Zu Wunder und Wissenschaft

Eine Kritik und Erklärung der okkulten Phänomene
Autor: Hennig, Richard Prof. Dr. (1874-1951) deutscher Verkehrswissenschaftler, Erscheinungsjahr: 1905
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Wunder, Wissenschaft, Wunderglaube, Geheimwissenschaften, Suggestion, Krankheitsheilung, Hexenglaube, Illusionen, Halluziationen, Bewustseinsstörungen, okkulte Phänomene, Unterbewustsein, Wünschelrute, Gedankenlesen, Gedankenübertragung, Tischrücken, Tischklopfen, Aberglauben, Weissagungen
Motto: Erkenne Dich selbst.

Die Wissenschaft soll sich nicht Selbstzweck sein. Ihr Beruf und ihre Pflicht ist es, ihre Resultate der Allgemeinheit nutzbar und zugänglich zu machen, und glänzend hat besonders das 29. Jahrhundert, das Zeitalter des Verkehrs, bewiesen, wie außerordentlich die Kultur der Menschheit gefördert wird, wenn die Jünger der Wissenschaft ihre Erkenntnis nicht, wie in früheren Zeiten, als eine esoterische Lehre für sich behalten und bewachen, sondern sie rückhaltlos der Gesamtheit preisgeben und dem öffentlichen Geistesleben dienstbar machen. Wie jeder Schatz tot und wertlos ist, so lange er vergraben ist, und nur dann den Menschen zu gute kommt und sie ergötzt, wenn er sichtbar wird und der Allgemeinheit zu dienen vermag, so müssen auch die Schätze des Geistes als Scheidemünze in Umlauf gebracht werden, wenn ihr Wert voll zu Tage treten und ihr Nutzen für die Menschheit ganz ausgebeutet werden soll.

Die moderne, noch sehr junge Wissenschaft der exakten Psychologie auf naturwissenschaftlicher Grundlage hat es bisher noch allzu sehr verabsäumt, sich populär zu machen. Grade sie, die wie wenig andre Wissenschaften befähigt ist, das ganze, ungeheuer vielseitige und buntschillernde Geistesleben der heutigen Kulturwelt bis in die verborgensten Fasern hinein zu durchtränken, zu beherrschen und ihren Erkenntnissen dienstbar zu machen, hat sich bisher nur sehr wenig bemüht, die ihr gebührende Stellung im öffentlichen Leben zu beanspruchen. Es ist dies um so bedauerlicher, als es kaum einem Zweifel unterliegen kann, dass die Forschungsergebnisse der modernen, strengwissenschaftlichen Psychologie, wenn sie erst einmal bis zu einem gewissen Grade wichtige Bestandteile der allgemeinen Bildung geworden sein werden, wie nur wenige unter den größten wissenschaftlichen Leistungen in der Lage sein werden, die Kultur um ein gewaltiges Stück vorwärts zubringen und die Menschheit zu erlösen von den noch immer nicht ganz abgeworfenen Fesseln alter, stumpfgewordener Vorurteile, Dogmen und Phantastereien aller Art.

„Erkenne Dich selbst“ haben von jeher große Geister den Menschen als höchstes Ziel der Weisheit gepriesen. Erst in unsrer Zeit aber begann man dies Ziel nach wissenschaftlichen Methoden zu erstreben. Das jahrtausendelange Sinnen und Grübeln unzähliger Philosophen hat den Menschen nicht zur Selbsterkenntnis verholfen und hat nicht verhindert, daß sie oft genug zurückversanken in blöde Resignation und lähmenden Fatalismus. Da kommt nun jetzt die exakte Psychologie mit den alten Siegeswaffen naturwissenschaftlicher Forschung, dem Experiment und der kritischen Statistik, und geht damit dem bisher noch ungelösten „Rätsel des Menschen“ zu Leibe. In wenigen Jahrzehnten hat sie Erfolge staunenswertester Art erzielt und mit dem Licht der Erkenntnis tief hinabgeleuchtet in die noch fast ganz unerforschten, gewaltig großen Abgründe des psychischen Lebens, hat seltsame Zusammenhänge aufgedeckt zwischen den entlegensten Tatsachen und in die rätselhaftesten Gebiete der Seelenkunde führend einen sicheren Pfad gebahnt.

Aber von allen diesen staunenswerten Entdeckungen ist bisher nur tropfenweise eine Kunde zur „großen Menge“ hindurchgesickert. Von den unendlich vielen wissenschaftlichen Einzelforschungen über psychische Probleme sind wohl hier und da wertvolle Aufklärungen in die breiteren Schichten der Gebildeten übergegangen, so z. B. über die Phänomene des Hypnotismus, aber eine solche Popularisierung einzelner Resultate der Forschung genügte doch nicht, um der Hochflut alten und neuen Wunderglaubens einen Damm entgegenzusetzen. Eine umfassende populäre Darstellung der gesamten Ergebnisse der psychologischen Forschungen, so weit sie für die Allgemeinheit in erster Linie von Interesse sind, ist bisher überhaupt nicht vorhanden, und die strengwissenschaftliche, populäre Behandlung größerer Einzelgebiete, wie sie etwa Alfred Lehmann mit seinem ausgezeichneten Werk „Aberglaube und Zauberei“ bot, scheiterte zumeist an dem allzu großen Umfang und den allzu teuren Preisen solcher Erscheinungen des Büchermarktes. Was an billigen populären Schriften speziell über die Rätsel des Selenlebens vorhanden ist, stammt fast ausnahmslos aus dem spiritistischen Lager. Die Gefahr liegt daher heute nahe, wie zu allen Zeiten, daß der, welcher sich mit den psychischen Erscheinungen oder gar mit den sogenannten Nachtseiten des Seelenlebens befasst, ohne hinreichend naturwissenschaftlich geschult und mit den Methoden der exakten Forschung vertraut zu sein, rettungslos dem Mystizismus und modernen Spiritismus verfällt.

Die vorliegende Schrift will nun versuchen, dieser Gefahr vorzubeugen, die Ergebnisse der strengen Wissenschaft auf ihrem Wege zur Erforschung der Wunder der psychischen Welt in kurzen Zügen dem allgemeinen Verständnis klar zu machen und die Unzulänglichkeit der okkulten, mystischen und spiritistischen Erklärungsversuche für die angeblichen Wunder, die es zwischen Himmel und Erde noch geben soll, überzeugend aufzudecken. Möge dem Buch, das wissenschaftlichen Geist verbreiten und der Aufklärung dienen will, ein freundlicher Erfolg beschieden sein!

Berlin, 1. November 1904.

Dr. phil. Richard Hennig.

Ludwig Anzengruber (1839-1889) öterreichischer Schriftsteller

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Bernhard von Clairvaux (1090-1153) mittelalterlicher Abt, Kreuzzugsprediger und Mystiker. Bedeutendster Zisterzienser Mönch

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