Der Hexenglaube und die Suggestionsseuchen

Des schaurigste Kapitel der Kulturgeschichte weiß zu berichten, dass viele Millionen Menschen den Autosuggestionen Andrer zum Opfer gefallen sind: die Geschichte des mittelalterlichen Ketzer- und Hexenwahns. Von jeher verfolgte die Masse des Pöbels missliebige Bestrebungen, Rassen und Sekten mit Verleumdung und Hass so lange, bis durch die spontan entstehende Suggestion den Verfolgten die scheußlichsten Laster und Verbrechen zugeschrieben und alle darüber zirkulierenden Gerüchte willig geglaubt wurden. So verfuhr man im Rom der Kaiserzeit gegen die Christen, denen man mit völliger Überzeugung Verspottung des Heiligen, anarchistische Bestrebungen, Blutmorde und Menschenopfer, widerlichste Unzucht, Anthropophagie, Anbeten eines Eselskopfes und viele andre Scheußlichkeiten vorwarf. Die Christen des Mittelalters erhoben wieder ähnliche törichte Beschuldigungen gegen die Katharer, die Waldenser, Albigenser, Wiedertäufer und gegen die Juden, über die selbst in unsern Tagen noch die unsinnigsten Gerüchte (Blutmorde usw.) verbreitet und von unwissenden oder verblendeten Leuten willig geglaubt werden. In gleicher Weise verleumden natürlich wieder die Stockchinesen die unter ihnen weilenden Christen und Europäer, die weißen Amerikaner die Neger usw.

Nie aber nahm eine derartige Bewegung auch nur annähernd wieder eine solche Bedeutung und einen so riesigen Umfang an, wie der fürchterliche Ketzer- und Hexenwahn des Mittelalters. Viele Millionen Menschen schlachtete man unter grausamen Qualen diesem Wahn zum Opfer — mehr Menschen, als alle die wahrlich nicht seltenen europäischen Kriege in der gleichen Zeit dahingerafft haben! Das fürchterlichste Blatt aus dem Kapitel menschlicher. Verblendung und schwärzesten Aberglaubens tut sich vor unseren Blicken auf, wenn wir die Geschichte der Hexenprozesse in Europa betrachten, und wieder ist es die Allmacht der Suggestion, durch die die Ehre und Würde der Kulturmenschheit mit diesem schlimmsten Schandfleck beschmutzt worden ist. Jahrhunderte hindurch feierte sie damals ihre schauerlichsten Orgien; eine Epidemie des Verfolgungswahnsinns zog wie ein Pesthauch durch alle Länder des christlichen Europa und verwüstete und mordete die Körper und die Geister. Das Entstehen und Vergehen dieser größten, je dagewesenen Suggestionsseuche ist interessant genug, dass wir dem Hexenwahn auch an dieser Stelle noch eine etwas nähere Betrachtung widmen wollen.


Die ältere christliche Kirche verhielt sich zu dem Gedanken, dass Menschen hexen und zaubern könnten, strikt ablehnend, und die Synode von Paderborn stellte im Jahre 785 sogar den Satz auf: „Derjenige, welcher, durch den Teufel verblendet, nach Art der Heiden glaubt, dass jemand eine Hexe sein kann, und deshalb dieselbe verbrennt, wird mit dem Tode bestraft.“ Durch den Ancyranischen Kanon Episcopi (um 900) wurde allgemein der Glaube an Hexerei mit Ausstoßung aus der kirchlichen Gemeinschaft bestraft. Wie kam es nun, dass die Kirche selbst sich später auf den genau entgegengesetzten Standpunkt stellte, nunmehr die eifrigste Vorkämpferin und Verteidigerin des Hexenglaubens wurde und jeden Zweifel an dessen Möglichkeit mit dem Tode bestrafte? Alfred Lehmann, dem die meisten dieser Angaben entnommen sind, weist mit Recht darauf hin, dass die Berührung mit der Magie des Morgenlandes den Umschwung herbeigeführt haben mag. Thomas von Aquino spricht sich jedenfalls zuerst deutlich für die Möglichkeit der Hexerei und Zauberei aus, und dass er nur die gewandelten Anschauungen seiner Zeitgenossen wiedergab, beweist der Umstand, dass im Todesjahr des Thomas, 1264, im Languedoc der erste Hexenprozess stattfand. In Deutschland gab es erst 1448 den ersten Hexenprozess. Als aber die Kurie in der berüchtigten Bulle Innocenz' VIII. „Summis desiderantes“ vom 4. Dezember 1484 das Vorgehen gegen die Hexen sanktionierte und anbefahl und dann im Jahre 1487 die Hexen- und Ketzerrichter Sprenger und Gremper ihr unheilvolles Werk „Malleus maleficarum“ („Hexenhammer“) veröffentlichten, wütete die geistige Seuche mit furchtbarer Gewalt in allen Teilen Mittel- und Südeuropas Jahrhunderte hindurch, bis weit in die aufgeklärte Neuzeit hinein. Der letzte Hexenprozess fand auf österreichischem Boden erst 1740, auf deutschem (Würzburg) 1749 statt. In Mexiko wurde sogar noch 1874, in Spanien 1828 ein Zauberer verbrannt.

Anklage wegen Hexerei, Verurteilung und Verbrennung waren schließlich eins. Anklagen konnten von Jedermann erhoben werden, und die ins riesenhafte wachsende Furcht vor Hexerei trug natürlich das ihrige dazu bei, hysterische Personen in den Glauben zu bringen, dass sie oder ihre Angehörigen, ihr Vieh usw. von irgendwem behext worden seien. Jede Anklage zog die Gefangensetzung und das peinliche Verhör des angeschuldigten Weibes — Männer wurden nur selten beschuldigt — nach sich; die Qualen der Folter erpressten alsbald die wahnsinnigsten Aussagen und Selbstbeschuldigungen, da die Folter so lange fortgesetzt und gesteigert zu werden pflegte, bis ein Geständnis erfolgte, das dann natürlich, da Niemand auch nur auf den Gedanken kam, an seiner Zuverlässigkeit zu zweifeln, das Todesurteil nach sich zog. Aber auch in den seltenen Fällen, wo den Gemarterten selbst durch die fürchterlichsten Folterqualen ein Geständnis nicht zu entlocken war, erfolgte anstandslos die Verurteilung und Hinrichtung der Beschuldigten, denn man sagte sich: solche Schmerzen könne nur eine Hexe erdulden, der der Teufel beistehe! Eine so bornierte Rechtsprechung ist eben nur dadurch zu erklären, dass die wahnsinnige Furcht vor der Macht der Hexen jede Regung der gesunden Vernunft schon im Keime erstickte. Selbst die bestimmten Aussagen von Ehemännern, dass ihre als Hexen beschuldigten Gattinnen während der kritischen Nacht dauernd an ihrer Seite gelegen hätten, galten nicht als beweiskräftig: man behauptete, eine Truggestalt, ein Gespenst habe im Bette gelegen, und die Hexe sei dennoch auf dem Sabbat gewesen! Vermochten doch selbst die augenscheinlichsten Beweise, dass eine bestimmte Beschuldigung unzutreffend sein musste, die Angeklagten nicht vom Tode zu erretten; die Suggestion des Hexenglaubens war stärker als die sonnenklarsten Unschuldsbeweise!

So wurden in Lindheim sechs Weiber beschuldigt, dass sie auf dem Kirchhofe die Leiche eines neugeborenen Kindes ausgegraben hätten, um sie zu Hexenbrei zu zerkochen und zu ihren Hexensalben zu gebrauchen. Sie wurden gefänglich eingezogen, schwerer Tortur unterworfen und gestanden infolgedessen alsbald die Tat ein. Der Mann des einen Weibes setzte es jedoch durch, dass das Grab jenes Kindes im Beisein aller Behörden geöffnet wurde. Man fand die Kindesleiche unberührt im Sarge. Trotzdem behauptete der Inquisitor Geiß, der den Prozess führte, die unberührte Leiche könne nur eine Sinnesblendung sein, die der Teufel, um seine Schützlinge zu retten, den Augenzeugen vorgaukle; die Weiber hätten ja ihr Verbrechen zugegeben, und diesem Geständnis sei mehr Wert beizulegen als dem Augenschein. Seine Ansicht drang durch, und die sechs Weiber wurden „zur Ehre des dreieinigen Gottes“ sämtlich verbrannt.

Der Hexenverfolgungswahn führte gar nicht selten zu Urteilen und Handlungen, die, wie im Lindheimer Fall, von Unzurechnungsfähigkeit und monomanem Irresein nicht mehr weit entfernt waren. Kein Wunder, dass auch die Wachträume, die Halluzinationen und Schreckbilder der Irren nicht ausblieben. Wessen die Hexen, im Bunde mit dem Bösen, fähig sein sollten, ist im allgemeinen bekannt, und es braucht an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen zu werden: das Heraufbeschwören von Unwettern, das Anhexen von Krankheiten an Mensch und Vieh, die nächtlichen Fliegefahrten zum Blocksberg, die wilden Orgien und Obszönitäten auf den Zusammenkünften der Hexen mit den Teufeln und Dämonen sind nur die charakteristischsten Beschuldigungen aus einem ganzen, umfangreichen Lehrsystem des Hexenwesens, das Suggestion und Autosuggestion im Laufe der Zeit errichteten und bis ins einzelne ausbauten. Alle die tollen, phantastischen Beschuldigungen, die die Furcht vor den Hexen oder der Hass der Kirche gegen die Ketzer und Abtrünnigen erfinden ließen, wurden durch die Geständnisse auf der Folter zu scheinbarer Wirklichkeit aufgebauscht, und die Fülle der Geständnisse und Hinrichtungen schürten wieder die Phantasie und erhitzten sie zu noch wilderen Sprüngen — ein grauenvoller circidus vitiosus, ein logischer Trugschluss, der mit Millionen von Menschenleben bezahlt werden musste!

In allen christlichen Ländern wütete der Hexenwahn gleichmäßig schwer, und überall wusste man sogar genau anzugeben, an welchen Orten und zu welchen Zeiten die Hexen ihre heimlichen Versammlungen und wüsten Teufelsorgien abzuhalten pflegten. In Deutschland bildet bekanntlich der Blocksberg, der Brocken im Harz, in Italien der sogenannte „Nußbaum“ von Benevent den Mittelpunkt des ganzen Hexenglaubens; ebenso nannte man in Dänemark teils den deutschen Brocken, teils den Hekla auf Island, in Schweden den Blaakulla auf Oeland und in Norwegen das Lyderhorn bei Bergen als diejenigen Berge, die „mit Geisterreihen kränzten ahnende Völker“. Weshalb grade diese Berge in den Ruf kamen, Hauptversammlungspunkte der Hexen zu sein, ist kaum zu sagen; jedenfalls knüpfte die Sage immer an die höchsten oder sonstwie bekanntesten Berge großer Ländergebiete an. Und die Walpurgisnacht, die Nacht zum 1. Mai, die von jeher in manchen Teilen des Harzes noch heut als die Nacht des allgemeinen Hexensabbats gefürchtet wird, hat ihren schlimmen Ruf durch altgermanische, mythologische Vorstellungen erhalten, die von der hassenden Kirche zu scheußlichen Karikaturen verzerrt und mit greulichen Verleumdungen ausstaffiert wurden: einst verlegten edlere religiöse Vorstellungen in jene Nacht den Ritt der Walküren zu Wotans Frühlingsfest; und aus dieser schönheitsatmenden Sage schuf blindwütender Hass jene hässlichen Hexenritte auf Ziegenböcken, Besen und Ofengabeln, und eine verdorbene Phantasie schwelgte darin, das einstige herrliche Frühlingsfest der Walpurgisnacht zu einer ekelhaften Orgie geschlechtlicher Unzucht und gemeinster Unanständigkeiten zu entweihen.

Freilich waren die Hexen zum Teil selbst daran schuld, dass so widerliche Vorstellungen im Volke allgemein festen Fuß fassen konnten; ja, eine nicht geringe Zahl war sogar zweifellos selbst davon überzeugt, dass sie persönlich eine Hexenversammlung mitgemacht hätten, dass sie durch die Luft geflogen und eines Teufels Buhlin gewesen wären. Denn die vielgenannte Hexensalbe, mit der sich die Hexen angeblich einreiben mussten, bevor sie ihren Ritt durch die Luft antraten, ist kein Gebilde der Phantasie; diese Hexensalbe wurde aus dem Bilsekraut hergestellt, und das dieser Pflanze eigene Narkotikum des Hyoscyamin erzeugte bei dem, der sich mit der Salbe beschmierte, einen angenehmen narkotischen Rausch, wie das Morphium und das Opium, indem die Atmung erleichtert (Empfindung des Fliegens) und stark erotische Träume (Orgien) hervorgerufen wurden. Erwachte dann die Hexe aus ihrem tiefen Schlaf, so vermochte sie Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinander zu halten und bildete sich ein, alles das, was sie geträumt hatte, wirklich erlebt zu haben.

So kam eines zum andern, um die Menschheit in den Wahn des Hexenglaubens immer tiefer versinken zu lassen. Dass in ungezählten Fällen sich Leute fanden, die Stein und Bein darauf schworen, sie hätten mit eigenen Augen ein bestimmtes weibliches Wesen auf einem Besen durch den Schornstein fliegen und durch die Luft davon reiten sehen, kann nach dem früher Gesagten nicht mehr wundernehmen. Natürlich genügte eine solche Aussage, um die genannte Person zu verhaften, zu foltern, zu verbrennen. Ja, im Jahre 1621 konnte die bloße Behauptung der Schultheißentochter Osanna in Meiningen, dass elf Weiber des Ortes sie unaufhörlich in nur ihr sichtbarer Weise quälten und plagten, als ausreichend erachtet werden, um die genannten elf Frauenspersonen der Hexerei für überführt zu halten und zu verbrennen. Aber nicht nur Unvernunft und Furcht, sondern oft genug auch persönlicher Hass ließen irgendwelche Mitmenschen als Hexen und Zauberer verdächtigen und der Vernichtung anheimfallen.

Ja, es war Tollhausluft, die Europa durchwehte! Die Hexenseuche hat im Laufe der Jahrhunderte ungefähr 11 Millionen Menschen dahingerafft, und dass es der menschlichen Vernunft schließlich doch gelungen ist, sich aus diesem unergründlichen Sumpf von Aberglauben und Borniertheit zu befreien, ist eines der schönsten Ruhmesblätter der menschlichen Zivilisation und zeugt von der gesunden Wurzel, aus der diese Zivilisation trotz aller Rückschläge entsprossen ist.

Die Gegenbewegung gegen den Hexenwahnsinn setzte schon gleichzeitig mit dem Beginn seiner Hauptblütezeit ein. Bereits 1489 bekämpfte Ulrich Molitor aus Kostnitz in seinem „Dialogus de lamiis pythonicis mulieribus“ und später u. a. Agrippa und Bacon den Aberglauben mehr oder weniger lebhaft. 1533 schrieb Giambettista della Porta ein Aufsehen erregendes Werk, in dem er zeigte, wie man eine Menge überraschender Kunststücke mit natürlichen Mitteln und Taschenspielerstückchen ausführen könne. Trotz zahlreicher Gegenschriften brach sich dann ein besseres Wissen immer machtvoller Bahn, und die großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 16. und 17. Jahrhunderts trugen wesentlich dazu bei, den finstern Geist des Mittelalters zu verscheuchen. Die von Bacon zuerst angebahnte empirische Forschung war im 17. Jahrhundert schon so weit erstarkt, dass man Hexen in Gegenwart von Zeugen sich mit ihrer Hexensalbe bestreichen ließ und sie dann beobachtete, ob sie denn wirklich fortflogen. Durch wiederholte Versuche dieser Art stellte man fest, dass die Hexenausflüge gar nicht stattfanden, dass man gegen Träume kämpfte und nicht gegen Tatsachen. Selbst einige Jesuiten, Tanner, Spee und Leymann traten gegen den Hexenglauben auf, und Balthasar Bekker in Amsterdam verhalf endlich mit seinem 1691 — 93 erschienenen großen, vierbändigen Werke: „De betoverde Wereld“ der neuen Zeit zum Siege: die Seuche erlosch, wenn sie auch stellenweise noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wieder aufflackerte, und die Weiber konnten nunmehr wieder alt werden und in Sicherheit sterben, wie der große Friedrich sich äußerte.

Heut ist die Epidemie spurlos verschwunden, wie so viele andere, die der fortschreitenden Erkenntnis und Wissenschaft weichen mussten, und nur in der Oberlieferung lebt noch der Greuel der Verwüstung, die dereinst eine zum hellen Wahnsinn gesteigerte Suggestionskraft anrichtete. Jetzt sind die Köpfe wieder frei, und der Ballast der Suggestion ist über Bord geworfen; aber noch in unseren Tagen und in später Zukunft kann die Geschichte des Hexenglaubens als schauriges Denkmal betrachtet werden für die Macht des Wahns über die Gemüter, ein blutiges Mahn- und Warnzeichen menschlicher Vernunft, nicht noch einmal dem entfesselten Dämon zum Opfer zu fallen.

Der Hexenglaube ist nur die schwerste und furchtbarste, nicht aber die einzige Suggestionsseuche, welche die Menschheit heimgesucht hat. Zahlreiche weitere derartige Epidemien von zweifellos pathologischem Charakter sind bekannt, wenn auch die meisten nur von kurzer Dauer oder nur von lokaler Bedeutung waren.

Der Kreuzzug der 50.000 Kinder im Jahre 1213 trägt deutlich den Charakter der Suggestionsseuche, denn die wenigen Teilnehmer, welche in die Heimat zurückgelangten, erwachten bei ihrer Heimkehr gleichsam aus einer Ekstase und gaben an, sie seien ohne klares Bewusstsein von einer blinden Gewalt unwiderstehlich durch alle Mühseligkeiten und Gefahren hindurchgetrieben worden.

In ähnlicher Weise sind die sonderbaren Erscheinungen des Flagellantismus und der Tanzwut als ansteckende geistige Epidemien hysterischen Charakters zu betrachten. Ganz besonders merkwürdig ist die unter dem Namen St. Medardus-Epidemie bekannte Tanzkrankheit, welche an den St. Medardus-Kirchhof in Paris und das Grab des daselbst bestatteten, am 1. Mai 1727 verstorbenen Frangois de Paris anknüpfte und um 1730 mehrere Jahre lang äußerst heftig in Frankreich wütete.

Auch das 19. Jahrhundert kannte noch verschiedene Hysterie -Epidemien, die lediglich durch Suggestion ansteckten, jedoch sämtlich nur von örtlich beschränkter Bedeutung waren. Die bekanntesten derartigen Epidemien waren die von Morzine in Savoyen (1861) und die von Verzegnis in Italien (1878). Ich zitiere, nach Lehmann, eine auszugsweise, zusammengefasste Beschreibung und gute Beurteilung dieser beiden Suggestionsseuchen:

„Es fing mit hysterischen Anfällen eines einzelnen jungen Mädchens an. Diese traten auf, entweder wenn sie alleine, oder auch, wenn sie mit Altersgenossinnen zusammen war. Der Anblick dieser Krampfanfälle war für die empfänglichen Individuen so ergreifend, dass einzelne derselben angesteckt wurden. Nun begann man davon zu reden, dass nicht alles mit rechten Dingen zuginge, dass Hexerei und Besessenheit mit im Spiele seien. Dann nahmen die Priester die Sache in die Hand und begannen mit den von der katholischen Kirche vorgeschriebenen feierlichen Exorzismen. Aber dadurch wurde das Übel nur ärger; immer mehr wurden von der Krankheit ergriffen, und man wurde erst Herr über dieselbe, als die Kranken entfernt, die Priester versetzt und die Gegenden mit Gendarmen belegt wurden, welche die Bevölkerung in Ruhe halten sollten.

Bei solchen Epidemien steckt offenbar die abergläubische Furcht vor der Krankheit die meisten an. In einer besonnenen und aufgeklärten Bevölkerung wird ein einzelner Fall von Hysterie niemals solches Unglück anrichten können; man wird ihn wie jede andere gefahrlose Krankheit auffassen. In den abergläubischen Gegenden aber, wo der Gedanke an eine Besessenheit noch nicht ganz erloschen ist, wird das Phänomen natürlich den größten Schrecken erregen. Man lebt in beständiger Angst vor dem, was noch weiter geschehen wird, und diese beständige Erregung genügt zur weiteren Ausbreitung; die Empfänglicheren unterliegen. Dann setzen die Priester noch dem Werke die Krone auf durch die öffentliche Ausstellung der Kranken in den Kirchen, wo die bösen Geister mit möglichst großer Feierlichkeit beschworen werden; dies dient jedenfalls nicht dazu, die erregten Gemüter zur Ruhe zu bringen; die Erfahrung lehrt denn auch, dass das Resultat immer das Gegenteil von der vom Exorzismus beabsichtigten Wirkung ist.“

Heut sind ähnliche Vorkommnisse in den zivilisierten Ländern kaum noch möglich, denn man kennt die radikalen, sicheren Heilmittel dagegen und wendet sie an: Einsperrung der Kranken und nötigenfalls polizeiliches Einschreiten gegen den Unfug! Aber aus der obigen Schilderung kann man sich einen Begriff machen, welche ungeheuren Dimensionen in früheren, weniger aufgeklärten Zeiten unter dem Priesterregiment derartige Suggestionsseuchen angenommen haben müssen!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft