Besuch am Morgen

An einem der folgenden Tage wurde Klara des Morgens durch einen Besuch von Frau von Korsakow überrascht, der aber eigentlich nicht ihr, sondern einem Hute galt, den sie am vorigen Tage auf der Promenade getragen hatte. Sie bat Klara, ihn ihr zu zeigen, probirte ihn auf und lud sie dann ein, mit ihr zu einigen Modehändlerinnen zu fahren und zu sehen, was sich Hübsches und Neues bei ihnen auftreiben lasse.

Klara verstand noch nicht die schwere, aber nothwendige und unentbehrliche Kunst, Nein sagen zu können, und ihre gutmüthige Gefälligkeit machte sie nur zu geneigt, in jeden Vorschlag einzugehen, von dessen Ausführung Andere sich Vergnügen zu versprechen schienen. Sie fuhr also mit, ob sie gleich bei weitem noch nicht Weltdame genug war, um Vergnügen daran zu finden, stundenlang von einem Putzladen in den andern zu fahren, ohne bestimmte Absicht, irgend Etwas kaufen zu wollen, zufrieden, Alles zu sehen, Alles durcheinanderzuwerfen und die Geduld der Verkäufer auf harte Proben zu setzen.


In einem dieser Putzladen fanden sie eine alte Dame, die, höchst modisch in einen eleganten Morgenanzug gekleidet, eine Haube mit blaßrothen Schleifen trug. Sie schien Meisterin in der Kunst, die Aufmerksamkeit der Putzmacherin und ihrer Gehülfinnen ausschließend für sich in Anspruch zu nehmen, Frau von Korsakow gewann dadurch Muße, Alles zu besehen, und Klara belustigte sich während dieser Zeit an dem lächerlichen Benehmen der alten Dame, deren geziertes Wesen sowie die jugendliche Leichtigkeit, die sie zu erkünsteln strebte, zu ihrer ganzen Erscheinung und ihrer heisern, unsichern Stimme einen solchen Gegensatz bildete, daß es Klara unmöglich wurde, ernsthaft zu bleiben.

Nachdem die Dame lange besehen, gewählt, bewundert, verworfen und wieder gewählt hatte, warf sie sich endlich nachlässig auf das Sopha hin. Wählen Sie für mich, Madame, sagte sie; Sie wissen ja, wie lästig mir alle diese Toilettenangelegenheiten sind, und wie ungern ich meine Zeit damit verbringe. Sorgen Sie nur dafür, daß Alles frisch, geschmackvoll und vorzüglich neu ist. Es ist höchst verdrießlich, daß man mir gleich Alles nachmacht; ich kann keine Haube, keinen Hut aufsetzen, ohne gleich ein Dutzend nachgemachte zu sehen; ich fühle mich oft dadurch versucht, mich einmal recht geschmacklos herauszuputzen, um zu sehen, ob man es dann auch noch der Mühe werth finden würde, mir Alles nachzumachen.

Es würde aber, wie ich glaube, antwortete die Modehändlerin, Ew. Gnaden ganz unmöglich sein, sich anders als geschmackvoll zu kleiden. In ganz Petersburg ist keine Dame, die sich besser zu kleiden wüßte, als die gnädige Frau. - Mamsell Julie, geben Sie doch den Carton mit den pariser Phantasieblumen her; ich habe sie erst in diesen Tagen erhalten, und Ew. Gnaden können nun selbst aussuchen, welche ich auf die Blondenhaube stecken soll.

Sie vergessen, Madame, daß ich schon einunddreißig Jahr alt bin, und dann muß man keine Blumen mehr tragen. Diese passen nur für die erste frische Jugend. - Sind es ächte pariser Blumen?

Ich habe sie erst am Dienstag direct ans Paris erhalten.

Sie sind hübsch, recht hübsch, doch nicht so schön wie die, die ich vor einigen Monaten von Ihnen bekam. Man sollte nun freilich glauben, daß ein so kurzer Zeitraum keinen Unterschied in Dem machen könne, was sich zu tragen geziemt; doch ich habe nun einmal beschlossen, keine Blumen mehr zu tragen. Machen Sie mir daher die Haube ohne Blumen; Sie laufen sonst Gefahr, daß ich sie Ihnen wieder zurücksende.

Hier stand sie auf, um sich zu entfernen. Die Putzmacherin lächelte und gab einer ihrer Gehülfinnen die allerbuntesten Blumen aus dem Carton, die Haube damit zu verzieren, da sie recht gut wußte, daß man es ihr nicht verzeihen würde, wenn sie sie ohne Blumen lasse.

Frau von Korsakow hatte während dieses Gespräches die erfoderliche Zeit zur Auswahl eines Hutes gehabt, eine für sie so wichtige Angelegenheit, daß ihre gute Laune für diesen und auch noch wol für einige folgende Tage davon abhing. Klara kam noch zeitig genug nach Hause, um mit ihrem Gatten einen Morgenbesuch bei der Gräfin Tschisschkewski, die er schon im Auslande hatte kennen lernen, zu machen.

Die Gräfin war Witwe und im Besitz eines ansehnlichen Vermögens, das ihr den Genuß aller Annehmlichkeiten des geselligen Lebens sicherte. Es war ihr Bedürfniß, täglich in ihrem Hause viele Menschen zu sehen und so viel neue Bekanntschaften als nur irgend möglich zu machen; sie suchte Alles auf, was sie zu amusiren versprach, und vermied Alles, was sie nöthigen konnte, an einem ernsten, oder betrübenden Ereigniß im Kreise ihrer Bekannten Theil zu nehmen. Das Unglück war für sie ein Makel, den sie nie vergab. Ein so egoistisches, engherziges Wesen konnte sich ausschließlich nur in den Formen einer großstädtischen Lebensweise gefallen, wo alle Eindrücke auf das Gefühl flüchtig und gehaltlos sind; sie nahm Jeden, der sich ihr vorstellen und bei ihr einführen ließ, freundlich auf; vergaß aber Jeden, den Tod, Krankheit oder Abwesenheit von ihr entfernte. Edle Menschen fühlen in der Tugend am Busen der Freundschaft das Glück des Lebens, und im Alter ruhen sie in den Armen derselben von den Stürmen des Lebens aus; aber für die Gräfin glichen ihre freundschaftlichen Verbindungen den Gemälden in einer Zauberlaterne: keines kommt wieder; immer ein neues und dann wieder ein neues, das dem entschwundenen folgt. Die Neuheit allein hatte Reiz für sie, und selbst in ihr dürstete sie nach ewigem Wechsel. So verrann ihr ganzes Leben, ohne daß je ihre Ruhe durch ein Ereigniß im Kreise ihrer Bekannten gestört worden wäre.

Klara fand, als sie mit Nordeck zu ihr kam, viele Besuche vor. Man kam, man ging ohne Umstände, und die Unterhaltung blieb in dem Zirkel der gehaltlosen Redensarten und der unbedeutenden Worte und Witzeleien, aus denen die Salons-Conversation in allen Ländern zusammengefegt ist.

Endlich, erzählte eine Dame, hat die Sabakin doch eine Pension von der Kaiserin Mutter erhaltten; aber man erzählt sich seltsame Dinge von der Art und Weise, wie sie sie erbettelt hat.

Mag sie sie nun erhalten haben, auf welchem Wege sie will, antwortete eine Andere; es fehlte ihr wirklich am Nothwendigen, und dann darf man nicht in der Wahl der Mittel, es sich zu verschaffen, schwierig sein. Mich entzückt der Gedanke, daß wir sie doch nun endlich einmal in einem andern Kleide und mit einem andern Shawl sehen werden. Das graue seidene Fähnchen, in dem sie stets erschien, war mir ein wahrer Greuel, so oft ich es erblickte.

Guten Morgen, Graf, rief hier die Frau vom Hause einem kleinen dicken Mann entgegen, der sich ihr näherte, um sie zu begrüßen; ist es denn wahr, daß Sie bei S’s. Bankerott beträchtlich verlieren?

Nein, Gott sei Dank, antwortete er lächelnd; der Verlust trifft meinen Bruder und nicht mich.

Haben Sie schon gehört, fragte ein Anderer, daß Nachrichten von der Armee angekommen sind? Die Perser sind geschlagen -

Das ist schön, rief die Gräfin Radischwew; wenn ich doch auch nur erst Nachricht von meinem Bruder hätte! Ich bin ganz trostlos und ängstlich um ihn besorgt. - Gehen Sie heut Abend in die Oper, Gräfin Nordeck? Die kleine C. spielt und singt doch wie ein Engel. Sie soll sich gestern Abend selbst übertroffen haben; ich habe sie aber leider nicht gehört, ich war beim Herzog von Serra-Caprioli, wo es auch recht amusant war und so voll, daß man kaum aus einem Zimmer in das andere kommen konnte.

Wie, den gestrigen Ball fanden Sie amusant, Gnädigste? rief gähnend ein junger Mann, der mit all der eleganten Ungezogenheit unserer jungen Modeherren auf einem Sopha hingestreckt lag; ich habe mich da bis zum Sterben gelangweilt.

Ein Brief, den ich heut Morgen erhalten habe, sagte eine junge Frau, indem sie sich neben die Gräfin setzte, hat mir die Nachricht gebracht, daß die unerträgliche kleine W. endlich von ihrem erlauchten Anbeter verlassen worden ist. Man sagt, daß unsere A. seine Eroberung gemacht hat; das wäre ein Glück für die ganze Familie, die durchaus nicht reich ist.

Nordeck las in Klara’s Zügen das Erstaunen, Verhältnisse, die sie bis jetzt kaum hatte erwähnen hören, mit solcher Frivolität öffentlich in Gesellschaft besprechen zu hören.

Die Unterhaltung wurde nun allgemeiner und einer der Männer erzählte eine wirklich unverschämte Lüge, die er von einem Manne gehört hatte, der in der Gesellschast für sehr liebenswürdig galt.

Sagen Sie mir nichts gegen ihn, rief eme Dame; er spricht kein wahres Wort, das ist wahr, aber es gibt dagegen keinen amusantern Menschen als ihn. Er ist ein ganz unvergleichlicher Gesellschafter, und lassen Sie es uns nur gestehen, wir Alle würden sehr langweilig sein, wenn wir uns in unseren Unterhaltungen immer streng an die Wahrheit halten wollten; was sollte dann aus all den hübschen Geschichten und Witzworten werden, die wir doch Alle so gern hören und wiedererzählen?

Ach, da kommt der General Redowski mit seiner Frau, rief die Gräfin Radischwew; der hat gewiß Nachricht von dem Regiment, bei dem mein Bruder steht. Ich bin ganz außer mir vor Angst um ihn. - Aber was hat die Generalin für einen schönen Überrock an? Das ist ja ganz etwas Neues von Farbe und Stoff; den hat sie gewiß von Paris bekommen.

Der General näherte sich mit seiner Frau, aber Keiner dachte daran, nach dem Bruder der Gräfin zu fragen; nur seine Frau wurde umringt, bewundert, befragt - man sprach nur von dem wunderschönen Oberrock.

Klara kam unmuthig nach Hause, und jede in diesen Zirkeln verlebte Stunde befestigte sie in dem Entschluß, so häuslich zu leben, wie Nordeck’s Verhältnisse dies nur irgend möglich machten. Die Annehmlichkeiten des geselligen Lebens und des geistreichen Ideenumtausches lernte sie nur in dem kleinen Kreise kennen, der sich in ihrem eignen Hause versammelte, und in dem sie und Therese gemeinhin die einzigen anwesenden Frauen waren, deren Gegenwart den Männern nie zum Hinderniß wurde, die ernstesten Angelegenheiten der Menschheit, die erhabensten Ideen mit in die Unterhaltung aufzunehmen. Man hat auch gewiß Unrecht, die Frauen von der Theilnahme an dem Gange der Weltbegebenheiten entfernt halten zu wollen, da sich doch gerade in dieser Theilnahme die edelsten und vortrefflichsten Anlagen der menschlichen Seele offenbaren, nämlich die, die uns fähig machen, uns, von der Beschäftigung mit dem eignen kleinen Ich gesondert, in einem großen Ganzen in Liebe und Selbstverläugnung mitfühlen zu können. Eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen Ideen und Vorfälle, die kaufende um uns her ergreisen, ist bei Frauen ein untrügliches Zeichen von Geistesstumpfheit und bei Männern von verächtlicher Seelenertödtung. Parteilos soll kein Mensch sein, ja, wenn er ein wahrhafter, lebendiger Mensch ist, kann er es gar nicht sein, und wenn zwei Fischweiber sich mit einander zanken, wird er unwillkürlich für die eine gegen die andere Partei nehmen, und das um so entschiedener, je mehr Naturkraft und Naturklang in ihm ist.

Ein junger Amerikaner, der auf einer Reise um die Welt über Kamtschatka nach Petersburg gekommen war, gehörte zu den täglichen Gästen im Nordeck’schen Hause. Harry C-, so hieß er, war einer jener seltenen Menschen, die, im Gegensatz zu Dem, was Studium, Fleiß und gesellschaftlicher Einfluß aus uns Europäern machen, in eigner frischblühender Naturentwicklung des Geistes und des Charakters dastehen. An Sinnesreinheit, an Unbekanntschaft mit den Verkehrtheiten und Unwürdigkeiten der großen, vornehmen Welt ein Kind an Kraft des Willens, an Klarheit des Verstandes und Schärfe des Urtheils ein Mann, schien er Dem, der ihn nicht faßte, ein Irrstern zu sein, der durch die abgemessenen Bahnen des bürgerlichen Lebens auf eigner, willkürlich und eigensinnig gewählter Bahn hindurchfuhr; er war aber ein Stern, dessen Gang nur von den Gesetzen der ewigen Gerechtigkeit und Wahrheit bestimmt wurde. Seine Unterhaltung war höchst anziehend, da es immer durchklang, daß er einem Volke angehörte, das seine Nationalerinnerungen nicht, wie die Völker der alten Welt, an große Kriege und Feldherren, an bedeutende Entdeckungen im Reiche der Wissenschaft und der Künste, sondern an die innere Entwickelung seiner Freiheit und seines Wohlstandes, seines Ackerbaues und seiner Gewerbe knüpft.

Ich kann, sagte Harry einst, da von dem weiten Spielraum geredet wurde, den der Krieg den edelsten Geistesfähigkeiten eröffne, diese Ansicht nicht zu der meinigen machen. Das militairische Talent ist in meinen Augen nur eine der niederen Formen, in denen sich der Genius offenbart, denn es findet zwischen seinem Besitz und den erhabensten Ideen des menschlichen Geistes keine nothwendige Verbindung statt. Man wird einem großen Feldherrn nie streitig machen können, daß er einen krastvollen Geist besitzt; aber seine Größe beruht doch immer auf der Anwendung und der Berechnung physischer Gewalt, Benutzung physischer Hülfsmittel, Einfluß auf die Materie, und dies kann nie die höchste Aufgabe für den Genius sein, so wenig, wie ihre Lösung eigentliche Geistesbildung erfodert. Auch finden wir unter den berühmtesten Feldherren aller Zeiten nur zu viele Männer, die der Eigenschaften und Fähigkeiten entbehren, welche allein den Menschen wahrhaft adeln und die, indem sie so wenig Phantasie als Geschmack besitzen, so wenig Werke des Genius zu bewundern als eine großartige Ansicht von der Menschheit und dem Zweck des Daseins zu fassen vermögen; wir finden sie im Gegentheil in Bezug auf Moral, Wissenschaft und eigenthümliche Auffassung und Betrachtung der großen Ideen, welche seit Jahrtausenden die erhabensten Geister beschäfftigt haben, oft auf der niedrigsten Stufe. Die Kombinationen eines großen Feldherrn, der seine Streitkräfte so aufzustellen weiß, daß er einer überlegenen Macht die Spitze bieten kann, und durch Geschick, Wissenschaft und Genie den Mangel der Zahl ersetzt und mitten unter tausend Hindernissen und Zufälligkeiten, die keine Macht vorauszusehen vermag, einem weiten Kreise von Unternehmungen Einheit, Kraft und Erfolg gibt, gleicht doch nur dem Geschick des Mechanikers, dessen Aufgabe es ist, neue Kombinationen physischer Kräfte zu ersinnnen, sie in neuen Verhältnissen anzuwenden und alle Hindernisse zu entfernen und zu überwältigen. Daher sind auch große Feldherren außerhalb ihres Lagers gewöhnlich nichts weniger als große Männer und in der Unterhaltung oft recht albern und langweilig. Werke von bewundernswürdiger Ideentiefe, Gegenstände von dem höchsten und allgemeinsten Interesse lassen sie gleichgültig und bleiben von ihnen unverstanden und ungewürdigt, sie verlassen die Welt, ohne einen neuen, einen großen Gedanken in Bezug auf die großen Aufgaben gehabt zu haben, mit denen sich der Genius der Philosophie und der Gesetzgebung seit Jahrhunderten beschäfftigt hat.

Ich möchte Ihnen, sagte Nordeck, aus der neuern Geschichte zwei Feldherren aufstellen, die mit der Größe der Thatkraft auch die Größe der Idee verbunden haben: Friedrich II. und Napoleon. Auch hatte in dem letzten Befreiungskriege das preußische Heer mehrere Generale, denen Sie diese Geniusweihe der höhern Idealität nicht ohne Ungerechtigkeit absprechen können.
Dieser Krieg, fiel Sivers ein, war aber auch ein Krieg im edelsten Sinne des Wortes; denn gewiß nichts adelt die Menschheit mehr als ein tapferer Kampf für eine erhabene Idee, diese entstamme nun der Freiheit, dem Vaterlande oder der Religion. Der Krieger, der blos als Maschine kämpft, mag gleichfalls für irdischen Besitz und Soldatenruhm sein Leben muthig wagen; ja, sein Muth kann durch den Geist, der, vom Feldherrn ausgehend, ein Heer beseelt, bis zur Tollkühnheit gesteigert werden. Napoleon’s Heer schwelgte ja gleichsam in der Lust der Gefahr und des Kampfes; aber zur Würde der Tapferkeit, zu ihrer sittlichen und geistigen Schönheit, die sie nicht blos in der materiellen Welt, sondern auch in der Welt der Idee hat, gehört Vaterlandsliebe, Vertrauen auf die gerechte Sache, Bewußtsein uneigennütziger Pflichterfüllung und vor Allem der Glaube, daß das irdische Dasein seinen Werth nur durch den Bezug auf höhere, unvergängliche, geistige Güter erhält.

Gewiß, setzte Rehbinder hinzu, gibt nur eine religiös-sittliche Beziehung der irdischen Erscheinungen auf das Ewige dem Staate und der Menschheit sowol als dem Einzelnen allein wahrhaften Bestand und tiefe Bedeutung, und ohne sie ist der Mensch, wie auch die Menschheit, ein in sich selbst zerrüttetes, nichtiges, bedeutungsloses Wesen. Doch in diesem wie in jedem andern Sinne macht ein großer Mann nie seine Zeit, wol aber entfaltet er sich an dem Geiste seiner Zeit, sie, die allmächtige, bedarf seiner, ihr Werk zu fördern und durch ihn zur Anschauung zu bringen, was, im Stillen von ihr bereitet, schon da ist.

Und wohl uns, sagte Klinger, daß es nicht in der Macht des Einzelnen ist, dem Lebensstrome der Menschheit eine willkürliche, neue Richtung zu geben, sondern daß er nur für die Menge zum Organ des Selbstbewußtseins dieser Richtung zu werden vermag. Der große Mann und sein Zeit-alter leben und wirken mit und in einander, und es bleibt vergeblich, sondern zu wollen, was sie von einander empfangen und für einander gethan haben. Erhaben ist es aber, wenn uns in diesem Widerscheine freier menschlicher Thätigkeit irgend eine neue Richtung des Zeitgeistes als ein Fortschreiten zur Vernunft und Freiheit erscheint.

Ich möchte wol, nahm Nordeck das Wort, daß zur Rechtfertigung des jetzigen, so sehr verrufenen Zeitgeistes Jemand auf den Gedanken käme, eine Sammlung der Ideen zu veranstalten, die vor funfzig Jahren als frech, gottlos, neu und kühn verrufen und wie Contrebande nur mit Gefahr für den Verbreiter in Umlauf gebracht wurden und jetzt als Gemeingut durch alle Classen der Gesellschaft bekannt und verbreitet sind. Ein solches Buch würde viel zu denken geben, und nach funfzig Jahren würde sich ein zweiter Theil dazu schreiben lassen, von dessen Inhalt vielleicht wir jetzt nur träumen dürfen.

Es ließe sich aber auch ein sehr trauriges Gegenstück dazu schreiben, sagte Wallmann, ein junger Deutscher, der im Befreiungskrieg mitgefochten hatte; nämlich eine Sammlung der Ideen, die wir noch vor wenig Jahren laut und öffentlich aussprechen durften, und die man uns jetzt zum Verbrechen macht, je gedacht zu haben.

Sie erinnern mich, antwortete Rehbinder, an ein bedeutungsschweres Wort, welches mir im Jahr l813 ein berühmter Staatsmann sagte, der mir prophezeite, wie alle damals hochgepriesenen deutschen Kämpfer mit Wort und Schwert sich darauf gefaßt halten sollten, daß nach ausgefochteuer Sache ihr Thun und ihr Wirken den Machthabern nur als eine glänzende Sünde erscheinen werde.

Leider, sagte Nordeck, ist dies finstere Wort ein wahres Wort geworden; wir müssen aber auch nicht vergessen, daß die Mehrzahl der damaligen Vorfechter nur geeignet war, als Auf- und Ausrufer zu dienen, sich aber zu jeder andern praktischen Brauchbarkeit völlig untauglich bewies. Ich ehre den Sinn, den unsere deutsche Jugend damals bewährte - ist ja doch der Glaube an ihre eigene Kraft mit das Schönste an der Jugend; aber was sollen dem Fürsten, dem Staatsmanne Wärme, Begeisterung, idealischer Sinn und phantastische Theorien? Keine Wissenschaft hat mehr Pfuscher und Marktschreier als in unserer Zeit die Staatskunst. Die beste Art, einem Volke wohlzuthun und ihm seine Lasten zu erleichtern, ist, dies nach und nach, ohne Geräusch, Prahlerei und Lärm zu thun; allein dies stille, unscheinbare Wirken fordert eine Selbstverläugnung des Ichs, zu der alle jene Sprecher und Reformatoren durchaus nicht geeignet und fähig sind. Wie im Gesetz der Ehre und des Stolzes auf Ehre alle zehn Gebote enthalten sind, so in der Eitelkeit alle sieben Todsünden, und nichts ist eitler als ein Demagoge im schlimmen Sinne des Wortes. Der wahrhaft große Mann ist es nur am gehörigen Orte und an der rechten Stelle, und es ist ein schöner Zug des deutschen Volkscharakters, daß man diese Größe auch da fühlt und liebt, wo sie unter der natürlichen und gutmüthigen Weise, mit der sie wirkte gewissermaßen verschwindet. Der Fanzose dagegen fordert von seinem Monarchen Repräsentation, von seiner Regierung Charlatanerie, um beide mit eitler Ruhmredigkeit preisen zu können.

Ach, erwiderte Wallmann, unsere deutsche Jugend hat ja auch viele ihrer schönsten Träume aufgegeben, und wahrlich unser ganzes Volk ist so genügsam, bedarf so wenig zu seinem Glücke, ist mit so mühsam zusammengesparten Genüssen zufrieden, daß es doppelt grausam ist, es nicht in Ruhe arbeiten und dies wenige genießen zu lassen. In allen unseren Staaten nimmt das Bedürfniß und der Mangel in eben dem Grade zu, als sich die Abgaben vermehren. Was in landesväterlicher Güte zur Erleichterung des Volkes, was in großsinniger Freigebigkeit an Pracht, Kunst und Wissenschaft verwandt werden könnte, geht alles für Erhaltung der stehenden Heere auf. Mit aller Arbrit vermag der Bürger, der Bauer, der Gelehrte doch nur ein verkümmertes Leben zu eringen, und nichts findet man jetzt in Deutschland seltener als das Glück heiterer, gutmüthiger Behaglichkeit und der daraus entspringenden Zufriedenheit mit sich, mit Gott und mit der Welt. Ein geistreicher Mann hat behauptet, die Natur selbst habe in erhabener Romantik die Geschichtschreiberin des deutschen Volkes werden wollen, als sie den Lauf des Rheins bildete. Anfangs kleine dann mächtig reißend, durch allerlei wilde Bergwasser geschwellt; Felsen und Wälder durchbrechend; im Bodensee zu einem großen, klaren Spiegel ausgebreitet, an dessen Ende durch zauberische Eilande, noch einmal an die friedliche Unschuld und stille Größe seiner Heimat erinnernd; durch mehr als einen Sturz nur erstarkt und verschönert, zwischen den Vogesen und dem Schwarzwalde sich in stolzer Ruhe fortwindend, in die fruchtbaren und völkerwimmelnden Gärten von Speier bis unter Mainz, wie aus einer Zeit des Kampfes in jene des Genusses; dann noch einmal aus diesem deutschen Paradiese neuen Gefahren zuströmend, mit jeder Krümmung höheren, wilderen, schauerlicheren hingegeben, am Bingerloch, am Lurleifelsen, bei St. Goar; bei Andernach im letzten Kampfe mit steilen und engen Schlünden, wo sich dann unter Bonn die Berge in sieben hohe Häupter endigen und der gewaltige Strom, in viele Arme zertheilt, sich in seinem eigenen Sande verliert, ohne daß man bestimmen kann, wo er eigentlich aufhört. –

Der junge Mann schwieg bewegt, und Alle ehrten theilnehmend seine Empfindung. Nach einer langen Pause nahm Sivers das Wort. Die Welt, sagte er, ist für unsere Fassungskraft ein zu großes, ernstes und erhabenes Schauspiel, als daß wir uns über irgend eine einzelne Scene desselben ein Urtheil mit der Gewißheit erlauben dürften, nicht über den Zusammenhang derselben mit dem Ganzen zu irren. Die Menschenkraft und das Menschengemüth sind jetzt so hoch gespannt, daß sie durchaus in gewaltigen Wirkungen ausströmen müssen; Vergangenheit und Gegenwart berechtigen uns aber zu der Hoffnung, daß sich in der Zukunft des deutschen Volkes die Heldenkraft der Liebe und des Glaubens neu offenbaren wird. Die Weltgeschichte beantwortet unsere Fragen, sie löst unsere Zweifel nie durch einzelne Aussprüche, sondern durch viele in sich verkettete Thatsachen, die bei allem scheinbaren Widerspruch doch die steigende Veredlung des Menschengeschlechtes verbürgen und dem Geiste, der unter den Thränen, Leichen und Krümmern der Erde über die düsteren Räthsel des Lebens nachsinnt, zur tröstenden Offenbarung werden.

Es ist aber, setzte Nordeck hinzu, in einer Zeit, wo, wie in der unsrigen, in dem mannichfaltigsten geistigen und politischen Kampfe Alles schwankt und stürzt und fällt, nicht blos schwer, sondern fast unmöglich, klaren, unbefangenen Blick zu bewahren, und wir Alle sehen die Verhältnisse durch gefärbte Gläser an. Nach Außen hin bleibt die Festigkeit der Behauptung urkundlichen Rechtes der beste Anker der Sicherheit und Ruhe für jede Staatsverfassung, da Despotie immer und unter allen Formen und Verhältnissen Uebertretung der Gesetze ist, und im Innern wie im Einzelnen sind und bleiben gerader Sinn, dringendes Geschäft und darin Emsigkeit mit Lust und Treue die Eckpfosten aller Glückseligkeit und Tugend. Wir bleiben dadurch vor der Versuchung bewahrt, außer uns schaffen und bilden zu wollen, wozu nicht angebereue, eigenthümliche Kraft und Lust in uns ist, und gelangen dagegen zu jener innern Einheit im Thun, Wollen und Denken, die das Ziel emporstrebender Menschheit ist.

Das Gespräch wandte sich jetzt zu dem Anfangspunkte desselben zurück, und man forderte dem Amerikaner die Rechtfertigung der niedern Stufe ab, auf die er das Talent des Heerführers gestellt habe.

Sie irren sich, entgegnete Harry, wenn Sie glauben, daß ich der Geisteskraft, die der Krieg erweckt und fordert, den Tribut meiner Bewunderung versage. Ich glaube im Gegentheil, daß es im Menschenleben nicht leicht eine Lage gibt, die den Geist so zur Thätigkeit anspannt, in welcher der Wille so gewaltig und der leidenschaftlichste Affect so von Selbstbeherrschung bewältigt wird als in der Stunde der Schlacht. So große Kräfte bezeugen auch bei fehlerhafter Anwendung immer noch eine Erhabenheit der Natur, und wir können diese staunend anerkennen, obgleich wir mit der Stärke unsers moralischen Gefühls ihre Anwendung tadeln. Die Kraft des Verstandes und des Willens, welche der Krieg entwickelt und an das Licht bringt, erfüllt mich oft mit Begeisterung; aber die Größe des Kriegers verbleicht in meiner Seele vor dem Glanze der intellectuellen und der sittlichen Größe. Der Märtyrer der Wahrheit, der Freiheit und der Menschlichkeit, er, der oft einsam und verhöhnt, ohne den Beifall der Menge, der ihm Muth einflößt, ohne die bunte Mannichfaltigkeit der Umgebung, die seine Gedanken von ihm selbst abzieht, ohne die Möglichkeit zu einer Anstrengung oder zu einem Widerstande, der seine Kraft erwecken und nähren könnte, dennoch ruhig, mit unbezwinglicher Liebe sich entschließt, lange, ausgesuchte Qualen zu erdulden, die ein einziges Wort des Widerrufes oder der Verläugnung von ihm entfernen würde - steht er nicht als Held ebenso hoch über dem sieggekrönten Feldherrn als der unendliche Himmel über unserm Haupte, über der Erde, die wir mit Füßen treten? - Wie oft verdient nicht auch schon in seiner Niederlage der Gefallene mehr unsere Bewunderung als der Sieger! Wie oft ist der Feldherr der Thaten nicht werth, die er ausgeführt hat, und sein Ruhm ist nur ein Kind des Zufalls! Allein selbst das ausgezeichnetste militairische Talent bleibt doch nur eine der untergeordneten Formen, in denen sich der Genius offenbart, da es außer aller Verbindung mit den erhabensten und unsterblichen Ideen des Menschengeistes und der Menschenseele erscheinen und sich entfalten kann. Wellington und Blücher z. B. waren beide ausgezeichnete Feldherren, und wenngleich die Schlacht von Waterloo einen Schatten auf Wellington’s Ruhm und einen desto hellern Glanz auf Blücher wirft, so findet dagegen zwischen beiden Feldherren wieder der Unterschied statt, daß Wellington das beseelende Princip seines Heeres, Blücher dagegen nur der Spiegel war, in dem die Begeisterung des preußischen, Heeres ihre Strahlen sammelte. Möchten Sie aber beide Feldherren an Geistesgröße mit Keppler, Baco, Kant vergleichen? an Geniuskraft mit Shakspeare oder Schiller? - Kann man diese Namen neben den Namen jener Feldherren nennen, ohne zu empfinden, daß das Dasein und die Größe dieser ganz den irdischen Verhältnissen, jener aber der ewigen, geistigen Welt angehört? Wer kann den Flug des Geistes jener hohen Denker durch Himmel und Erde erwägen, ihre tiefe Einsicht in das Wesen der Seelen wer kann an die Gebilde sittlicher Schönheit und Größe denken, die diese Dichter schufen, oder vielmehr als Ausströmungen ihres eignen Gemüthes zur Anschauung brachten, an die Herrschaft, die sie über die Gemüther vieler Tausende schon geübt haben und noch viele Jahrhunderte hindurch üben werden; an die gewaltige Geisterstimme, mit der sie aus ihren Gräbern hervor noch immer zu den Völkern der Erde sprechen und Einsicht, Empfindung und Genie in mehr denn einem Weltheile erwecken; wer kann, wiederhole ich, an solche Männer denken und neben dem Bilde ihrer Größe im Tempel des Ruhmes das Bild des Feldherrn stellen wollen, für dessen Thätigkeit nur physische Kräfte und physische Hindernisse das Element sind, in dem sie sich äußert, und für dessen Geist die Kombination materieller Zufälle und Gegenstände die Aufgabe bleibt, mit der er sich beschäftigt? Nein, meine Freunde, der sittlichen Größe gebührt der erste Kranz, der intellectuellen der zweite und den dritten mögen Sie dann der Energie der Thatkraft spenden.

Diese Ansichten des freien Amerikaners wurden viel und lebhaft besprochen; und welches Gespräch über Heldengröße muß nicht auf den Mann zweier Jahrhunderte, auf Napoleon, zurückführen?

Alle mußten Harry zugestehen, daß sich in Napoleon von jener sittlichen Größe, von jener Erhabenheit der Seele, die sich unauflöslich auf Tod und Leben mit Wahrheit und Pflicht verbindet, die das Interesse der Menschheit zu ihrem eignen macht, jede Lüge, jede Gemeinheit verachtet, jeder Gefahr muthig die Stirne bietet, allen Lockungen widersteht, die sie von der Sache der Freiheit, der Tugend, der Religion losreißen wollen - von jener Erhabenheit, die in der finstersten Lebensstunde noch ungetrübtes Vertrauen auf Gott bewahrt und immer bereit ist, auf dem Altare des Vaterlandes oder der Menschheit sich selbst zum Opfer zu bringen, in ihm keine Spur, kein Zug offenbaren. Mit der Macht eines Gottes bekleidet, scheint der Gedanke, sie zur Einführung einer neuen, höhern Ordnung, zum Besten des Menschengeschlechts benutzen zu wollen, nie in seinem Geiste aufgegangen zu sein der Geist der Uneigennützigkeit, der Menschenliebe, der Selbstverläugnung scheint in ihm keinen Augenblick den Dämon der Selbstsucht und der Ruhmsucht bekämpft zu haben. Nur im Glück, nur auf dem Gipfel irdischer Hoheit zeigt man recht aufrichtig, wie man es mit der Menschheit meint; leider waren aber Napoleon’s herrschende Leidenschaften schwer mit edler, sittlicher Größe zu vereinen. Diese ist zu einfach, zu weit von aller Praherlei entfernt, geht mit zu viel Freudigkeit und Wärme in die Interessen Anderer ein, um für den Zweck wirken zu können, für den Napoleon lebte und wirkte, nämlich für den, sich für Mit- und Nachwelt zu einem Gegenstand des Staunens und der Bewunderung zu machen. Allen ersten seiner Zeit fühlte sich der Gewaltige überlegen; den Glauben an Menschenwerth, der sein warnender Genius geworden sein würde, hatte er früh verloren, und das nicht blos durch den Unwerth der Menschen, sondern auch, weil ein moralisch erkalteter Fürst erkältend auf alle seine Umgebungen, alle seine Diener einwirkt. So überließ er sich zügellos dem Reize der wetterleuchtenden Ideen, die ihn verführten, und setzte sich dadurch in die gefährliche Nothwendigkeit, dem Glanze und der falschen Größe, denen er so viel aufgeopfert hatte, immer neue Opfer zu bringen, um die schon gebrachten dadurch zu rechtfertigen.

Die intellectuelle Größe beruht auf jener großartigen Fähigkeit des Genius, durch welche die Seele, durchdrungen von der Liebe zum Wahren und zum Schönen, die Welt zu umfassen sucht, sich in den Himmel emporschwingt und in die Tiefen der Erde dringt, die Vergangenheit erforscht, die Gegenwart begreift, die Zukunft ahnt, die allgemeinen, Alles regelnden Gesetze der Natur entdeckt, die unzähligen Beziehungen und Verhältnisse der organischen Welt mit einander verknüpft und sich emporgehoben über Alles, was endlich ist, eine ideale Vortrefflichkeit und Schönheit schafft. Dies ist die Größe des Denkers, des Dichters, des Künstlers, und zu dieser intellectuellen Größe hätte Napoleon sich in der Glorie unsterblichen Ruhmes erheben können, wenn nicht die Energie der Thatkraft sich ebenso ausschließend als despotisch seines ganzen Seins bemächtigt hätte. Auf diesem Schauplatz irdischer Größe ist er freilich bewundernswürdig groß. Die erhabene Geisteskraft, mit der er kühne und weitaussehende Pläne zu entwerfen und auszuführen, eine verwickelte Maschinerie von Mitteln, Kräften und Anordnungen zu erbauen, zu leiten und zu der Erreichung seiner Zwecke zu benutzen verstand, findet fast in der Geschichte nicht ihres Gleichen: titanengroß steht der Mann da, der sich selbst aus der Dunkelheit auf den glänzendsten Thron der Erde erhob, die Welt umgestaltete und den Schrecken seines Namens über Reiche und Meere bis in ferne Weltheile sandte! Sein Wille wurde gleich einem Ausspruche des Schicksals verkündet, gefürchtet und vollzogen; Monarchen füllten seine Vorzimmer, Königinnen trugen die Schleppe seiner Gemahlin; die Alpen brach er nieder und bildete aus ihnen eine Kunststraße; weit über die Grenzen civilisirter Länder drang sein Ruhm bis in die Wüste des Arabers und in die Steppe des Kosacken: ein Mann, der der Geschichte solche Erinnerungen zurückgelassen, beantwortet die Frage, ob er ein großer Mann gewesen sei, durch den Glanz seines Ruhms, noch ehe sie aufgeworfen ist. -
Harry hatte dem Gespräch der versammelten Freunde, dessen Gang in obigen Zeilen angedeutet ist, aufmerksam zugehört. Es scheint mir, nahm er jetzt das Wort, doch noch einer ernsten Erwägung werth, ob Napoleon in dieser, seiner Größe von Ihnen angewiesenen Sphäre der erhabenen Tatkraft den Rang einzunehmen verdient, den Sie ihm anweisen. Er war der größte Feldherr seiner Zeit; aber er verdankte auch nur seinem Schwert die Oberherrlichkeit, die er in Europa errang. Der Ruhm des Feldherrn genügte ihm indessen nicht; er wollte als Stifter eines neuen Weltreiches den Glanz seines Namens begründen und hat ihn dadurch verbleicht. Der Plan der Weltherrschaft, die er zu erringen strebte, war großartig, aber nicht neu; selbst der eitle und schwache Geist Ludwig’s XIV. hatte ihn schon zu fassen vermocht. Es kommt also nun blos darauf an, ob Napoleon die Fähigkeit besaß, diesen Entwurf durch neue und kühne Ideen zu fördern, die der Civilisation unsers Jahrhunderts angemessen und von außerordentlicher sittlicher und intellectueller Kraft waren. Gab er der Gewalt neue Grundlagen, dem Glück des Bürgers neue Bürgschaften? Schuf er neue Bindemittel fur unterworfene Nationen? Erfand oder bildete er mächtige Gemeininteressen, durch welche sein Reich zusammengehalten werden konnte? War er selbst von einem Geiste beseelt, der die alten Nationalneigungen ersetzen konnte? Fand er Ersatzmittel für jene gemeinen Werkzeuge der List, Gewalt und Bestechung, deren sich jeder Usurpator zu bedienen weiß? Nie, so weit die Erinnerungen der Geschichte reichen, bot die Welt einem Herrscher solche Materialien zur Verarbeitung dar, solche Mittel, durch welche Nationen umgeschaffen, eine neue Gewalt aufgebaut und eine neue Zeitrechnung eingeführt werden konnte, wie ihm. Entspricht nun Napoleon’s Größe dieser Lage der Welt und den Umständen? binden wir nur einen neuen Gedanken in seinen Mitteln zur Weltherrschaft? Bemächtigte er sich der Begeisterung seiner Zeitgenossen, dieses mächtigen Princips, wirksamer als Waffen und Politik, und verwandte er sie zu seinem Zweck? Was that er, als auf der schon geebneten Bahn fortschreiten, Gewalt und List in ihren materiellsten Formen gebrauchen? Wenden Sie mir nicht ein, daß der Regent oft gezwungen ist, sich verstellen zu müssen; zur Lüge und zur Heuchelei darf er doch, wie Napoleon es oft that, nie seine Zuflucht nehmen, wenn er auf seine moralische Würde Werth legt. Napoleon bewies selbst einen gemeinen Sinn, als er den Eigennutz für die einzige Triebfeder menschlicher Handlungen erklärte und sich mit dem Schwert in der einen und Bestechungen in der andern Hand für den Beherrscher des Zeitgeistes hielt. Die Kraft des sittlichen, des volksthümlichen und des häuslichen Gefühls hat er nie begriffen. Die kraftvollsten Elemente der Menschennatur fanden in seiner Vorstellung von derselben kaum eine Stelle, und wie hätte er also eine dauernde Macht über das menschliche Geschlecht begründen können? Als Feldherr war Napoleon groß, kühn, selbstschöpferisch; außer dem Lager bewährte er Talent und Geist; aber er findet als Regent und als Staatsmann Viele seines Gleichen in der Geschichte.

Zwei Umstände, fuhr der junge Amerikaner fort, haben viel dazu beigetragen, die entschiedene, sittliche Misbilligung, mit der Napoleon beim Beginn des letzten russischen Feldzugs in Europa, vorzüglich in Deutschland betrachtet wurden zu schwächen. Der erste ist, daß die gewaltsame Wegführung des Herzogs von Enghien vom badischen Gebiet gewissermaßen weiß geworden ist durch ein anderes Ereigniß unserer Zeit, das Europas Monarchen, die sich doch um ihres Interesses willen als zu einem großen Familienbunde vereint ansehen sollten, ungerügt gelassen haben. Ein deutscher Fürst wagte es, eine deutsche Fürstin aus einer Stadt auf fremdem Gebiete gefesselt und auf die schmachvollste Weise entführen zu lassen. Der Bruder beging diesen Frevel an der Schwester, an der nahen Verwandten eines angesehenen Hofes, und der rechtlichste König, der streng sittlichste aller regierenden Monarchen, wollte oder konnte doch die Macht, diese Verletzung seines Gebietes, diese empörende Mishandlung einer seinem Hause nah verwandten Fürstin, zu rächen, nicht gebrauchen; es kam zu einer diplomatischen Verhandlung darüber, die sich damit endigte, daß der Gesandte des Frevlers von jenem Monarchen einen Orden erhielt. Diese Begebenheit hat damals auf das deutsche Volk einen tiefern Eindruck gemacht, als die ersten ahnten. Es fühlte, daß kein Monarch in Europa mehr das Recht hatte, Napoleon jene Wegführung des Herzogs von Enghien zum Vorwurf zu machen, da die Gefangennehmung dieses Prinzen - ich rede nicht von seinem Tode - federleicht wiegt, wenn man sie mit der der Herzogin von B. vergleicht. Man glaube auch nicht, daß solche Erinnerungen im Volke untergehen; sie pflanzen sich wie Sagen vom Vater auf den Sohn fort. - Dann hat auch das Mitgefühl über Napoleon’s auf St. Helena erduldete Leiden einen Schleier über seine Verbrechen geworfen. Gewiß ist es, daß er dort mit einer durch nichts zu rechte fertigenden Härte behandelt worden ist. Nicht blos Religion und Menschlichkeit, Selbstachtung schon verbietet uns, einem gefallnen Feinde irgend einen unnützen Schmerz zu verursachen. Männer mußten es kleinlich finden, daß die britische Regierung einen Gefangenen wie Napoleon damit quälte, ihm einen Titel zu versagen, den alle Monarchen Europas anerkannt hatten, und die Frauen, deren Einfluß auf die öffentliche Meinung nicht zu berechnen ist, weinten dem Gefangenen bittere Thränen, als sie erfuhren, daß Hudson Lowe’s verächtliche, rohe, ihn auf ewig brandmarkende Grausamkeit dem Kaiser der Fanzosen in seinem qualvollen Todeskampfe die Erquickung eines kühlen Trunkes versagt hatten daß Napoleon, der nur mit Süßholz versetztes Wasser zum Getränk bekam, vergebens nach einer Apfelsine zur Labung schmachtete, und Lowe ihm endlich statt derselben zwei bittere ungenießbare Pomeranzen sandte. Ein schärferer Gegensatz zu dem Glanze seines Kaiserthrones kann wol nicht leicht aufgefunden werden. Doch ist es Schwäche, wenn das sittliche Gefühl und das ernste schwere Urtheil des richtenden Verstandes, mit dem wir Napoleon’s Laufbahn erwägen müssen, von dem Mitleid über die Schmerzen, mit denen sie schloß, bestochen und eingeschläfert werden; Napoleon’s Geschichte ist zu ernst, die Verbrechen, deren Humanität und Freiheit ihn anklagen, sind zu schreiend, als daß wir an seinem Grabe sentimental trauern dürften. Die anderen Monarchen haben sich übrigens in der öffentlichen Meinung, nicht sowol der Gebildeten als der des Volkes, unsäglichen Schaden dadurch gethan, daß sie in Napoleon nach seinem Fall den von ihnen als ihres Gleichen, als Kaiser anerkannten Monarchen äußerlich nicht mehr geehrt haben. Die Völker waren Zeuge gewesen, wie sie sich vor ihm gebeugt hatten; sie mußten ihn daher auch nach seinem Falle auf seiner Standeshöhe erhalten, wenn sie, als seine Besieger, unermeßlich in der öffentlichen Meinung zu steigen begehrten; statt dessen warfen sie ihn als Emporkömmling in das Volk zurück und bedachten nicht, daß dieses sich dadurch als seines Gleichen ansehen und fühlen lernte, und es nie wieder vergessen wird, daß es alle Monarchen vor ihm, dem aus seiner Mitte Emporgekommenen und dem Volke so unweise zurückgegebenen, klein gesehen hatte. Der Glanz des Thrones, der Schimmer der Repräsentation hatte Napoleon durch eine unermeßliche Kluft von dem Volke geschieden, und hätten die Monarchen ihren Vortheil verstanden, so hätten sie den Besiegten, in einem goldenen Käfig, kniend von Fürsten bedienen lassen sollen. Sie hätten sich vielleicht dadurch noch auf ein Jahrhundert den Rang und das Ansehen von Halbgöttern bei dem Volke gesichert.

Noch eine andere Erscheinung, setzte Wallmann hinzu, hat dem Respect des Volkes vor der Persönlichkeit der Monarchen unendlich geschadet, die des entthronten Königs von Schweden. Wenn Bürger, Handwerksleute und Bauern einen legitimen König in den jämmerlichsten Kneipen ohne alles Gefolge, ohne alle Bedienung absteigen sehen; sehen, wie er sich selber seine Stiefeln putzt, seinen Rock selbst bürstet, und sich dann sagend unser Fürst ist doch nur seines Gleichen, und dieser bleibt, wenngleich entthront, doch immer ein legitimer König, so streut das mehr revolutionairen Samen aus, entwürdigt die Majestät des Thrones bei dem Volke mehr als tausend demagogische Flugschriften. Warum zog man nicht das Geheimniß seines Schicksals, das ja doch in keinem Salon eins ist, an das Licht und sprach sein Verhältniß zum Grafen Munk offen aus? Dann würde seine Erscheinung auch in der tiefsten Erniedrigung des Mangels und des Elendes dem Glanz der Majestät nicht zu schaden vermögen; so aber muß es die Begriffe des Volkes verwirren, einen König in solcher Lage hülflos von Land zu Land wandern zu sehen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwei Jahre in Petersburg