht herniederzustrahlen, und die doch in ihrem Innern die Quellen erzeugen, die tief unten die Blumen im Thal erquicken. Goethe und Klinger waren Jugendfreunde; allein sie sahen sich in den letzten vierzig Jahren ihres Lebens nicht und würden sich, wenn Klinger’s Wunsch erfüllt worden wäre und ein freundlicher Genius sie am Abend ihres Lebens wieder zusammengeführt hätte, wahrscheinlich gegenseitig dem Bilde sehr unähnlich gefunden haben, das sie von einander bewahrt und durch ihre Briefe und Schriften in sich ausgebildet hatten. Goethe wurde das Idol seiner Zeit; Klinger, dessen Stolz, dessen Lebensfreude es war, ein Deutscher zu sein, war beinah schon verschollen in seinem Vaterlande und nur von den wenigen, die ihn erkannten, als ein hohes Ideal sittlicher Größe verehrt.

Gewiß gehörte Klinger auch zu jenen seltenen Geistern, die, über ihre Zeitgenossen erhaben, durch ihr Beispiel an die Größe und Würde der Menschennatur erinnern, und deren Schimmer in jeder moralischen Finsterniß zum tröstenden Lichte wird. Geistesgroß wie Wenige, war er durchaus rechtschaffen und blieb es in den verwickeltsten Verhältnissen. Was ihn nun vollends im russischen Staatsdienst zu einer wunderbaren Erscheinung machte, war, daß ihm auf diesem Wege Das zu Theil geworden war, was die Menschen Glück zu nennen pflegen, ob er es gleich nie als Zweck seines Handelns beabsichtigte. Es muß dem Menschenkenner unbegreiflich erscheinen, daß Klinger mit seinem wahren, kühnen Charakter, ohne Intrigue, ohne Courmacherei auf ganz geradem Wege es vom blutarmen deutschen Studenten bis zum reichen russischen General im Civildienst brachte und sich am Hofe aufrecht zu erhalten vermochte; und doch ist dies wirklich der Fall. Nichts gibt aber einen richtigern Maßstab zur Veurtheilung des Werthes eines Mannes, der auf einem glänzenden Standpunkt steht, als wenn man erforscht, durch welche Mittel und auf welchem Wege er sein Glück gemacht hat. Wer durch Staub, Schmuz und Pfützen an das Ziel gekrochen ist, vermag sich am Ziele selbst nicht wieder aufzurichten oder sich rein und neu zu erschaffen. Schwerlich wäre es auch Klinger gelungen, auf dem geraden Wege, den er ging, sein Glück zu machen, wenn Klugheit oder Berechnung ihm denselben vorgezeichnet hätten; aber seine Art und Weise war kein Product der Kunst; er folgte ohne alle Klügeln den Eingebungen seines angebornen Sinnes, und alle Kraft seines Willens, all sein Streben war nur darauf gerichtet, streng und kräftig seine Pflicht zu erfüllen und sich zu bewahren, daß nie eine seiner Handlungen mit dem schmuzigen Schatten des Eigennutzes befleckt sei. Am Hofe kommt ein rechtschaffener Mann sehr oft in den Fall, Verzeihung zu bedürfen, weil er kein Schurke sein will, und selten nur verzeiht man einem solchen Sünder. Klinger wurde aber in den ersten Jahren seines Aufenthaltes am russischen Hofe durch seine Unbedeutenheit und später durch seine Verhältnisse in dieser Hinsicht begünstigt und erzwang sich sehr bald durch alle Stände der Gesellschast eine solche Anerkennung seines innersten Seins und Wesens, daß man ihm in späteren Jahren nicht leicht Etwas mehr zumuthete, was mit seinem Charakter und seinen Grundsätzen im Widerspruch stand. Bei seinem Eintritt in die Welt fühlte er sich in seinem Innern durch Alles, was er sah, hörte und erlebte, furchtbar erschüttert, und nicht ohne gewaltigen Kampf brach sich sein moralischer Sinn Bahn durch die Nacht, die ihn zu verdunkeln drohte. Hätte ich, sagte er einst zu einer Feundin, der er, seinem eignen Geständnisse nach, mehr von seinem innern Leben vertraute als je einem Manne, schon in meiner Jugend mit und in der Welt gelebt und an ihren Erbärmlichkeiten Theil genommen, so würden sich auch nach und nach alle ihre kleinlichen Leidenschaften in meinem Herzen festgenistet und alles Gute und Eigne erstickt haben. Der häufige Umgang mit Menschen fordert und erzwingt eine gewisse Nachsicht und Gefälligkeit, die man nicht lange gegen Andere übt, ohne sie auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Ich habe Alles, was ich bin, und wie ich es bin, aus mir selbst gemacht, meinen Charakter und mein Inneres ebenso ehrlich als ernstlich nach Kräften entwickelt und mich selbst schärfer und schonungsloser behandelt und beurtheilt, als ich dies, meines Wissens, je bei Anderen gethan habe. Durch Geburt und Erziehung lernte ich die niederen und mittleren Stände, ihre Noth, ihre Verhältnisse und ihr Glück kennen; durch meine spätere Lage die höheren und die höchsten Stände, ihre Täuschungen, ihre Schuld und ihre Unschuld. Ich habe nie Etwas scheinen wollen, was ich nicht wirklich war, und immer den erworbenen und mit eiserner Willenskraft festgehaltenen Charakter eines rechtschaffenen Mannes behauptet. So gelangte ich zu der innern und äußern Sicherheit, diesem Charakter gar nicht mehr untreu werden zu können.

Man sieht aus diesen Worten, daß Klinger in hohem Grade Das besaß, was Frau von Stael „avoir la conscience de soi-même“ nannte, und gewiß ist es, daß er die Bescheidenheit für keine Tugend hielt, sondern Goethe’s Memung war. ,,Nur die Lumpe sind bescheiden!“ Bescheidenheit war nach seiner Ansicht Heuchelei oder Schwächlichkeit, und beide haßte er von ganzer Seele. Was man bei ihm Stolz, oft sogar Grobheit schalt, war nur selbstbewußte Krast, die ihrer Natur nach anmaßend erscheinen muß. Selbst in seiner Jugend mag er das, was man in geselliger Beziehung liebenswürdig nennt, nicht gewesen sein: um dafür in der großen Welt zu gelten, muß man nicht nur selbst eitel sein, sondern auch noch die Kunst verstehen, die fremde Eitelkeit so ins Spiel zu ziehen, daß die Anwesenden sich in unserer Liebenswürdigkeit wohlgefällig bespiegeln können, und Klinger war nicht geschaffen, groß im Kleinen zu sein. Länger als zwanzig Jahre vor seinem Tode war er dem geselligen Verkehr mit Menschen fast ganz abgestorben; von jeher erschien er nur selten bei Hofe, noch seltner in Gesellschaften; in den letzten Jahrzehnten geschah beides gar nicht mehr und er kam nur noch zur Kaiserin Mutter. Nur da sichtbar, wo es seine Pflicht erforderte, lebte er von jeher in Petersburg wie ein Einsiedler, mit wenigen Freunden, unter seinen Büchern, von denen er vorzüglich Plato’s Werke und den Tacitus liebte. Für diese ungewöhnliche Lebensweise gewann er sich dadurch Verzeihung, daß er auf keinen Platz in der Gesellschaft Anspruch machte und nichts forderte, nichts begehrte, als daß man ihn ruhig nach seiner Weise leben lasse. Die Menschen hatten sich ihm verleidet, und durch den Gang der Weltereignisse war dem alten Titanen das Herz wund geworden. In Augenblicken, wo sein Gefühl sich von der despotischen Herrschaft des Verstandes frei machte, konnte er in Unmuth und Grimm gegen Manches und Manchen auflodern, was er sonst durch Schweigen ehrte, und brach dann in sehr bittere Sarkasmen aus. Vorzüglich unduldsam war er aber immer gegen junge Leute, die als Schwärmer, Enthusiasten und Weltverbesserer auftraten; sie waren ihm nicht blos lästig, weil ihre Thorheiten seinem Verstande misfielen, sie verwundeten auch sein Herz, weil er wußte, welchen Preis die Besseren unter ihnen für ihre zu erwerbende Welt- und Menschenkenntniß zu zahlen haben würden.

Seine eignen Meinungen und Grundsätze, seine ganze Denk- und Sinnesart sah er wie ein wohlerworbenes, tapfer erstrittenes Eigenthum an, dessen Besitz er auf Tod und Leben zu vertheidigen entschlossen war. ,,Wahre, zuversichtliche Jugend“, sagte er oft, ,,auf die der Besitzer und Andere mit ihm zählen können, bildet sich allein in dem Herzen und dem Verstande des Mannes zu einem Ganzen aus, dessen Geist selbstgedachte Ideen und Ansichten hervorgebracht und sich dieselben zur unwandelbaren Richtschnur seines Denkens und Handelns gemacht hat. Man glaube auch nichts daß Schicksal und Menschen es Klinger etwa leicht gemacht hätten, Das zu werden und zu bleiben, was er war. Mehrmal war er in Lagen, wo Ehre, Glück und Freiheit auf dem Spiele standen, wenn er sich Dem widersetzte, wozu man ihn brauchen wollte, und wo ihm dagegen der glänzendste Lohn gewiß war, wenn er beförderte, oder wenigstens nicht hinderte, was man vorhatte; auch waren dies mitunter Fälle, wo er die Achtung der Besseren nicht aufs Spiel zu setzen brauchte, weil es Angelegenheiten betraf, die er unter der Hülle des Geheimnisses nur mit seinem eignen Gewissen allein auszugleichen gehabt hätte. In allen diesen Lagen bewährte er aber den Entschluß und den Muth, lieber sein ganzes irdisches Glück auf das Spiel zu setzen, als auch nur ein Haarbreit vom Pfade des Rechts zu weichen, und die Klarheit seines Weltverstandes, die ihn davor schützte, mit dem Adel seiner Gesinnung Prunk zu treiben und sie vor den Mächtigen und Gewaltigen auszusprechen, gewann ihm von diesen eine Beachtung, die ihn, wie schon gesagt, in späterer Zeit vor ähnlichen Anforderungen schützte. Er liebte den Ruhm, vorzügtich in Beziehung auf sein deutsches Vaterland und die Anerkennung, die er dort zu finden wünschte; allein er war frei von der kleinlichen Eitelkeit, frei von der schalen Ruhmsucht, die so viele Menschen zu dummen Streichen verleitet und Diejenigen, auf und durch welche sie wirken wollen und müssen, empfindlicher beleidigt, als dies durch die kräftigste Tugend geschehen würde. ,,Man muß,“ war eine von Klinger’s Lebensregeln, ,,me mit Leuten, die nur Eine Meinung haben, über Meinungen streiten und von sich selbst durchaus nur mit sich selbst reden.“ Nichts haßte Klinger so sehr als die gemeine Glücksjägerei, von der in der Regel alle Hofleute ergriffen sind. ,,Wer am Hofe sein Glück machen will“, sagte er, „muß tragen können wie ein Esel, unermüdlich sein wie ein Postpferd und glatt wie ein Aal; es muß für ihn weder Schande noch Scham geben; wenn er dann das Praktische in den Salons der vornehmen Welt und in den Vorzimmern der Großen gelernt hat, gelingt es ihm fast immer, der Gunst einen Braten wegzuschnappen. Charakter darf dagegen nur ein armer Teufel haben, der dem Glücke nicht nachjagt, und die bitterste Erfahrung, die ein solcher in der Jugend zu machen hat, ist die, daß man im Verkehr mit Menschen durchaus seine edelsten Eigenschaften verbergen muß, wenn man nicht von ihnen wie ein Wild matt und müde, wol gar todt gehetzt werden will. Es gibt gewiß mehr rechtschaffene Menschen als Schurken; aber es sind Schafe, von denen eine ganze Heerde davonläuft, wenn der Wolf eins erwürgt und davonschleppt.“

In unserer Zeit hat man fast verlernt, zu fühlen und zu lehren, daß zum Leben vorzüglich Kraft und Muth gehören, und es scheint im Gegentheil, daß man die Menschen nur noch zum Lesen und Bücherschreiben, zum Seufzen und Dulden bestimmt glaubt; man schwelgt in der Einbildungskraft, spielt mit leeren Theorien und mattet sich dadurch so ab, daß man keine Kraft zum Handeln mehr besitzt, sondern sich einer mattherzigen Resignation hingibt, die den moralischen Menschen vollends entnervt. Krieg gegen alle Schurken und gegen das moralische Böse überhaupt muß und soll die Losung jedes braven, tapfern Mannes sein. Rechtschaffenheit der Besinnung wird erst durch Thaten zur Tugend, und man ist noch nicht rechtschaffen, wenn man nichts Böses thut, sondern erst dann, wenn man den Muth hat, für Wahrheit und Recht thätig zu sein und erforderlichen Falls dafür zu kämpfen. Leider ist es aber wahr, daß man in unseren Staaten wol ungehindert Alles treiben darf, was den Sinnen gefällt - gab es doch noch kürzlich eine Regierung, welche die üppigste Libertinage gerne sah und die jungen Officiere zu jedem Genuß der Thierheit aufmunterte - aber Geist, Charakter, Verstand darf man in unserer Zeit nicht zeigen, ohne für gefährlich gehalten zu werden. Klinger’s Werke sind der Mehrzahl unserer Zeitgenossen nur vom Hörensagen bekannt, und doch enthalten sie eine stärkende Seelenarzenei, wie sie gerade unser Zeitalter vorzugsweise bedarf. Als Schriftsteller hat er auch so viel individuelles, daß seine Werke ein Spiegel seiner Seele und zugleich der Maßstab für seine moralische Kraft sind. Er schrieb nicht für die Welt sondern für sich selbst. Hätte er sich von den Menschen, mit denen er lebte, verstanden gefühlt, so würde er viele seiner Werke nicht geschrieben haben; sie sind Erguß seines innersten Seins, Erguß seiner Seele, und dieser Erguß war ihm um so mehr Bedürfniß, da ihn das Schicksal bestimmt hatte, in der Vollkraft seiner Seele durchaus vereinzelt, nur noch von Erinnerungen leben zu müssen. Nur in einer großen Stadt kann man so einsam, nur am Hofe so vereinzelt sein, wie er es war; seine Erfahrungen von Welt und Menschen lösten nach und nach alle Verbindungen, die sein Herz zur Zeit der noch blühenden Hoffnung geschlossen hatte, und ohne die Poesie, die der beseelende Hauch seines innern Lebens war hätte er sich in den letzten Jahrzehnden seines Lebens schon wie in sein Grab versenkt ansehen können. Ein Dichter aber, wie Klinger es war, kann nicht der tiefinnerlichen Begeisterung für das Wahre und Schöne absterben; die Blüte seines geistigen Lebens ist unverwelklich; trotz aller Welterfahrung verjüngt er sich in der Einsamkeit immer wieder, und die Poesie führt ihm die Göttin wieder zu, als deren Priester er in die Welt trat.

Klinger galt für witzig; er war es aber nicht. Der Witz ist nur dann allzeit schlagend und fertig, wenn er in der moralischen Gleichgültigkeit gegen das Schlechte und Lächerliche so weit gekommen ist, daß er es als eine willkommene Veranlassung zu guten Einfällen ansieht. Klinger’s Humor entsprang dagegen aus seinem Herzen. Das starke Gefühl desselben entzündete seinen Geist, und Blitze fuhren dann durch die düstre Wolke, die Unwille, Zorn und Verachtung zusammengetrieben hatten. Seine Empörung über Thorheiten und Laster entsprang aus seiner moralischen Energie; diese schwang die Geißel, mit der er seeilich oft sehr strenge züchtigte. Ueberhaupt konnte man sich an Klinger nicht ungerechter versündigen, als wenn man ihn herzlos schalt. Was dem Baume der Saft ist, das war seinem hohen, reichen Geiste sein warmes, treues Herz. Auch kann man wol ohne je einen Freund, eine Geliebte wahrhaft geliebt zu haben, ein geistreicher, talentvoller Schriststeller sein, aber gewiß kein Dichter, wie Klinger es war, denn man bleibt dann mit der feinsten Verknüpfung in der moralischen Welt so unbekannt, daß man sie nicht einmal zu ahnen vermag. Es ist eine Eigenthümlichkeit der Deutschen, daß die Vernunft oft bei ihnen die Mutter der erhabensten Schwärmerei ist. Kantus Moralsystem beweist dies, und auch Klinger’s Anforderungen an die Poesie. Um in seinem Sinne ein Dichter zu sein, muß man mit einer hohen moralischen Stimmung einen mit edeln, großen Gedanken vertrauten Geist, eine durch den Charakter befestigte kräftige Denkungsart, emfache Sitten, Gefallen an einer beschränkten Lebensweise und völlige Unkenntniß der Glücksjägerei besitzen. ,,Hat nicht“, fragte er zuweilen, ,,die Poesie alle Eigenschaft der Tugend? ist sie nicht wie diese eine angeborne Virtuosität? erfordert sie nicht idealischen Sinn, Erhabenheit und Stärke der Seele? schwebt sie nicht hoch über allen niedrigen Verhältnissen der Erde? beruht sie nicht auch auf der angebornen innern Kraft des Menschen?“

In seinem eignen Sein als Dichter fand Klinger daher nicht blos den schönsten Genuß, sondern auch in allen Stürmen seines Lebens die festeste Stütze. Seinem edeln Gemüth konnte sich nie jener Mysticismus entfremden, der uns mit einer Welt der Ideale in Verbindung setzt und erhält, und man konnte, wie schon gesagt, nach seiner Ansicht, ohne Reinheit und Stärke des sittlichen Gefühls, wol das Talent besitzen, schöne Verse zu machen und sich, durch äußere Umstände begünstigt, den Ruf erwerben, ein Dichter zu heißen, aber nie es wirklich sein. Wie man wol durch Bücher gelehrt, doch nur durch eigne Kraft weise werden kann, so ehrte Klinger im Dichter und Künstler das Angeborne, was zu unserm Sein gehört, sich aber nicht erwerben läßt. Er konnte es daher auch nicht leiden, wenn man von einem dichterischen Werke als von einem Kunstwerke sprach. Nach seiner Meinung gab es keinen unpassendern Ausdruck als diesen, denn der Dichter dürfe durchaus kein mechanischer Künstler sein oder es auch nur scheinen. ,,Bei der Lesung eines ächtpoetischen Werkes,“ sagte er einst, ,,muß man so wenig an Kunst denken, als man bei Betrachtung der blühenden Natur daran denkt, und der Geist des dichterischen Schöpfers muß uns während des Genusses ebenso unerklärbar scheinen, als die Kräste der schaffenden Natur.“

Bei solchen Meinungen läßt sich Klinger’s Ansicht von der neuen deutschen Literatur leicht errathen. Erstlich war ihm schon alle Manier in Kunst oder Poesie verhaßt, weil sie immer von Schwäche und Affectation zeugt. Er war nicht blind dagegen, daß die wilde Kraft der Sturme und Drangperiode, in die seine Jugend gefallen war, oft durch Ueberfülle und Uebertreibung in Verzerrung ausgeartet war, aber er fand, daß der Geist der deutschen Poesie damals ein edlerer gewesen sei. ,,Deß Brot ich esse, deß Lied ich singe,“ sei in seiner Jugend nur ein Soldatenlied gewesen; jetzt würde es aber von den deutschen Gelehrten und Dichtern so laut mit gepfiffen, daß ihm die Ohren davon schmerzten. Der deutsche bon sens, dieser kräftige Sohn eines geraden, natürlichen Verstandes, sei nur noch im Volke anzutreffen, aber nicht mehr bei den Schriftstellern. Diesen sei alles Vaterländische so fremd, daß man sie mehr die Schriftsteller der ganzen Erde, als die Schriftsteller des deutschen Volkes nennen könne. Man solle nur die Uebersetzung eines deutschen Werkes lesen, wenn man dieser Charakterlosigkeit recht inne werden wolle. Jedes auch nur mittelmäßige französische oder englische Werk habe einen vaterländischen Ton, der in der Uebersetzung durchklinge; aber ein deutsches nicht. Vorzüglich war er mit einem Theil der neueren politischen Schriftsteller unzufrieden. ,,Solche verkehrte und dumme Urtheile“, sagte er, ,,stammen weit öfter aus einem schlechten Herzen als aus Mangel an Verstand. Zur richtigen Beurtheilung der Weltbegebenheiten ist nicht nur Geist, sondern vorzüglich gesunder Sinn und ein unverdorbenes Herz erfoderlich. Heutzutage gibt es aber gar zu viel Geistespöbel, der durch nichts geadelt werden kann; wie wäre es sonst möglich, und wie sollte man es sich erklären, daß Leute, die von Jugend auf das Schönste, Beste, was der menschliche Geist hervorgebracht, gelesen haben, gleichwol so niedrige unliberale Gesinnung haben? Vor der Erfindung der Buchdruckerei machten die Schriststeller einen aristokratischen Staat aus, der später zu einer Republik wurde, jetzt aber in pöbelhafte Anarchie ausgeartet ist. Und doch läßt sich wieder von keinem Volke mehr Gutes sagen als von dem deutschen, und keinem läßt man weniger Gerechtigkeit widerfahren. Wir sind z. B. das einzige Volk in Europa, das Weltbürgersinn hat, und das nicht, wie man so oft behauptet, aus Mangel an Nationalcharakter; sondern dieser Weltbürgersinn entspringt wirklich aus dem aufrichtigen, treuen, die Menschen liebenden und achtenden Herzen unsers Volkes.“

Den Producten unserer jetzigen schönwissenschaftlichen Literatur gab er Schuld, daß sie, mit wenigen Ausnahmen, alle an Lähmung des Wahrheitsgefühls, der moralischen Kraft und an Erkältung des Herzens durch Selbstsucht krank wären und ihre Leser krank machten. Das Sittlichschöne sei von den Verfassern, wo sie es darzustellen versuchten, nur mit der Einbildungskraft aufgefaßt und so wenig für die Kraft und die Fähigkeit wahrer Sittlichkeit berechnet, daß es einem welterfahrenen Mann kindisch und abgeschmackt erscheinen müsse. Alle diese Gespenster von Schicksal, Zufall, Mysticismus, Aberglaube, alle diese scheußlichen Schrecklarven, durch die man jetzt statt Rührung Grausen, statt Erhabenheit Entsetzen hervorzubringen sucht, haßte Klinger als abgeschmackt, mehr aber noch als Gift für die moralische Kraft. Diese blinde Abhängigkeit von dunkeln, alle Willensfreiheit zermalmenden Gewalten, die nur der Einbildungskraft Thätigkeit verstatten, den Geist lähmen und die Seelen ermatten, waren ihm ein Gräuel. ,,Zum Teufel“, rief er einst, ,,wir Deutsche sind es doch wahrhaftig werth, daß unsere Dichter auf unsere moralische Kraft, auf unsere Tüchtigkeit zu wirken streben; aber wie wenige von unseren Schriftstellern zeigen noch Sinn für das wahrhaft Große im Menschen! Sie scheinen im Gegentheil nur bemüht, uns die wahre Ansicht der Dinge und des Lebens recht zum Ekel zu machen und die Kraft zu ersticken, mit der wir unsern sittlichen Zustand erkennen, veredeln und das ihm Widerstrebende bekämpfen können. Ich halte alle unsere neueren Dichter für nervenschwach; ihnen fehlt die Kraft, deren das wirkliche Leben bedarf; sie erschrecken davor und flüchten sich in das Gebiet gehaltloser Träume.“

Die kränkelnde Empfindsamkeit und Empfindelei der Frauen erklärte Klinger gleichfalls für eine ihnen aus den Romanen angeflogene Krankheit.

Für ächte Weiblichkeit hatte er Ehrfurcht; aber er war überzeugt, daß diese nicht blos mit Muth und Kraft vereinbar sei, sondern er sah diese als von ihr unzertrennliche Bestandtheile an. In der Erziehung hielt er es für die Hauptsache, die Kinder, sowol in wissenschaftlicher als in moralischer Hinsicht, nicht über ihre Fähigkeit anzuspornen, und dies geschah nach seiner Meinung heutzutage vorzüglich bei den Frauen, deren Naturverhältnisse dadurch ganz aus dem Naturgleise gerückt worden sind. In unsrer neuern Poesie erscheint die Liebe fast immer als eine Leidenschaft, die in dem Manne, der von ihr ergriffen ist, Vernunft, Thätigkeit und Männerwürde verschlingt, und unsere Frauen werden durch diese Schilderungen dazu verführt, zu fordern, daß es für den Mann, der ihnen einmal gesagt hat, er liebe sie, nun nichts Höheres und bedeutenderes in der Welt mehr geben solle als eben diese Liebe. Diese schwächliche Unnatur, die ,,Werther“ zuerst herbeigeführt hat, ist eine höchst verderbliche Krankheit unsrer Zeit und ein wahrer Fluch der in allen Ständen eingerissenen Romanleserei. Als dichterische Darstellung dieser Leidenschaft kann man manchen Roman bewundern, ohne deshalb seine sittliche Tendenz zu billigen. Unsere deutschen Romane fand Klinger nun mehr als die Romane anderer Völker dazu geeignet, den Charakter unserer Jünglinge zu erschlaffen und die Köpfe unserer Mädchen zu verwirren, sodaß beide Das zu einem überspannten, romanhaften Spiele machen, was nach seiner Ansicht als eine ernste und wichtige Angelegenheit behandelt werden sollte. „Die Männer,“ sagte er, ,,sind auf der Welt, um Beweise ihres Verstandes und ihres Muthes zu geben, und ein unverschrobenes Weib kann nur den Mann achten, der dieses thut. Wie seelenkrank, niedergedrückt und jämmerlich muß der Mann sein, der in der Liebe eines Weibes Ersatz für Thätigkeit und Muth finden kann, und wie gehaltlos das Weib, welches es dem Manne zum Verdienst anrechnen kann, nur Ein Glück auf der Welt zu kennen, nämlich ihren Besitz. Bei alltäglichen Menschen werden durch diese Romanleserei alle einfachen, natürlichen Gefühle verzerrt und verdunkelt, und an deren Stelle tritt ein erkünstelter Kitzel der Phantasie und der Eitelkeit. Es kommt am Ende so weit, daß man sich schämt, auf eine vernünftige, sittliche Weise glücklich zu sein und man hat mir von einer kleinen Residenzstadt in Deutschland erzählt, die als die Heimat unserer größten Dichter jedem Deutschen theuer ist, wo alle vornehmen, gebildet sein wollenden Frauen von der Sucht, eine gewaltige Leidenschaft einzuflößen und wenigstens Einen Unglücklichen gemacht zu haben, der aber, wo möglich, ein Ausländer sein muß, so angesteckt sind, daß sie empfindlich werden würden, wenn man ihnen zutraute, an der Seite eines braven deutschen Mannes einfach und vernünftig glücklich zu sein. Nach ihrer Meinung können nur alltägliche Frauen sich durch solche alltägliche Verhältnisse befriedigt und beglückt fühlen. Was soll nun aber aus den Töchtern solcher Mütter werden?“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwei Jahre in Petersburg