Sechste Fortsetzung

Es war ein schwerer Missgriff Lassalles, Bernhard Becker testamentarisch zu seinem Nachfolger im Präsidium des allgemeinen deutschen Arbeitervereins vorzuschlagen. Freilich war dieser Missgriff halbwegs durch den Zwang der Umstände entschuldigt. Liebknecht bot nicht nur keine Garantie, dass er die Bewegung im Sinne ihres Urhebers fortführen, es war vielmehr außer Zweifel, dass er sofort den Verein dezentralisieren werde; sprach er doch gegen Lassalle selbst' seine Ansicht über diesen Punkt kurz und bündig in den Worten aus: „In ruhigen Zeiten ist ein Diktator eine komische Person; in revolutionären Tagen schießt man ihm eine Kugel vor den Kopf." Schweitzer dagegen war einerseits vorläufig unmöglich wegen des Hasses und Misstrauens, mit welchen ihn noch viele Mitglieder betrachteten, anderseits scheute sich Lassalle, ihn als seinen Erben zu proklamieren wegen des gesellschaftlichen Verrufs, in den Schweitzer durch ein skandalöses Abenteuer im Schlossgarten zu Mannheim gekommen war. So war freilich die Auswahl sehr beschränkt, und, wenn einmal jene Beiden ausgeschlossen waren, dann konnte es allerdings nur eine Frage von untergeordnetem Interesse sein, ob nun dieser oder jener von den Größen dritten Ranges die Leitung, des Vereins anheimfiel.
Je mehr sich aller Einfluss und alle Macht in dem Präsidium konzentrierte, um so notwendiger musste der Inhaber dieses Amts ein Mann von energischem Willen und geistiger Überlegenheit sein. Becker fehlte es an Beidem; nur nach mancherlei Hin und Her gelang es ihm, überhaupt seine Wahl durchzusetzen. Er war einer jener gesellschaftlich harmlosen, aber politisch fürchterlichen Menschen, die, wenn sie einige „Prinzipien" kapiert zu haben glauben, mit diesen eingelernten Zauberformeln alle Menschen- und Welträtsel zu lösen sich vermessen. Ein Cato im unendlich Kleinen, kleinliche nachtragend, verbissen, von jener bornierten Ehrenhaftigkeit, welche an dem Führer einer aufstrebenden Partei die misslichste aller Tugenden ist. Kaum war er im Sattel, als er es für seine vornehmste Amtshandlung erachtete, sich mit der Gräfin Hatzfeldt zu überwerfen. Das spricht für ihn persönlich, aber politisch war es eine unglaubliche Torheit. Wie unheilvoll die Gräfin auf Lassalles Entschlüsse gewirkt hatte, nach seinem Tode war ihr Beistand dem Vereine nahezu unentbehrlich. Sie war eine Frau nicht ohne Geist und Wissen; trotz ihres emanzipierten Lebens besaß sie noch manche Verbindungen in aristokratischen Kreisen und vor Allem verfügte sie über große Geldmittel. Natürlich war ihr, wie allen Frauen, die Politik nur Herzenssache; sie hatte Lassalle geliebt und wollte sein Andenken in der letzten, so viel angefochtenen Schöpfung seines Lebens zu Ehren bringen. Gewiss mochten ihre tyrannischen Weiberlaunen oft unbequem, bisweilen unerträglich werden, aber ein Mann von Bildung und Takt hätte diese brennende Fackel so gehandhabt, dass sie nur leuchten, aber nicht zünden konnte, während Becker mit Lanze und Schwert gegen die ihn geistig überragende Frau anrannte. Natürlich benahmen Liebknecht und Schweitzer sich geschickter; sie standen noch in intimem Verkehr mit der Gräfin, als die Fehde zwischen ihr und dem Vereinspräsidenten schon lichterloh brannte. Liebknecht arbeitete mit ihr gemeinsam — Bucher und Marx hatten die heikle Aufgabe aus guten Gründen abgelehnt — ein Werk über die letzten Wochen Lassalles aus; es ist nur in vereinzelten Exemplaren in die Öffentlichkeit gedrungen. Auf die Dauer erwies sich eine vermittelnde Stellung freilich als unmöglich, und nachdem der Zwist einmal unversöhnlich geworden war, blieb allen besseren und klügeren Elementen des Vereins nichts Anderes übrig, als auf die Seite des Präsidenten zu treten.

Selbstverständlich wirkte der Hader innerhalb des Generalstabes lähmend und zersetzend auf die Entwicklung der Partei. Lärm und Streit aller Orten; überall rapider Rückgang. Man wusste nichts Besseres, als sich mit den jämmerlichsten Beschuldigungen zu verfolgen, und Keiner sah den dunkeln Schatten, der von London her über das Werk Lassalles fiel. Noch ging die erste Generalversammlung, die in den letzten Tagen von 1864 zu Düsseldorf stattfand, verhältnismäßig ruhig vorüber; die Bestrebungen der Gräfin Hatzfeldt , Becker zu stürzen, blieben vorläufig erfolglos. Am 1. Ianuar 1865 erschien der von Lassalle getroffenen Anordnung gemäß der „Sozialdemokrat", das neue Vereinsorgan; Herr v. Schweitzer gab den Geist, Herr v. Hofstetten das Geld. Karl Marx, der sich zu Lebzeiten Lassalles um die ganze Bewegung nicht gekümmert hatte, zeigte nun freundliches Entgegenkommen; an der Spitze der ersten Nummer des „Sozialdemokrat" prangte sein Name als der eines Mitarbeiters; mit ihm teilten sich in diese Ehre Engels, Liebknecht, Herwegh, Rüstow, Wuttke und noch einige Andere. Man sieht, eine etwas gemischte Gesellschaft; was sie einte, war die insipideste aller politischen Leidenschaften unserer Zeit, ein eingefleischter Preußenhass. Sobald dies edle Gefühl in seiner jungfräulichen Reinheit getrübt wurde, stoben sie nach allen Richtungen der Windrose auseinander. Und diese Gelegenheit fand sich nur zu bald. Bereits im Februar 1865 veröffentlichte Herr v. Schweitzer im Vereinsorgane fünf Leitartikel unter dem Titel: „Das Ministerium Bismarck," welche ein so hervorragendes, publizistisches Talent und einen politischen Blick von solcher Schärfe bezeugen, dass sie heute noch viel Interesse darbieten. Ihre Tendenz ist etwa aus den Schlussworten erkennbar, in welchen der Verfasser seine Entwicklung dahin resümiert: „Dies also ist unser wichtiges Resultat. Der Bundestag, Österreich, die Mittel- und Kleinstaaten sind schlechthin ohnmächtig der deutschen Frage gegenüber — im Guten wie im Schlimmen. Aktionsfähig in Deutschland sind nur noch zwei Faktoren: Preußen und die Nation. Preußische Bajonette oder deutsche Proletarierfäuste, wir sehen kein Drittes." Man mag ermessen, wie dies Sprenggeschoß unter den geistigen Protektoren des Blattes explodierte; Mann für Mann sagten sie sich in feierlichen Erklärungen von dem ungeratenen Kinde los. Von Stund' an war Schweitzer ein „Lump", ein „Verräter", ein „Regierungssozialist", d. h., um diese anmutigen Titel aus dem Kommunistischen ins Deutsche zu übersetzen, der erste Versuch des internationalen Kommunismus, sich der Lassalleschen Bewegung zu bemeistern, war kläglich gescheitert. Liebknecht, als der einzige jener Paten des „Sozialdemokrat", der in Berlin wohnte, versuchte noch einige Putsche, aber ohne jeden Erfolg. Schweitzer konnte sich mit vollem Rechte darauf berufen, dass er durchaus im Geiste und Sinne Lassalles geschrieben habe, und der Präsident durfte ihn nicht desavouieren Becker hat sich später, als er zu den Internationalen übergetreten war, damit entschuldigt, dass er wider bessere Überzeugung den einseitigen Lassallekultus gepflegt habe, weil nur auf diese Weise der in allen Fugen krachende Verein notdürftig habe am Leben erhalten werden können. Wie dem immer sei, damals stand er ganz auf Schweitzers Seite und richtete an Marx die freundliche Aufforderung, er „solle sich mit seinen internationalen Assoziationen einbalsamieren und als toll gewordener Hering in den Schornstein hängen lassen." Worauf Liebknecht wutentbrannt in der Berliner Gemeinde den Antrag stellte, sie „solle Becker als Lügner, infamen Verleumder und hoffnungslos unheilbaren Idioten aus dem Verein ausschließen." In diese holden Wechselgesänge griff die raue Hand der Berliner Polizei störend ein; im Sommer 1865 wurde Liebknecht, übrigens auf völlig nichtige Vorwände hin, aus Berlin ausgewiesen und ging nach Leipzig.


Bei dieser Entwicklung der Dinge und bei der monarchischen Organisation des Vereins hätte es nun wohl die einfachste Logik erheischt, dass die Zügel der Partei endlich in die Hände Schweitzers gelegt wurden, der alle seine Genossen um Haupteslänge überragte. Indessen die Verwirrung war schon zu groß, als dass sich auch nur die Parteilogik ohne Weiteres hätte geltend machen können. Seitdem sich Schweitzer von der Gräfin Hatzfeldt losgesagt hatte, intrigierte und wühlte sie gegen ihn nicht minder, als gegen Becker; obendrein fürchtete sie in ihm den überlegenen Kopf. Sie hatte noch immer großen Anhang in dem Vereine; das Andenken Lassalles war ihr eben so eine moralische, wie ihr großes Vermögen eine materielle Stütze. Dazu kam, dass Schweitzer als Redakteur des „Sozialdemokrat" mehrfach längere Gefängnisstrafen verwirkte und ganz vom Schauplatze der Ereignisse verschwand; sein Kollege Hofstetten, den die Lektüre schlechter Romane und ein gewisses Talent, gereimte Toaste auszubringen, sehr zur Unzeit aus dem wohltätigen Dunkel eines bayrischen Garnisonstädtchens auf die Bühne der Zeitgeschichte gelockt hatte, konnte ihn nicht ersetzen. Alle diese Umstände wirkten zusammen, dass, als es der Gräfin endlich gelang, auf der zweiten Generalversammlung, die Ende 1865 in Frankfurt a. M. tagte, Becker zu stürzen, nicht Schweitzer, sondern Tölcke aus Iserlohn zum Präsidenten gewählt wurde. Tölcke ist später, durch eine parlamentarische Neuerung sehr bekannt geworden; er pflegte den Berliner Volksversammlungen statt mit einer Klingel, mit einem wuchtigen Knüppel zu Präsidieren. Indes wenn er in Folge dieses allerdings eigentümlichen Privatvergnügens gewissermaßen als Typus der rohesten und ungebildetsten Elemente der Partei gilt, so geschieht ihm entschiedenes Unrecht. Er verfügt über ein beträchtliches Quantum gesunden Menschenverstandes, dazu über eine starke Ader volkstümlichen Humors, und er meint es in seiner Art durchaus ehrlich mit seinen Bestrebungen. Obgleich ihm als früheren Bureauvorsteher eines Rechtsanwalts und jetzigen „Volksanwälte" die Feder vertrauter ist als manchem Handwerker, der augenblicklich die Interessen der Partei schriftstellerisch vertritt, hält er sich möglichst frei von dem banalen Ehrgeize der „Führer"; es ist bezeichnend, dass, während beispielsweise der Buchbinder Most in unzähligen Bandwurmartikeln Gott und die Welt zu verarbeiten Pflegt, Tölckes literarische Tat eine Broschüre ist, welche praktische Fingerzeige für das Agitieren gibt. Sein Blick bleibt nach Möglichkeit auf das Ganze gerichtet, und seinen Bemühungen ist namentlich das Zustandekommen des Gothaer Vereinigungskongresses zu danken. Der Aufgabe, vor welche ihn jene Frankfurter Generalversammlung stellte, war er allerdings nicht gewachsen. Dazu war der Verein schon in zu große Verwirrung geraten; zudem ließ er sich von dem entlegenen Iserlohn aus um so weniger einrenken, als Schweitzer während des Tölckeschen Präsidiums eine halbjährige Gefängnishaft zu verbüßen hatte. Tölcke hat sein Möglichstes getan; namentlich war er ein abgesagter Gegner des internationalen Schwindels, und Vahlteich hat ihm gelegentlich, sprachlos vor Zorn, das Verbrechen vorgehalten, dass er mit Rücksicht auf die bevorstehende Verleihung des allgemeinen Stimmrechts in einer rheinischen Versammlung ein Hoch auf den König von Preußen ausgebracht habe. Natürlich war Tölcke am wenigsten der Mann, sich am Schürzenbande der Gräfin Hatzfeldt gängeln zu lassen; sie bekämpfte ihn bald eben so wütend, wie seinen Vorgänger und behandelte ihn namentlich als Usurpator, weil er zwar nicht gegen den Wortlaut, aber ihrer Anficht nach gegen den Geist der Vereinsstatuten durch die Generalversammlung, statt durch Urabstimmung aller Mitglieder zum Präsidenten gewählt worden war. Des Spektakels müde und satt, legte Tölcke schon nach einem halben Jahre im Sommer 1866 auf der dritten Generalversammlung zu Leipzig das Präsidium nieder und der Hamburger Perl — Schweitzer war noch im Gefängnis — wurde an seine Stelle gewählt.

Damit hatte der Verein glücklich die tiefste Stufe seiner Erniedrigung erreicht. Perl war derjenige Bevollmächtigte gewesen, welcher Lassalle die bittersten Stunden gemacht hatte; er litt an der fixen Idee, durch „Freiwilligenchöre" nicht nur die soziale, sondern so ziemlich alle europäischen Fragen lösen zu wollen. Glücklicherweise war der Verein schon viel zu desorganisiert, als dass der Versuch hätte gewagt werden können, die Probe auf das Exempel zu machen. Perl war ein Hauptkonfusionarius, wie er in der Geschichte der Partei kaum zum zweiten Male auftritt, wenigstens nicht an so hervorragender Stelle, und es kann gar kein glänzenderes Zeugnis für die Energie und das Geschick Lassalles geben, als dass der Verein auch diese Prüfung glücklich, wenn auch wesentlich nur durch die Gunst der Zeitumstände überstand. Natürlich war Perl, wie alle Querköpfe, eigensinnig bis zum Exzess; Lassalle hatte noch mit Mühe seinen ungestümen Tatendrang gebändigt, aber mit einem Weibe die Herrschaft zu teilen, ertrug sein Selbstgefühl nicht. Die Gräfin Hatzfeld: war endlich des grausamen Spieles müde; sie hatte einen Präsidenten nach dem andern gestürzt und jeder war ihr gleich unwillfährig geblieben. So brach sie denn Ende 1866 auf der vierten Generalversammlung zu Erfurt mit der Partei und gründete bald darauf mit gleichem Programm und Statut einen neuen Verein. Es sei von vornherein bemerkt, dass die Geschichte dieser weiblichen Linie hier nur so weit berührt werden wird, als sie unlöslich mit der Entwicklung der anderen Fraktionen verflochten ist. Im Allgemeinen ist sie ein unerträgliches Wirrsal von Dummheit und Gemeinheit, wohl der ekelhafteste Bodensatz der politischen Zeitgeschichte, unfähig menschlicher Darstellung, es sei denn, dass sie ein Kapitel in einem psychiatrischen Werke fände. Aus dem sinnlosen Treiben treten nur zwei Gestalten mit etwas markierteren Zügen hervor, Försterling und Mende, Jener weitaus die dümmste, Dieser weitaus die widerwärtigste Gestalt, welche die deutsche Sozialdemokratie hervorgebracht hat; leider gelangten Beide in den Reichstag, so dass sie sich hinfort nicht völlig ignorieren lassen werden.

Perls Präsidium überdauerte noch die Erfurter Generalversammlung. Ja, es brach noch unter ihm die Morgenröte einer besseren Zeit für den Verein an. Es bewährte sich die alte Erfahrung, dass, nachdem ein genialer Mann mit rüstigen Armen vergebens gegen den Strom der Zeit ankämpfte, die Wellen desselben Stromes oft spielend wie Kork eine geistige Null auf willigem Rücken dahin tragen. Innere Staatsumwälzungen, gleichviel welcher Art, treiben immer direkt oder indirekt Wasser auf die Mühle revolutionärer Parteien; der Krieg von 1866, die große Karte, auf welche Lassalle seine letzten Hoffnungen gesetzt hatte, brachte in der Tat neues Leben in die Reihen des Vereins; er rettete ihn vermutlich vor gänzlichem Untergange. Kurz vor Ausbruch des Kampfes unternahm Schweitzer nach seiner Entlassung aus dem Gefängnisse eine große Agitationsreise durch ganz Deutschland mit bedeutendem Erfolge; er warnte die Arbeiter vor der „Freiheit" des Bundestages und des großdeutschen Partikularismus und trat für das historische Recht Preußens ein; selbstverständlich wurde diese verständige Haltung für seine internationalen Gegner ein neuer Beweis seines „Lumpentums" und „Verrats." Im Innern des Vereins war mit der Entfernung der Gräfin und ihres nächsten Anhangs der Hauptherd der Zwietracht zertreten; in den einzelnen Gemeinden flackerten die lokalen Zwistigkeiten, welche all' die Jahre über in unabsehbarer Wirrnis getobt hatten, noch fort, aber der beste Nahrungsstoff war ihnen doch entzogen. Die Unfähigkeit des Präsidenten wurde einigermaßen paralysiert durch die geschickte Leitung des Vereinsorgans, das als letzte Klammer die äußere Organisation aufrecht erhielt. Die Zahl seiner Abonnenten war trotz alledem in dieser Zeit von 400 auf 4.000 gestiegen. Ja, schließlich erwies sich die übergroße Unfähigkeit Perls in gewisser Hinsicht als ein Segen für die Partei. Sie stellte die geistige Überlegenheit Schweitzers ins hellste Licht und machte es auch dem blödesten Auge klar, dass in der Führerschaft dieses Mannes, so wie der Verein nun einmal war, die letzte Chance der Rettung lag.

Viel folgenreicher noch als alles dies erwies sich natürlich die Verleihung des allgemeinen Stimmrechts. Damit war der erste, ja nach dem Wortlaute des Statuts sogar der einzige Zweck des Vereins erreicht. Überschwängliche Hoffnungen knüpften sich an dies Universalheilmittel aller sozialen Leiden; sie erfüllten sich nicht, aber sie spornten den Eifer mächtig an und machten gewaltige Propaganda. Schon bei der ersten Probe des neuen Wahlsystems konnte der Verein seinen Gegnern eine rangierte Schlacht anbieten. Anfangs 1867 bei den Wahlen zum konstituierenden Reichstage des Norddeutschen Bundes kandidierte Schweitzer — es ist bezeichnend, dass ihm trotz des nominellen Präsidiums Perls der einzige Wahlkreis zufiel, der Aussicht auf Sieg bot — in Elberfeld-Barmen gegen den Grafen Bismarck und Herrn v. Forckenbeck, die Kandidaten der Konservativen und Liberalen. Es entspann sich bekanntlich ein sehr heißer und interessanter Wahlkampf. Der erste Gang blieb unentschieden; Graf Bismarck hatte 6.523, Forckenbeck 6.123, Schweitzer 4.668 Stimmen. Bei der engeren Wahl entschieden die sozialdemokratischen Stimmen für den Kandidaten der konservativen Partei. Was Schweitzer zu dieser unklaren Haltung bestimmte, ist nicht leicht zu sagen, gleichviel, ob man ihn für einen Regierungsagenten oder für einen ehrlichen Parteimann hält. In ersterem Falle beging er eine kolossale Dummheit; in letzterem trat er die einfachsten Regeln politischer Taktik mit Füßen. Er selbst sagte in einer Ansprache an seine Wähler: „Bei dieser engeren Wahl, in welcher es galt, zwischen dem preußischen Ministerpräsidenten und dem Präsidenten des preußischen Abgeordnetenhauses zu entscheiden, ist durch Eure Stimmen der Graf Bismarck als Sieger aus der Wahlurne hervorgegangen. Vielleicht, Arbeiter, war Eure Abstimmung eine Huldigung, nicht zwar für den Candidaten der conservativen Partei, wohl aber für den Minister, der aus eigenem Antriebe ein Volksrecht Euch zurückgegeben, welches die liberale Opposition für Euch zu fordern so hartnäckig vergessen hatte." Das ist jene Theorie der „Bosheit," die Schweitzer später im Reichstage öffentlich proklamierte; zur Erklärung einer ernsthaften Wahltaktik reichen derartige politische Bonmots natürlich nicht aus. Übrigens lehnte Gras Bismarck zu Gunsten eines anderen Wahlkreises das Elberfelder Mandat ab; bei der Ersatzwahl standen sich Gneist und Schweitzer gegenüber; die Stimmen für Letzteren waren auf nahe an 8.000 gestiegen, Gneist siegte nur mit einer winzigen Majorität.

So hing der Verein in schwebender Pein. Hier bemerkenswerte Erfolge und größere Hoffnungen, dort die nahezu gänzliche Auflösung, der äußeren Organisation und eine völlige Zerrüttung der Finanzen. So konnten die Dinge in keinem Falle bleiben. In zwölfter Stunde siegte der Trieb der Selbsterhaltung über allen inneren Hader und alle querköpfigen Schrullen; auf der fünften Generalversammlung, die Mitte Mai 1867 in Braunschweig tagte, erzwang die Gewalt der Umstände, was die Einsicht der Mitglieder schon vor drei Jahren hätte freiwillig tun sollen: Schweitzer wurde einstimmig zum Präsidenten des Vereins gewählt. Die erste Amtshandlung des neuen Diktators war, dass er die bezügliche Bestimmung der Statuten im Sinne der Gräfin Hatzfeldt dahin interpretieren ließ, nicht durch die Generalversammlung, sondern durch Urabstimmung aller Mitglieder sei der Präsident alljährlich zu wählen; er wusste aus den bitteren Erfahrungen dreier Jahre, dass der gesunde Verstand der Masse für kluge Leute ein berechen- und lenkbarer Faktor sei, während alle Energie und alle Intelligenz machtlos zerschellen müssten an dem bornierten Eigensinn und den schiefen Gedankengängen der halbgebildeten „Führer."

Damit war die Zeit der Diadochen vorüber. Der moderne Alexander, der ausgezogen war, eine neue Welt des Glücks zu erobern, hatte endlich in dem Würdigsten seinen Nachfolger erhalten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.