Suggerierte Vorstellungen und Erinnerungen und die „Psychologie der Zeugenaussage“

Wenn schon die Wahrnehmung selbst durch bloße Suggestion so vollkommen getäuscht werden kann, wie es im vorhergehenden Kapitel geschildert wurde, kann es um so weniger Wunder nehmen, dass die Erinnerung an gehabte Sinneseindrücke und Erlebnisse aller Art noch weit leichter und nachhaltiger durch Suggestion beeinflusst, entstellt und verdreht werden kann. Je unselbständiger und unkritischer ein Mensch veranlagt ist, um so leichter bildet er sich nachher in ehrlichster Überzeugung ein, irgend etwas wahrgenommen, erlebt und getan zu haben, was ihm ein anderer Mensch oder auch die eigne erregte Phantasie suggeriert. Stoll berichtet z. B. folgenden Fall, der sich in der Klinik des berühmten Hypnotiseurs Bernheim in Nancy ereignet hatte:

„Eines Tages rief Bernheim einen 14jährigen Jungen an das Krankenbett eines anderen Patienten, No.1, und fragte ihn: ,Du, sage einmal, hat dir nicht gestern dieser Mann hier dein Portemonnaie weggenommen?' ,Oui, Monsieur‘, lautete sofort die Antwort, — ,So erzähle uns, wie das zuging, aber nimm dich in acht, nichts als die lautere Wahrheit zu sagen, denn hier ist gerade Monsieur le Juge (als solcher wurde der ebenfalls anwesende Prof. Forel ausgegeben) anwesend, und bedenke wohl, dass deine Aussagen diesen Mann für ein halbes Jahr ins Zuchthaus bringen können‘. — Der Junge beteuert, nichts als die lautere Wahrheit sagen zu wollen, und beginnt nun zu erzählen, wie der Kranke von No. 1 gestern 10½ Uhr an sein Bett gekommen sei und ihm das Portemonnaie unter der Bettdecke hervorgestohlen habe. Hernach sei der Dieb in sein Bett zurückgekehrt. Eindringlich darüber befragt, ob er das alles wirklich und wahrhaftig gesehen habe und vor Gott beschwören könne, hebt der Junge unverweilt seine Schwurfinger auf und beschwört die Richtigkeit seiner Angaben bei Gott. Während dieser Erzählung schüttelt der Kranke in No. 1 beständig lachend den Kopf und stellt die ganze Sache in Abrede. Der Junge aber behauptet deren Richtigkeit ihm ins Gesicht. Bernheim ruft nun den Kranken im Bett No. 2, der dem No. 1 gegenüberliegt und die ganze Szene mit angehört hat, herbei und befragt ihn ebenfalls. Dieser Kranke, ein Hystero-Epileptiker, wiederholt nun die Erzählung des Jungen wörtlich und behauptet, ebenfalls den Diebstahl mit angesehen zu haben.“


Die Geschichte vom Diebstahl war erdichtet; das ganze Verhör war ein Experiment Bemheims, ein Experiment mit einem Resultat, das wie ein Hohn klingt auf das Sprichwort: „Durch zweier Zeugen Mund wird allemal die Wahrheit kund!“

Im April 1900 ereignete sich in Praßdorf bei Monsberg in Böhmen ein andrer merkwürdiger Fall: Die Tochter des Winzers Franz Bratuscha war spurlos verschwunden und trotz allen Suchens nicht aufzufinden. Die Behörden bemächtigten sich des Falles, und ein Gendarmerie-Wachtmeister verhörte den geistig minderwertigen Vater der Vermissten. Er nahm ihn scharf ins Gebet und sagte ihm schließlich auf den Kopf zu, er habe das Kind um die Ecke gebracht; Bratuscha gab auf sein Drängen auch zu, dass er seine verschwundene Tochter erwürgt habe. Aber damit nicht genug: der Wachtmeister, dessen Phantasie äußerst rege war, wollte Näheres über die Tat wissen, und Bratuscha gab alles zu und „gestand“ schließlich unter dem Kreuzverhör der Gendarmen, er habe seine Tochter unter Beihilfe seiner Frau zerstückelt, im Ofen verbrannt und Teile von ihr sogar verzehrt. Das gleiche, wiederholt abgegebene Geständnis legte auf Befragen auch Frau Bratuscha ab; die Ehegatten waren vom Schwurgericht auch schon wegen Mordes bez. Vorschubleistung zum Tode bez. drei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden, als man im August 1903 zu Gurkfeld in Krain das vermisste Mädchen lebend und wohlbehalten auffand — das Geständnis der Bratuscha war ihnen lediglich durch das Verhör des Gendarmen und die Furcht vor der Behörde einsuggeriert worden! Wie der Mann später angab, habe er, in Erinnerung an den Spruch „Ein Mann — ein Wort“ das einmal erpresste Geständnis nicht wieder zurücknehmen wollen!

In den beiden beschriebenen Fällen handelt es sich allerdings um kranke oder geistig minderwertige Leute, deren Urteilsfähigkeit und Willenskraft ohnehin eingeschränkt und die es gewohnt sind, sich der besseren Einsicht und dem festeren Willen Anderer ohne weiteres unterzuordnen. Aber auch ganz normale, gesunde Menschen können in dieser Weise beeinflusst werden, und zwar nicht einzeln, sondern gleich massenweise; ja, es ist nicht einmal nötig, dass die Suggestion ihnen von außen zugetragen wird, sondern sie entsteht spontan in irgend einem erregten, überreizten Hirn und breitet sich dann explosionsartig wie eine gefährliche Epidemie in dessen ganzer Umgebung aus.

Am 3. Juni 1904 fand man im Verbindungskanal bei Berlin auf Charlottenburger Gebiet den nackten Rumpf einer Frauensperson; Kopf, Beine und Arme fehlten, und längere Zeit konnte man über den Aufsehen erregenden Fund nichts Andres feststellen, als dass die vermissten Extremitäten auf einem Müllabladeplatz in der Jungfernhaide von dem Täter verbrannt worden seien. Als nun am 11. Juni in Berlin selbst abermals der Rumpf eines kleinen Mädchens aus der Spree gelandet wurde, dem Kopf, Arme und Beine fehlten, ging durch die Bevölkerung eine starke Erregung. Man stellte im zweiten Falle fest, dass das getötete Kind aus dem Hause Ackerstraße 130 stammte und dass der Mord am 9. Jimi erfolgt sein musste. Die Extremitäten wurden lange nicht gefunden. Da aber beim ersten Leichenfund festgestellt worden war, dass Kopf, Arm und Beine verbrannt worden waren, nahm man dies ohne weiteres auch für den zweiten an. Verschiedene Bewohner des Hauses Ackerstraße 130 und eines benachbarten, in der Voruntersuchung auch mehrfach genannten Hauses, Nr. 125, gaben auch spontan an, sie hätten in der Stunde, wo der Mord geschehen sein musste, einen intensiven Brandgeruch wahrgenommen, der sicher von den verbrannten Gliedmaßen hergerührt habe. Als aber einige Tage später die fehlenden Leichenteile des Kindes sämtlich in der Spree aufgefischt wurden, stellte es sich heraus, dass alle die Leute, welche den Brandgeruch bemerkt haben wollten, lediglich von ihrer aufgeregten Phantasie genasführt und ein Opfer der Suggestion, der Autosuggestion, geworden waren.

Bei jedem sensationellen Verbrechen, insbesondere nach geheimnisvollen Morden, kann man gleiche Erfahrungen machen: ungebildete und aufgeregte Leute fallen in erschreckendem Maße der Autosuggestion anheim und bilden sich fest und ehrlich ein, Dinge wahrgenommen, erlebt und getan zu haben, von denen auch nicht ein Teilchen wahr ist. Die Polizeibehörden wissen ein Lied zu singen von diesen falschen Aussagen, die so sensationell zugestutzt sind und selbstverständlich trotzdem näher untersucht werden müssen, wenngleich sie fast immer auf falsche Fährten locken und den Beamten schwere, unnötige Mühe machen. Was sind nicht z. B. in den verschiedenen, berühmten Prozessen, die sich an den unaufgeklärt gebliebenen, rätselhaften Konitzer Mord (11. März 1900) knüpften, für ganz unglaubliche Zeugenaussagen, die den Stempel der Unwahrheit und der Autosuggestion an der Stirn trugen, zutage gefördert worden — natürlich unter Zeugeneid! Die Opfer der Autosuggestion glauben so fest an die Wahrheit ihrer selbsterfundenen Märchen und Phantasien, dass sie ohne weiteres die haarsträubendsten Unwahrheiten beschwören.

Je mehr das Interesse und die Phantasie der Allgemeinheit durch ein erregendes Ereignis angestachelt wird, um so unzuverlässiger werden die Aussagen der Augenzeugen. In dem berüchtigten Prozess des Xantener Knabenmordes (29. Juni 1891) musste der Untersuchungsrichter schließlich resigniert erklären: „Mit jedem Verhör wissen die Zeugen mehr und Ausführlicheres zu berichten.“ Die größere Ausführlichkeit kam natürlich ausschließlich auf Rechnung der Autosuggestion und der Phantasie.

Es tritt nun aber in solchen Sensationsprozessen und in den Aussagen erregter und ungebildeter Leute nur besonders krass zutage, was nahezu in jeder, auch der harmlosesten Zeugenaussage als wahrheittötendes Element schlummert. Noch vor wenigen Jahrzehnten oder gar Jahren sah man in jeder Aussage, die ein Zeuge vor Gericht unter seinem Eide abgab, einen rocher de bronce, an dem nichts zu drehen und zu deuteln war. Auf Aussagen von Augenzeugen beruhen ja auch die weitaus meisten und wichtigsten Tatsachen, welche von Mystikern und Spiritisten als Beweise für ihre Behauptungen und Lehren angeführt werden. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte Perty („Der jetzige Spiritualismus“) den Hauptgrund für die Glaubwürdigkeit und Realität der Spiritualistischen Phänomene ausdrücklich in der Zuverlässigkeit der normalen Aussage suchen: „Das Zeugnis der Sinne gesunder Menschen wird bei den feierlichen Gerichtsverhandlungen aller Völker als gültig angenommen und muss es auch bei den spirituellen Manifestationen.“

Die moderne psychologische Forschung hat aber unter Führung von Dr. William Stern in Breslau und Prof. Franz v. Liszt in Berlin seit wenigen Jahren mit wissenschaftlicher Gründlichkeit systematisch die „Psychologie der Aussage“ durchforscht und dabei geradezu schreckenerregende Resultate ans Licht gefördert, die die ganze Kriminalistik von Grund aus zu revolutionieren drohen. Auch der ärgste Skeptiker und Pessimist hätte es früher nicht für möglich gehalten, dass Suggestion und Autosuggestion in Wahrnehmung, Auffassung und Erinnerung eine so ungeheure Bedeutung haben könnten, als jetzt experimentell festgestellt ist. Es wirkt geradezu deprimierend, wenn man die Statistiken liest, inwieweit die Aussagen über die allereinfachsten Erlebnisse von der Wahrheit abweichen, selbst wenn hochgebildete Leute, die frei von jeder seelischen Erregung sind und die die Tragweite einer an Eidesstatt gegebenen Tatsachenbeschreibung in vollstem Umfange zu würdigen wissen, einen erlebten Vorgang aus dem Gedächtnis heraus schildern. Selbst unter den denkbar günstigsten Umständen sollen in einfachen Aussagen nach Stern bei jedem männlichen Zeugen durchschnittlich etwa 10 Prozent und bei jedem weiblichen etwa 20 Prozent der Aussagen Falscheide sein. Wie rapide die unbewusste Entstellung der Tatsachen die Zahl der Falscheide anschwellen lassen wird, wenn es sich um ungebildete Leute und um komplizierte Vorgänge handelt, wenn seelische Erregung der Zeugen im Spiel ist, die in Prozessen ja doch kaum jemals völlig fehlen wird, wagt man kaum auszudenken. Eine zahlenmäßige Feststellung über die Bedeutung all dieser einzelnen Momente ist natürlich nicht möglich, aber schon ein Ansatz hierzu, den Professor von Liszt gemacht hat, ließ die Rolle, die in komplizierten Fällen von Zeugenaussagen die Suggestion zu spielen pflegt, so unheimlich große Dimensionen annehmen, dass die völlige Bankerotterklärung des gerichtlichen Zeugniswertes in beängstigende Nähe rückt.

Liszt stellte nämlich am 4. Dezember 1901 in seinem kriminalistischen Seminar, an dem ausschließlich Referendare und studierende, höhere Semester der juristischen Fakultät teilnahmen, folgenden Versuch an. Es spielte sich die nachstehend beschriebene Szene ab, die ohne jedes Vorwissen der übrigen Anwesenden zwischen den drei beteiligten Personen bis in die kleinsten Details hinein genau vorbereitet war, so dass jedes Wort, das dabei gesprochen wurde, vorher festgestellt war.

Man diskutierte über ein Werk von Tarde.

Geh. Rat v. Liszt: Will noch jemand etwas zur Sache bemerken, bevor ich dem Referenten das Schlusswort erteile?

Dr. K. erhebt sich.

V. Liszt: Kollege K. hat das Wort.

K.: Ich möchte Tardes Lehre noch kurz vom Standpunkte der christlichen Moralphilosophie aus betrachten.

Leh. (einfallend, laut): Das fehlte noch grade!

K.: Seien Sie gefälligst ruhig, wenn Sie nicht gefragt sind.

Leh. (aufstehend): Das ist eine Unverschämtheit!

K.: Wenn Sie noch ein Wort sagen, dann ... (Er tritt auf Leh. mit geballter, emporgehobener Faust zu.)

Leh.: Hand weg, oder . . . (Er zieht einen Revolver und hält ihn mit der Mündung auf K.'s Stirn.)

V. Liszt schlägt ihn auf den erhobenen Arm. Der Revolver senkt sich bis zur Höhe der Brust K.'s. Als er in der Herzgegend K.'s sich befindet, knackt er.

Dies das Vorkommnis. Es lag hier der wohl noch nie dagewesene Fall vor, dass alle Einzelheiten eines fingierten, schweren Verbrechens noch vor dem Geschehnis haarklein protokollarisch fixiert waren, so dass man die nachträglichen Aussagen der Augenzeugen, die keine Ahnung davon hatten, dass der ganze aufregende Zwischenfall verabredet war, auf ihre Zuverlässigkeit hin prüfen konnte. Und da zeigte es sich denn, dass diese Zeugenaussagen, die in jedem Prozess, in jedem Ernstfall nahezu die einzige, jedenfalls die wichtigste Stütze zur Ergründung des Tatbestandes bilden sollen, in der bedenklichsten Weise im Stich ließen und voneinander abwichen. Insgesamt enthält der geschilderte Vorfall 14 einzelne Ereignisse oder Äußerungen, die eines Berichtes oder einer Erwähnung bedurft hätten, wobei natürlich nur der Sinn der einzelnen Aussprüche, nicht der genaue Wortlaut von den Zeugen angegeben werden sollte. Die Aussagen der 15 Anwesenden wurden in einem Zeitraum von 1 — 5 Wochen nach dem Vorfall schriftlich oder mündlich fixiert, wobei die Fiktion bestand, dass sie an Eidesstatt abgegeben wurden, also „nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit sagen, nichts verschweigen und nichts hinzusetzen“ sollten. Es handelte sich ausnahmslos um die Aussage von Juristen, die die hohe Bedeutung einer solchen Aussage im vollsten Maße zu würdigen wussten (im Gegensatz zu den meisten Zeugen der alltäglichen Prozesse), die obendrein ihre Angaben vor der Niederschrift bzw. der Aussage Wort für Wort genau zu überlegen und immer wieder nachzuprüfen vermochten und die schließlich um so mehr bestrebt sein mussten, nur völlig genaue und zutreffende Aussagen zu machen, weil sie wussten, dass die wirklichen Vorgänge protokollarisch fixiert waren und somit eine Prüfung ihrer persönlichen Glaubwürdigkeit möglich und beabsichtigt war. Und trotzdem: was war das Ergebnis?

Die genaueste, beste Aussage, die sonderbarerweise erst fünf Wochen nach dem Ereignis abgegeben wurde, hatte bei der Wiedergabe der 14 einzelnen Ereignisse, die den Tatbestand bildeten, 4 falsch oder im gröberen Maße ungenau oder auch gar nicht erwähnt. Die übrigen 14 Aussagen enthielten noch mehr Fehlerzahlen, die bis zu 12 Punkten (unter 14 Ereignissen!) anstiegen. Z. B. wurde die Äußerung K.'s: „Seien Sie ruhig, wenn Sie nicht gefragt sind“, von der Mehrzahl der Zeugen in erheblich schärferer und beleidigenderer Fassung wiedergegeben: „Halten Sie den Mund und warten Sie, bis Sie gefragt sind“ oder „Sie haben hier überhaupt nichts zu sagen“ oder gar „Ich verbitte mir Ihre dummen Bemerkungen“. Ein Zeuge behauptete sogar, ein ganz andrer Teilnehmer als der schuldige Leh. sei es gewesen, der geäußert habe:,. Das wäre ja noch besser“ (statt: „Das fehlte noch gerade“). Ein Korpsstudent behauptete gehört zu haben: „Wenn Sie das Wort nicht auf der Stelle revozieren . . .“, ein andrer Korpsstudent hatte sogar wahrgenommen, dass K. den Leh. gebeten hatte, mit ihm hinauszukommen (zum Kartenwechsel)! Damit ist bewiesen, dass die Zeugen Andern gern diejenigen Äußerungen und Handlungen unterschieben, mit denen sie selbst in gleicher Lage voraussichtlich geantwortet haben würden. Ein Zeuge hatte Prof. v. Liszt „erstaunt“ zurücktreten sehen, andere hatten den Knall des Schusses gehört, wieder andere dafür von der Schießwaffe überhaupt nichts wahrgegenommen usw.

Kurzum, das Ergebnis des Lisztschen Experimentes war ein totales Fiasko der Zeugenaussage! Zwar der Vorgang war kompliziert, kam den Zuschauern überraschend und setzte sie in starke Erregung; aber dies ist doch bei den meisten schweren Verbrechen der Fall, und hier handelte es sich obendrein um hochgebildete, juristisch geschulte Zeugen, und alle Aussagen konnten gründlichst überlegt und überdacht werden. So lagen die Bedingungen für die Zuverlässigkeit der Aussagen abnorm günstig — und dennoch ein so erschreckendes Ergebnis! Was mag da erst im gewöhnlichen Leben von andren Zeugen an Falscheiden vor Gericht geleistet werden!

Stern erweiterte die Beobachtungen Liszts, indem er Zeugenaussagen über harmlose, alltägliche Vorkommnisse sammelte, die er in seinem psychologischen Seminar selbst veranlasste, die von den Teilnehmern kaum beachtet worden und über die er dann plötzlich acht Tage später einen detaillierten Bericht einforderte. Der genau vorbereitete Versuch bestand lediglich darin, dass ein Herr plötzlich ins Zimmer trat, mit einigen genau vorher festgelegten Redensarten Stern ein Manuskript überreichte, ein Buch aus dem Schranke nahm und damit wieder verschwand. Aus den Zeugenaussagen ging hervor, dass die Teilnahmslosigkeit und Unaufmerksamkeit der Anwesenden für den an sich ganz bedeutungslosen Vorgang die Menge der Details in den Aussagen zwar nicht beeinflusste, wohl aber die Richtigkeit der Angaben, auch der an Eides Statt abgegebenen. Stern hat festgestellt, dass es vollkommen ausgeschlossen war, an der Hand seiner 15 Zeugenaussagen, die sich vielfach stark widersprachen, ein halbwegs klares Bild von dem wahren Sachverhalt zu gewinnen.

Die Lisztschen und Sternschen Experimente sind vollauf geeignet, einen durchaus neuen Zeitraum der Kriminalistik heraufzuführen: man wird fortan weit größere Zweifel in die Aussagen der Zeugen setzen, wird der Möglichkeit eines Irrtums und der Bedeutung der Suggestion und Autosuggestion in viel höherem Grade Rechnung tragen müssen als bisher!

Schon heut sind zahllose Zeugen, wie jeder Richter weiß, auch ohne böse Absicht vollkommen unglaubwürdig. Tagtäglich könnten, wenn die Staatsanwälte wollten, und nicht ohnehin sich davor scheuten, viele Hunderte von Anklagen wegen fahrlässigen Meineids erhoben werden. Der Fernerstehende macht sich keinen Begriff, was für faustdicke Unglaublichkeiten und handgreifliche Unmöglichkeiten von vielen Zeugen vor Gericht, ohne mit der Wimper zu zucken, beschworen werden! Ich selbst hörte als Schöffe eine Berliner Zeugin unter ihrem Eid aussagen, sie habe den polnischen Angeklagten, der kaum ein Wort deutsch verstand, zu seiner gleichfalls polnischen und des Deutschen unkundigen Ehefrau auf deutsch äußern hören: „Wenn der Kerl heut Abend nach Haus kommt, hau' ich ihm den Schädel ein!“ Auch diese klassische Zeugin war ein Opfer der Autosuggestion, die ihre Erinnerung in unvernünftiger Weise fälschte.

Ist es nur ein einzelner Zeuge, der eine solche, die Wahrheit auf den Kopf stellende Aussage macht, so pflegt die Sache ja meist noch nicht bedenklich zu sein, wenngleich auch in solchen Fällen oft genug Verurteilungen vorgekommen sind und noch vorkommen. Dass in früheren Zeiten zweifellos viele Justizmorde vorgekommen sind, ist bekannt — unsre Zeit aber glaubte man im wesentlichen frei davon. Seitdem jedoch das Thema „Psychologie der Aussage“ angeschnitten ist, dämmert langsam die furchtbare Erkenntnis auf. Die Zahl der Justizmorde und der Verurteilung Unschuldiger ist sicherlich auch in unsern Tagen noch eine außerordentlich große! Zumal wenn mehrere Zeugen der gleichen Autosuggestion zum Opfer fallen, muss der Richter sich ja notwendigerweise ein schiefes Bild von den Tatsachen machen und demgemäss ein ungerechtes Urteil fällen, in schweren Fällen gar einen Justizmord begehen.

Auch für diese Massensuggestion der Zeugenaussagen sei ein glücklicherweise harmloses Beispiel aus meinen persönlichen Erfahrungen erzählt. Unser Hund, der meine Mutter auf einem Spaziergang begleitete, hatte, obwohl er einen vorschriftsmäßigen Maulkorb trug, einen Jungen, der ihn neckte, durch den Korb hindurch in die Hand gebissen und leicht verletzt. Meine Mutter untersuchte daher sogleich den Maulkorb auf seinen richtigen Sitz, und nun erzählten nicht weniger als drei Zeugen aus dem Publikum dem herbeigekommenen Schutzmann, sie hätten deutlich gesehen, dass der Hund vorher keinen Maulkorb trug und dass ihm der Maulkorb erst nach dem Beißen angelegt worden sei. Zweifellos hätten sie vor Gericht diese falsche Angabe auch beschworen, und auf Grund ihrer Autosuggestion hätte notwendig eine Verurteilung erfolgen müssen. Glücklicherweise war der Vorfall allzu unbedeutend, als dass er noch irgend ein andres Nachspiel als ein niedriges Strafmandat gehabt hätte. Aber in wie zahlreichen Fällen werden die Folgen ähnlicher, alltäglicher Vorkommnisse für den unschuldigen Angeklagten ungleich ernster sein! —


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft