Aufenthalt in Petersburg

Fügel müssen aufwärts tragen,
Wurzeln müssen erdwärts schlafen,
Wenn der Mensch gedeihen soll.

Es war Nordeck lieb, daß die ersten Wochen seines Aufenthalts in Petersburg ihm Gelegenhett gaben, Klara vor ihrem Eintritt m die Welt mit der Stadt selbst und mit der Physiognomie des Landes und des Volkes bekannt machen zu können. Die Jahreszeit begünstigte ihn; denn so selten auch in Petersburg die ächte Volksthümlichkeit der Russen noch sichtbar wird, und je mehr sie von Jahr zu Jahr verschwindet, so bietet doch der Frühling und Sommer noch Gelegenheit dar, einigen Nationalfesten beiwohnen zu können, unter andern dem Semik, das am ersten Sonntag nach Himmelfahrt in der Vorstadt Jemskoya, einem nur von Kaufleuten und Handwerkern bewohnten Stadttheil gefeiert wird. Der Anblick dieses bestes ist sehr überraschend. An den Ufern des Ligoffkanals versammelt sich eine Volksmenge von vielen Tausenden, und nie erscheint die Lustigkeit des russischen Volkes, die ein hervorstechender Charakterzug desselben ist, so laut, so brausend als an diesem Tage, an dem die Mädchen und die jungen Witwen die Zukunft um das Schicksal ihrer Herzensangelegenheiten befragen. Dies geschieht, indem sie Blumenkränze in das Wasser werfen. Das Mädchen, dessen Kranze die Wellen sanft mit sich forttragen, darf hoffen, im Lauf des Jahres glückelich verheirathet zu werden; dagegen bleibt die unverheirathet, deren Blumengewinde sich löst oder in den Wellen versinket. Es ist interessant, den Ausdruck zu beobachten, mit dem die Blicke der Mädchen den Blumenkränzen folgen, an welche sie das Schicksal ihrer Liebe gebunden glauben. Die Gesänge der Jünglinge und Mädchen, der Jubel der Trinker, die munteren Tänze nach dem Klange der Balaleika, die malerischen brachten der Bauern, die grünen Tannenzweige, mit denen der Schauplatz dieses Festes mannichfaltig ausgeschmückt ist, machen aus dem ganzen ein reizendes, lebensvolles Gemälde, dessen Eindruck auf den sinnigen Zuschauer noch dadurch erhöht wird, daß der Schauplatz, wo dies Fest gefeiert wird, ein Kirchhof ist, und daß alle diese Tausende sich die Altäre ihrer Freuden auf den Gräbern ihrer Vorfahren errichten.


Graf Sivers und Baron Rehbinder begleiteten Nordeck und seine Gemahlin auf dieser Fahrt. Auf dem Rückwege äußerte der Erstere sein Bedauern, daß die russischen Volksfeste von Jahr zu Jahr sichtbar mehr von ihrem volksthümlichen Gepräge einbüßten. Die reichen Kaufleute, sagte er, haben schon fast alle die schöne, kleidsame und bequeme Tracht ihrer Vorfahren abgelegt, und man kann mit vieler Wahrscheinlichkeit den Augenblick im voraus berechnen, wo das russische Volk, wenigstens in Petersburg, seine Nationaltracht allgemein mit Frack und Überrock vertauscht haben wird. Die Reichen und Vornehmen haben sich von diesem Feste, dem noch zu Katharina’s Zeit Alle beiwohnten, gänzlich zurückgezogen; sie fangen an, eine Geringschätzung der Volksthümlichkeit zu zeigen und eine Grenze zwischen sich und den Gebräuchen ihrer Väter zu ziehen, die sie der Nachäffung ausländischer Sitte und Weise aufopfern.

Und doch, sagte Nordeck, sind unverkennbar in Ihrer Verfassung und im Volke selbst so viele Elemente, die keine völlige Verschmelzung mit dem übrigen Europa zulassen werden.

Sie haben Recht, antwortete Sivers, ob man gleich im Irrthum ist, wenn man im Auslande behauptet, daß es in Rußland nur Herren und Sklaven gibt. Eine Art von Mittelstand füllt auch hier den unermeßlichen Raum aus, welcher den Menschen, der Alles darf, von dem sondert, der Alles dulden muß, und die Regierung thut alles Mögliche, um diesen Mittelstand zu vermehren und ihn gesetzlich zu begründen. Schon Katharina sah es ein, wie wichtig und nothwendig die Bildung eines solchen Standes als Schutzwehr des Monarchen gegen die Aristokratie sei, und verordnete durch eine Ukase, daß jeder Kronbauer, der Vermögen genug besitze, um ein Gewerbe treiben zu können, sein Dorf verlassen, sich eine Stadt zum Wohnort erwählen und sich daselbst als Bürger einschreiben lassen solle. Eine gleiche Befugniß ist auch den Freigelassenen der Edelleute zugestanden, und die Zahl dieser Bürger nimmt jährlich bedeutend zu. Es ist eine merkwürdige Eigenthümlichkeit unserer Verfassung, daß alle Gefahr, die sie bedroht, einzig vom Adel ausgeht, und diesem doch nicht, wie in den anderen europäischen Staaten, eine persönliche Würde, ein bestimmter Rang zusteht, sondern der Adelige diesen erst von der Krone erhält, indem er in ihre Dienste tritt. Das Volk ist so an die Form seiner Regierung gewöhnt, daß es die Existenz eines Kaisers für ebenso nothwendig hält als die Existenz Gottes, und es für gleichen Frevel und für gleich unmöglich halten würde, daß Rußland ohne Kaiser als ohne Gott existiren könne. Zu einem Wechsel im Namen seiner Beherrscher ist es leicht zu verleiten; allein die Form seiner Regierung, der Titel eines Kaisers wird ihm noch Jahrhunderte lang heilig bleiben. Der russische Adel hat aber in seiner Gestaltung eine Eigenthümlichkeit, zu der sich in der Aristokratie anderer Länder kein Gegenstück findet; er ist ein Koloß, aber ein Koloß mit thönernen Füßen. Sie wissen, daß die militairische Rangordnung bei uns die Norm für alle Stände darbietet, sogar für die Damen, die am Hofe leben. Selbst die Ehrendamen der Kaiserin haben ihren bestimmten militairischen Rang, und so ist unser Adel gewissermaßen nur ein einziges großes Regiment. Jeder Adelige muß also, um einen Rang und um Zutritt am Hofe zu erhalten, in den Dienst der Krone treten, und diese Dienstpflichtigkeit läßt das Bewußtsein der persönlichen Ehre und Würde nicht aufkommen, das doch der Kern aller ächtadeligen Gesinnung ist. Der deutsche Edelmann z. B. hat ein Bewußtsein seines Standes, das ihm durch nichts geraubt werden kann; in Armuth und Niedrigkeit versunken, bleibt ihm das Gefühl der Ebenbürtigkeit mit den Ersten seines Volkes. Dies Bewußtsein erscheint mir wie die Ahnung einer zartern, reinern Eigenthümtichkeit, welche unter der Hülle des äußern Lebens verborgen liegt, als die erste Blüte, die erste Spur der geistigen Persönlichkeit und des höhern Selbstbewußtseins, als das Princip des Ehrgefühls, sowol im einzelnen Menschen als in ganzen Völkern. Es gibt keine Ehre ohne Sittlichkeit; keine Sittlichkeit ohne Ehre; ihr Verlust verdirbt ein ganzes Volk, wie den einzelnen Stand und den einzelnen Menschen, und Ehre verliert man durch die Duldung einer ungesetzmäßigen Mishandlung. Für den Himmel und für sein inneres Leben bedarf der Mensch der Tugend; für seine Verhältnisse zu der bürgerlichen Gesellschaft der Ehre. Der Despotismus, der alle freie sittliche Kraft zu unterdrücken strebt und keine mächtige Natur im Guten wie im Bösen gewaltig emporwachsen läßt, bedarf des Princips der Ehre als einer Wurzel des staatsbürgerlichen Lebens nicht; zum Glück sind aber jetzt schon viele Völker, und unter diesen vorzugsweise die Deutschen, reicher an Geisteskräften, als das von der Politik der Herrscher zugeschnittene Maß ihnen auszuüben vergönnen möchte, und eben dieser Reichthum läßt in Deutschland auf eine allmälige, ruhige und verständige Ausgleichung zwischen den Fürsten und ihren Völkern hoffen. Die russische Regierung ist aber leider in der traurigen Lage, die Blüte des Ehrgefühls in allen ihren Dienern durch eine unentfliehbare Nothwendigkeit wie Mehlthau selbst vergiften zu müssen, indem sie keinen derselben so besoldet, daß er als ehrlicher Mann von dem Betrag seiner Stelle leben kann. Die geheime Politik unserer Regierung erheischt dabei einen ununterbrochenen kleinen Krieg gegen den Adel, in dem der letztere stets den Kürzern zieht, weil eine unbezwingliche Neigung zur Verschwendung ihm mehr und mehr seine Unabhängigkeit von der Krone raubt. Fast alle unsere Großen geben mehr aus, als sie einnehmen; der Vater hinterläßt dem Sohne eine bedeutende Schuldenmasse; dieser vermehrt sie, da die Bedürfnisse des Luxus gemeinhin in demselben Verhältnisse größer werden, als sich die Mittel zu ihrer Befriedigung verringern; um den Ausfall zu decken, nimmt er seine Zuflucht zum Lombard, das der Kaiser Alexander in der wohlthätigen Absicht errichtete, seine großen vor der Raubsucht der Wucherer zu schützen. Die Krone leiht ihnen in dieser Anstalt Kapitale zu billigen Zinsen; doch nur selten werden diese von ihnen entrichtet; ihre Schuldenlast wächst von Jahr zu Jahr bis zu dem Augenblicke, wo das Grundstück, welches der Krone zur Hypothek dient, nach seinem ganzen Werthe an diese verfallen ist. Die Leibeigenen des Edelmannes werden nun Kronbauern, und diese Errichtung des Lombard, das ursprünglich nur eine Wohlthätigkeitsanstalt zum Besten des Adels war, hat durch diesen Gang der Dinge eine sehr große politische Wichtigkeit erhalten.

Im Weltlauf, sagte Rehbinder, modificirt sich das Gute so oft nach dem Bösen, daß es Einem wahrlich zur Herzstärkung gereicht, wenn sich, wie m diesem Fall, das Böse auch einmal zum Guten modificirt, und dies ist hier der Fall, da auf jedem andern Wege der Freilassung der Leibeigenen so große Hindernisse in dem Wege stehen. In dem europäischen Staatenleben steigert sich überhaupt jetzt Alles zu einer unglaublichen Thätigkeit; alle Verhältnisse desselben spinnen sich künstlicher und scharfsinniger aus; leider aber verfinstert sich dabei jeder höhere, edlere Zweck des Staatshaushaltes, und das Verhältniß des individuellen Glückes zu dem Gedeihen des Ganzen erscheint mir oft wie ein qualvolles Räthsel. Ausgearbeitete, verfeinerte Thierheit, ein Herabziehen aller geistigen Thätigkeit zum fabrikmäßigen Maschinendienst für den Staat, darauf arbeitet Alles hin, und dies verfluchte Princip der Nützlichkeit siegt immer und überall, wo es sich doch zum Heil der Menschheit höheren Principien unterordnen sollte. Es scheint wirklich in der Staatskunst etwas Teuflisches zu liegen, das sich alle Kräfte und Erscheinungen der moralischen Welt unterthan zu machen sucht und nirgend die Spuren wohlwollender Güte verräth.

Verkündigt sich doch auch in der physischen Welt, antwortete Nordeck, die Macht des Weltenschöpfers oft im Zerstören und Verheeren, und doch bewahren wir den Glauben an seine Liebe, die sich uns in unserm Bewußtsein unmittelbar offenbart. Dürfen wir denn für die Stürme und Wetter der politischen Welt und der Staatengeschichte weniger Muth und Vertrauen zeigen? - Unsere Zeit hat freilich sehr dunkle Schattenseiten. Ehre, stille Berufstreue, Fleiß und Genügsamkeit sind vor dem vergiftenden Einfluß der Geldaristokratie unscheinbar geworden; der Einzelne geht unter, weil die schöne, fromme Kunst des Entbehrens dem lebenden Menschengeschlechte verloren gegangen zu sein scheint; die Mehrzahl der jetzigen jungen Männer wird unter der Last schwerer Drangsale durchs Leben hingetrieben und fortgestoßen; aber doch müssen wir, wenn wir das vorübereilende Dasein einer Generation nach ihrem Beitrag zur Erreichung der höchsten Zwecke der Menschheit würdigen, unserer Zeit eine hohe, edle Bedeutung zugestehen. Selbst Das, was Sie, lieber Sivers, uns eben von dem leisen Entwickelungsgange dieses Reiches mitgetheilt haben, liefert einen Beweis, wie jedes politische, jedes religiöse System, das die Unterjochung der Menschheit bezweckt, doch vor den nie einzuschläfernden Geisteskräften des Menschen und vor der stillen Allmacht der Zeit, die

Zu dem großen Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur an Sandkorn reiht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht,

zerfallen und in sich selbst versinken muß.

Die Unterhaltung wandte sich wieder auf die Verhältnisse des russischen Adels zurück. Der Abstand, sagte Graf Sivers, der in Rußland die höheren Stände der Gesellschaft von allen Denen absondert, die nicht zu ihnen gehören, ist unermeßlich und wird vorzüglich durch die Erziehung unserer jungen Großen so schroff und unzugänglich erhalten. Man bewundert im Ausland oft die Leichtigkeit, mit der die Russen fremde Sprachen erlernen und sie ohne allen ausländischen Accent fertig reden; dies verdanken sie theils der russischen Sprache selbst, die in ihrer Lautbildung den Sprachorganen eine Biegsamkeit gibt, die ihnen die Schwierigkeit der Aussprache jeder andern Sprache zum leichten Spiel macht, theils ihrer Erziehung. Schon auf dem Arm ihrer Wärterinnen fangen sie an, französisch zu plappern, unid so dient ihnen seit der frühsten Kindheit eine fremde Sprache zum Ausdruck ihrer Gedanken und Gefuhle. Gemeinhin lernen sie auch Englisch und Deutsch; doch sprechen sie diese Sprachen nicht so allgemein, wie dies bei der französischen der Fall ist; ihre Erlernung ist nur ein Luxus der Erziehung, aber die französische Sprache ist ihnen ganz so geläufig und nothwendig wie ihre vaterländische. Die häusliche Erziehung, die früher allgemein Sitte war, fängt an aus der Mode zu kommen; es gibt jetzt in Petersburg mehrere Pensionsanstalten; aber alle sind von Ausländern errichtet: die Lehrer, welche die Kinder unterrichten, sind Ausländer, die Vorschriften, die ihnen beim Schreibunterricht vorgelegt werden, die Bücher, die sie lesen, die Gedanken, die man in ihnen zu erwecken sucht, die Kenntnisse, die man ihnen mittheilt, Alles ist in einer fremden Sprache ausgedrückt. Die Tendenz ihrer Bildung, Sprache, Sitten, Gefühle, Alles ist ausländisch. Kann nun in der Seele eines so erzogenen Knaben Liebe zum Vaterlande erblühen? kann er zu einem Russen aufwachsen? Sie finden in unseren ersten Familien viele Jünglinge und Mädchen, die fehlerfrei französisch, deutsch und englisch schreiben, aber außer Stande sind, einen russischen Brief aufzusetzen, ja kaum Russisch lesen können. Kann ein solches Abstreifen seines Volkes und seiner Sprache ohne den allernachtheiligsten Einfluß stattfinden? Die Regierung fühlt das auch! es ist im Plan, kaiserliche Erziehungsanstalten zu stiften, in welchen die Erziehung mit den Sitten, Gesetzen und Einrichtungen des Landes übereinstimmen soll, und dies ist höchst nothwendig, wenn Adel und Volk nicht durchaus mit einander zerfallen und sich nicht in Rußland ein Staat von Nichtrussen bilden soll. Es gibt sogar hohe Staatsbeamte, die ihre Verordnungen und Entscheidungen französisch niederschreiben und sie dann durch ihre Secretaire ins Russische übersetzen lassen, und das sind keine Ausländer, sondern geborene Russen!

Gibt es denn aber noch in Europa ein Land, fragte Rehbinder bitter, auf dessen Jugend man mit der Hoffnung blicken dürfte, daß in ihr ein edleres und tüchtigeres Geschlecht erwachsen wird? So einseitig und beschränkt uns auch in der Idee das Leben eines Menschen erscheint, der am Schluß des siebenjährigen Krieges geboren und im Jahr 1789 gestorben wäre und so einen Zeitraum durchlebt hätte, der so leer an großen Begebenheiten, so wenig an- und aufregend, so lähmend, so philisterartig war, daß Einem fröstelt, wenn man darauf zurückblickt, so erzog jene Zeit doch kräftigere Menschen als die unsrige, die das ganze lebende Geschlecht mit Sturmesgewalt in die Wirbel ungeheurer Ereignisse hineingerissen hat. Jene Zeit war ein Winterschlaf, aus dem Alles wie verjüngt erwachte; die unsrige hat ein Geschlecht von leidenschaftlichen Schwächlingen hervorgerufen, die ebenso reizbar als schlaff und nichtig eine Leiter emporzuklimmen suchen, deren unterste Sprossen der Teufel durchsägt hat. Alles Veraltete muß endlich in sich selbst zusammenstürzen, das ist klar; aber zu einem neuen Bau sind die gehörigen Materialien nicht da, und immer zahlreicher wird die kraftlose, üppige Rate, die aus willenlosen Schlafmützen, Verrückten, Schwätzern, lüsternen Genies und entnervten Wüstlingen besteht. Alle, einzeln genommen, so erbärmlich, und doch können sie sich durch einen Gährungsproceß, den keine Macht vorherzusehen, keine zu hindern vermag, leicht in Giganten umgestalten. Wehe, wenn dann kein Jupiter vorhanden ist, der sie zu bändigen Kraft hat! Bajonnette sind dazu nicht hinreichend. Wehe, wenn unsere Zeit dazu bestimmt sein sollte , sich in einem Blut- und Thränenbad die verlorene Würde und Kraft wiedergewinnen zu müssen!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zwei Jahre in Petersburg