Suggerierte Anschauungen (Illusionen und Halluzinationen)

Hamlet: Seht Ihr die Wolke dort, beinah' in Gestalt eines Kamels?

Polonius: Beim Himmel, sie sieht auch wirklich aus wie ein Kamel.


Hamlet: Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel.

Polonius: Sie hat einen Rücken wie ein Wiesel.

Hamlet: Oder wie ein Walfisch?

Polonius: Ganz wie ein Walfisch.

Diese berühmte Szene aus „Hamlet“ kann als kennzeichnendes Beispiel für die Wirkung der Suggestion auf die Auffassung einer Sinneswahrnehmung angeführt werden. Dass die Aussagen des Polonius durch Bedientenhaftigkeit und Speichelleckerei gegenüber dem Prinzen getrübt werden und vielleicht nicht seine wirkliche Auffassung des Sinneseindrucks wiedergeben, ist natürlich eine Sache für sich — aber wer wollte leugnen, dass bei etwas gutem Willen unsre Phantasie tatsächlich die unmöglichsten Ähnlichkeiten aus Wolkenformen herauszufinden vermag, die man von ihr verlangt! Es ist ein allgemeingültiges psychologisches Gesetz, dass man ungewohnte Gestalten und Formen in alltäglich gewohnte aufzulösen, Unbekanntes in Bekanntes zu übersetzen pflegt. Es gehört sehr wenig Phantasie dazu, im Vollmond ein menschliches Gesicht, den „Mann im Monde“ zu erkennen, oder aus unregelmäßigen Wolkenformen oder den gestaltlosen Bleigüssen der Sylvesterfeier allerhand menschliche und tierische Gestalten und Gebrauchsgegenstände verschiedenster Art oder Schiffe und andre Fahrzeuge usw. herauszuerkennen. Mit geringer Anstrengung vermag eine einigermaßen regsame Phantasie dann auch Ähnlichkeiten mannigfachster Art herauszuerkennen, auf die sie eine Anregung von außen oder innen hinweist, wenn auch ein nüchterner, kritischer Vergleich nicht die geringsten Beziehungen zu entdecken vermag. Allgemein ist das Bestreben, unbekannte Formen zu charakterisieren und zu personifizieren, und namentlich die kindliche Phantasie leistet darin Erstaunliches. Viele Kinder und oftmals auch Erwachsene legen selbst Zahlen und Buchstaben auf Grund irgend welcher Eigentümlichkeiten der Form Charakter und Gesichtsausdruck bei; ja, solch rasches, oft verblüffendes Auffinden von Ähnlichkeiten zeugt von dichterischer Phantasie und poetischer Gestaltungs- und Erfindungskraft, bietet auch dem Gedächtnis manche willkommene und wertvolle Stütze.

Das allgemeine Gesetz der Illusion, Unbekanntes in Bekanntes zu übersetzen, äußert sich in den vorgenannten Fällen bewusst: der Beobachter kennt die Rolle, die seine Phantasie bei der Auffassung spielt. Weit häufiger und im praktischen Leben ungleich bedeutungsvoller ist dagegen die unbewusste Illusion, die an die Realität der oberflächlich vorhandenen oder frei erfundenen Ähnlichkeiten glaubt oder ihnen gar eine geheimnisvolle, mystische Bedeutung zumisst — nach Art der Wahrsagerinnen, die aus Kaffeegrund oder aus Eidotter menschliche Gestalten herauserkennen und Bräutigams für mannstolle Dienstmädchen beschreiben. In wie starker Weise aber selbst gebildete, intelligente Leute bei einiger Voreingenommenheit dem machtvollen Gesetz der Illusion unterliegen können, dafür diene als Beispiel folgender Fall:

Alfred Lehmann beschäftigte sich gelegentlich seiner ausgezeichneten Untersuchungen über spiritistische Phänomene auch mit dem Schreiben auf verschlossenen Schiefertafeln und mit Gedankenlesen. Er beherrschte den bekannten Taschenspielertrick, selber dabei unter dem Tisch auf den Tafeln zu schreiben, sehr geschickt und berichtet nun über ein Erlebnis dabei: „In einer Sitzung wollte ich das obenerwähnte Experiment, den Wortlaut einer bestimmten Zeile in einem mir unbekannten (dänischen) Buch auf die Tafel zu schreiben, ausführen. Die Teilnehmer hatten sich diese Zeile gemerkt. Auf der Tafel erschienen die Worte: „Das ist wohl das Maximum (dänisch: „Det er vel Maximum“) indes so undeutlich, dass keiner der Anwesenden es lesen konnte, selbst ich nicht, der ich es geschrieben hatte. Die Tafel wurde umgedreht, und als die Schrift auf dem Kopfe stand, rief einer der Anwesenden aus: „Das ist ja richtig, wenigstens das erste Wort! es steht ja da: ,Untersuchung‘ (dänisch: ,Undersögelse‘) und damit fängt die Zeile ja gerade an“. — Mit so phantasiebegabtem Publikum hat jeder Zauberkünstler natürlich ein leichtes Arbeiten: nicht er vollbringt die wunderbarsten Kunststücke, sondern die Einbildung der Teilnehmer — die Autosuggestion!

Wer zur Nachtzeit durch den Wald geht und nur ein wenig Angst, sei es vor Räubern, sei es vor Gespenstern, oder aber auch ein wenig poetisches Gefühl hat, der wird es wissen, in wie überraschend deutlicher Weise die schattenhaften Umrisse von Bäumen und Sträuchern überall menschenähnliche Formen annehmen, wie hinter jedem Stamm und auf jedem Ast ein Räuber, ein Kobold, ein Gespenst oder auch eine Elfe (je nach der Stimmung des Beschauers) zu lauern scheint, wie im Nebelkleid die Eiche zum aufgetürmten Riesen wird und die Nacht tausend Ungeheuer schafft. Nirgends offenbart sich wohl die Personifizierungskraft der Phantasie lebhafter und großartiger als im nächtlichen Walde, und selbst dem nüchternsten und ruhigsten Beobachter wird dort manchmal sonderbar märchenhaft ums Herz — etwa im ,,Gespensterwald“ von Heiligendamm, wenn ein fahler Mondschimmer oder Dämmerschein die wunderlich verschnörkelten, alten Buchenstämme zu geisterhaftem Leben erweckt.

Millionen von Berichten über angeblich ganz deutliche Wahrnehmungen von Schreckgestalten, Geistern und Gespenstern sind auf diese Weise durch Suggestion entstanden, und es ist kein Zufall, dass solche Spukerscheinungen an Orten, die Gedanken und Phantasie besonders lebhaft anregen — auf nächtlichen Kirchhöfen, in verfallenen Türmen, in einsamen Schlössern und Ruinen — ausnehmend häufig gesehen werden. Wir werden auf diese Erscheinungen im Kapitel über „Gespenster“ noch näher eingehen.

Zumal wenn die Wahrnehmung eines unbekannten und nur in den Umrissen flüchtig erschauten Gegenstandes nur einen Moment dauert, gibt zuweilen das genannte Gesetz der Illusion, jeden Eindruck zu personifizieren, zu den tollsten Phantasiesprüngen der Autosuggestion Anlass, insbesondere dann, wenn die momentane Wahrnehmung mit einem heftigen Schreck verbunden auftritt. Aus der Fülle von Beispielen dieser Art sei das folgende herausgegriffen, das von Horst („Deuteroskopie“, Frankfurt a. M., 1830) mitgeteilt wird (II, 242):

Eine Dame aus der Lindheimer Gegend ritt an hellem Tage einen ebenen Weg entlang, den ihr sehr gehorsames und sanftes Pferd schon unzählig oft zurückgelegt hatte. Plötzlich stutzt das Tier und will nicht weiter. „Auf einmal tut es schnaubend einen Sprung zur Seite, offenbar, nur um nicht auf dem gewöhnlichen Wege fortgehen zu müssen, und ist dann alsobald, wie sonst immer, wieder ruhig und folgsam. Jetzt sieht sich die Dame nach dem gewöhnlichen Wege noch einmal um und sieht mitten darauf starr und bewegungslos einen langen hageren Mann in einem weißen Kittel stehen Sie blickt einen Augenblick darauf noch einmal zurück, und — nun ist nichts mehr von der wunderbaren Gestalt zu sehen.“

Diese alltägliche und nichts weniger als übernatürliche Geschichte ist bezeichnend für die Macht der Illusion im Moment des Schreckens. Mag es nun ein heller Stein oder eine Wolke oder was immer sonst gewesen sein, das der Dame die gespenstische Erscheinung eines Mannes in weißem Kittel vorgaukelte, als sie, voll Schreck über das ungewohnt störrische Wesen ihres Pferdes, sich einen Moment umsah — in jedem Fall ist die Horst'sche Erzählung nur ein Seitenstück zu zahllosen andren ähnlichen Wahrnehmungen, die, oft am hellen Tage, noch weit häufiger natürlich in der umrissverwaschenden Dämmerung und Dunkelheit, wohl jedem schon zu wiederholten Malen begegnet sind. Wer etwa im Dämmerschein durch ein ungewohntes Geräusch erschreckt, aus dem Schlaf emporfährt, der sieht leicht im Bettzipfel, im Kleiderständer, im Ofen, in der Fensterluke eine unheimliche, unbekannte menschliche Gestalt. Verständige Menschen überzeugen sich dann von der Ursache ihrer Sinnestäuschung; die andren, die nicht alle werden, schwören Stein und Bein darauf, dass sie ein Gespenst gesehen haben. Sollte man es wohl glauben, dass ein Fall, wie der eben mitgeteilte von der Lindheimer Dame, als ganz besonders eklatanter Fall für das wirkliche Vorkommen echter Gespenster angeführt wird? dass er selbst dem sonst verhältnismäßig gut kritisch veranlagten und verständigen Horst als unbegreifliches Wunder erscheint, als „anderes Gesicht“ und unzweifelhafte Gespenstererscheinung? So basieren gar manchmal spiritistische und mystische Paradeberichte auf einfachen Illusionen, die durch Suggestion erzeugt wurden!

Den Illusionen gegenüber stellen die Halluzinationen nur eine Art gradueller Steigerung dar. Man hat zu unterscheiden zwischen Illusionen, Visionen und Halluzinationen. Die ersteren erwecken in uns nur eine falsche Auffassung von etwas wirklich Vorhandenem, die beiden letzteren erzeugen Wahrnehmungen, die an gar kein tatsächliches Objekt anknüpfen; wobei die Vision nur eine spezielle Art der Halluzinationen darstellt, nämlich die Halluzination mit religiösem Hintergrunde. In vortrefflicher, witziger Weise pflegt der Berliner Universitätsprofessor Dr. Mendel seinen Studenten den charakteristischen Unterschied zwischen jenen drei Arten der Sinnestäuschung einzuprägen: „Meine Herren, wenn ich urplötzlich, ohne jede äußere Veranlassung einen Engel zu sehen glaube, so ist das eine Halluzination; wenn ich mich sehr viel mit religiösen Dingen befasst habe und meine erregte Phantasie dann einen Engel wahrzunehmen glaubt, so ist das eine Vision; wenn ich aber plötzlich Sie, meine Herren, für Engel halten wollte, so wäre das eine Illusion!“

Wie nun Illusionen hervorgerufen werden können durch Suggestionen aller Art, gleichviel ob diese durch Worte und Gebärden, durch Sinneseindrücke oder Erinnerungen oder auch alte Märchen und Sagen ausgelöst werden, so können durch Suggestion auch Halluzinationen, und zwar Halluzinationen sämtlicher Sinnesorgane ausgelöst werden. Der Hypnotisierte sieht, fühlt, hört, riecht und schmeckt halluzinierend alles, was der Hypnotiseur ihm befiehlt — ebenso kann unter günstigen Vorbedingungen die Suggestion auch den wachen, kritisch veranlagten Geist zu beliebigen Halluzinationen verführen.

Einem Kapellmeister konnten die Hörner seines Orchesters auf einer Probe einen Einsatz nicht leise genug blasen. Immer und immer wurde die betreffende Stelle der Partitur wiederholt, ohne dass der Dirigent zufrieden war, bis schließlich die geärgerten Hornisten sich verabredeten, bei der nächsten Wiederholung überhaupt nicht zu blasen. Sie befolgten auch ihre Verabredung, und nun erklärte sich der Kapellmeister für befriedigt und sagte, so leise sollten sie den Einsatz nur immer blasen: er hatte den Hornklang, auf den seine Aufmerksamkeit sich richtete, halluzinatorisch wahrgenommen.

Wie außerordentlich leicht in jedem Menschen Halluzinationen des Geruchs oder Geschmacks hervorgerufen werden können, wenn nur geschickt der Glaube in ihm erweckt wird, er müsse etwas riechen oder schmecken, ist wohl allgemein bekannt.

In früheren Zeiten kam es zuweilen vor, dass Ärzte, die einem Patienten zur Ader lassen wollten, das Blut schon hervorspritzen sahen, bevor sie noch einen Einschnitt gemacht hatten — auch hier dürfte es sich um Halluzinationen gehandelt haben (oder aber um suggestiv erzeugte Blutungen?).

Bei unzähligen alten „Teufelsaustreibungen“ aus Besessenen sahen die Zuschauer den bösen Geist in Teufelsgestalt oder in Gestalt eines Tieres, meist einer Maus, aus dem Besessenen herausfahren, zumeist aus dem Munde. Unsre moderne, bessere wissenschaftliche Erkenntnis lehrt uns, dass es sich in allen diesen Fällen ausnahmslos um Halluzinationen und zwar um Massenhalluzinationen, gehandelt haben muss.

Ähnliches wird unter vielen andern Völkern, z. B. auch von den Ostjaken in Sibirien, berichtet: „Der Schamane, der Zauberpriester, sieht regelmäßig in seinem exaltierten Zustande Geister in Menschen- oder Tiergestalt. Die Anwesenden aber, welche meinen, dass der Schamane von diesen Geistern besessen ist, bemerken oft einen blauen Rauch, der von ihm aufsteigt; dies wird für ein Zeichen gehalten, dass die Geister ihn verlassen.“ (Lehmann, a. a. O., S. 471). Bei Stoll sind viele ähnliche Erzählungen über suggerierte Wahrnehmungen ganzer Massen von Menschen nachzulesen.

Bei den überaus wunderbaren Kunststücken der indischen Fakire, deren Erklärung noch durchaus nicht sicher festgestellt ist, müssen gleichfalls gelegentlich auf suggestivem, bisher jedoch nicht bekanntem Wege gleichzeitige Massenhalluzinationen von den Taschenspielern hervorgerufen werden; anders lassen sich die zum Teil äußerst sonderbaren Berichte auch der europäischen Zuschauer über das, was sie in solchen Vorführungen gesehen haben, kaum erklären.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft