Die Bedeutung der Suggestion im Alltagsleben und in der Geschichte

Unter Suggestion im weitesten Sinne des Wortes hat man jede Beeinflussung menschlicher Gedanken und menschlichen Wollens durch Eindrücke der Außenwelt zu verstehen. In dieser Bedeutung genommen wird eine Suggestion ausnahmslos durch jeden einzelnen Eindruck, den unsre Sinne uns übermitteln, in uns ausgelöst, denn die Folge unsrer Gedanken wird dadurch unaufhörlich beeinflusst und in neue Bahnen gewiesen. Jedes Wort, das wir hören, jeder Satz, den wir lesen, übt eine Suggestion auf uns aus.

Wenn wir im Sprachgebrauch nicht bei jeder derartigen Beeinflussung unsrer Gefühle, unsrer Gedanken, unsres Willens von Suggestion sprechen, so liegt dies daran, daß wir dies Wort nahezu ausnahmslos in einer engeren Bedeutung gebrauchen: wir sprechen von Suggestion nur da, wo unsre Handlungen und Gefühle, unser Wollen und Denken durch äußere Eindrücke beeinflusst werden, ohne daß objektiv ein Grund zu solchen Handlungen und Gefühlen und Gedanken vorliegt.


Wenn ich Jemandem, der auf der Straße vor mir hergeht, plötzlich ein lautes „Halt!“ zurufe, so wird er instinktmäßig, reflektorisch zusammenzucken oder stocken oder stillstehen oder sich umsehen: ich suggeriere ihm die Idee von Hemmungsmomenten, die sein Weitergehen gefährlich oder unerwünscht erscheinen lassen könnten, ohne daß in Wahrheit irgend ein Grund vorliegt, der einem Weiterschreiten hinderlich wäre. — Viele Leute erröten, wenn man bloß zu ihnen sagt: „Sie werden ja ganz rot“, ohne daß tatsächlich irgend ein Grund zur Scham oder! zum schlechten Gewissen vorhanden ist; aber die suggestiv hervorgerufene Vorstellung vom Schämen bringt bei ihnen dieselbe Wirkung hervor, wie die echte Scham. Ebenso ist das bekannte und weit verbreitete „Mitgähnen“ beim Anblick eines Gähnenden eine Suggestionswirkung, hervorgerufen durch die Vorstellung vom Müdesein, welche der vom Auge empfangene Eindruck im Gehirn auslöst. Entsprechend zu erklären ist natürlich auch z. B. das Durstgefühl, das der Anblick einer Quelle oder eines wohlschmeckenden Getränkes unter Umständen momentan hervorruft usw.

Wir haben es bei diesen Beispielen lediglich mit einmaligen und kurzdauernden suggestiven Wirkungen zu tun, die meist von nur untergeordneter Bedeutung sind. Gelegentlich freilich können auch sie schon ebenso wie die Dauersuggestionen eine wichtige Rolle spielen. Es war eine solche einmalige und momentan wirkende Suggestion, die Eberhard der Greiner in der Döffinger Schlacht (23. August 1388) mit Erfolg anwendete, um den Sieg an seine Fahnen zu ketten, als er plötzlich laut, daß Freund und Feind es hörten, den Seinigen zurief: „Schlagt zu, die Feinde fliehen!“

Wie in diesem Fall die geschickte Ausnutzung der Momentanwirkung einer Suggestion eine gewichtige Entscheidung herbeiführte, so zeigt uns die Geschichte an noch viel zahlreicheren Beispielen die gesteigerte Bedeutung der anhaltend wirksamen Suggestivkräfte, der Dauersuggestionen. Die bloße Überzeugung, daß ein Führer an ihrer Spitze stehe, der unüberwunden und unbesiegbar sei, ließ die Truppen des eben verstorbenen Cimon, denen man den Tod ihres Feldherrn verheimlicht hatte, in der Schlacht bei Salamis auf Cypern 449 v. Chr. den Sieg erfechten. Das Gerücht, daß ein übermenschliches, himmlisches Wesen in voller Rüstung siegkündend vom Ölberg herabgewinkt habe, begeisterte die ersten Kreuzfahrer in dem Maße, daß es ihnen nach sechswöchentlicher, vergeblicher Belagerung endlich gelang, Jerusalem zu erstürmen (15. Juli 1099). Das ganze große psychologische Wunder der Kreuzzüge stand ja überhaupt von Anfang an bis zu Ende unter dem mächtigen Bann religiöser Suggestion; nur die hohe Oberzeugungskraft des „Deus vult“ (Gott will es!) konnte Millionen und Abermillionen entflammen, so Ungeheures zu leisten und zu dulden, und auch das größte psychologische Wunder aller Zeiten, der Kinderkreuzzug des Jahres 1213, ist ausschließlich ein Produkt der hinreißenden Suggestionskraft des „Deus vult“. Die gleiche siegspendende Macht der Oberzeugung offenbart sich in den Araberstürmen des 7. und 8. Jahrhunderts sowie im Auftreten der Jeanne d'Arc: der feste Glaube, daß die siebzehnjährige Führerin von der heiligen Jungfrau gesandt worden sei, um Frankreich zu retten und das Heer zum Siege zu führen, ließ die französischen Truppen, die bis dahin nur Niederlagen im Kampfe gegen England zu verzeichnen hatten, plötzlich von Sieg zu Siege schreiten. Gerade zur Entscheidung der Schlachten vermag die Suggestion der Massen ungeheuer viel beizutragen. Wo ein Heer mutlos in den Kampf zieht, da wird ihm in der Regel auch bei numerischer Überlegenheit eine Niederlage beschieden sein; nicht die Tapferkeit und Kriegskunst des Feindes, sondern die niederdrückende Suggestivkraft der ungünstigen Orakelzeichen schlug die Dorer nach Kodrus' Tod, die Römer bei Cannae, die Karthager bei Zama. Die mangelnde Siegeszuversicht des Heeres oder der Führer besiegte auch den Brutus bei Philippi, Barbarossa bei Legnano, Kad XII. bei Pultowa. Seit den ältesten Zeiten, haben sich daher die Machthaber bemüht, die zum Kampf ziehenden Heere suggestiv zur Begeisterung zu entflammen und mit dem festen Willen zum Siege zu erfüllen: der Kriegsgesang des Tyrtäus spielte dieselbe Rolle wie heutzutage der Sturmmarsch der Regimentsmusik, und zu allen Zeiten der Kriegsgeschichte kannte man auch die suggestive Macht des kühn an der Spitze seiner Truppen gegen die Feinde anstürmenden Führers (z. B. Napoleon beim Sturm auf die Brücke von Lodi, 10. Mai 1796). Mannigfach sind die Mittel, den Mut der kämpfenden Truppen zu entfachen; der erste Napoleon insbesondere beherrschte die Kunst der Suggestion mit souveräner Meisterschaft: „Vier Jahrtausende sehen auf Euch herab“, rief er seinen Truppen vor der Pyramidenschlacht (21. Juli 1798) zu, und: „Seht da, die Sonne von Austerlitz“, als das Tagesgestirn am Morgen des 2. Dezember 1805 den auf dem Schlachtfelde lagernden Nebel durchbrach. Zuweilen werden die suggestiven Mittel auch unbewusst angewandt, wie durch Gustav Adolf und den alten Dessauer, die vor Beginn des Kampfes vor der Front ihres Heeres Gott um Beistand anriefen. Manchmal auch erfindet das Heer selbst stimulierende Suggestivmittel, wie die Grenadiere Friedrichs des Großen, die in die Leuthener Schlacht zogen mit dem auf den Sieg bei Rossbach (5. November 1757) anspielenden Hinweis auf das Datum des Tages (5. Dezember 1757): „Heut ist ja wieder der Fünfte!“ — Übrigens ist der Tag von Leuthen in mannigfacher Hinsicht geradezu ein Paradebeispiel für verschiedenartige Mittel und verschiedenartige Wirkungen der Massensuggestion. Denn außer dem genannten Spiel des Zufalls, das die Grenadiere ermutigte, reiht sich auch des großen Königs Ansprache an seine Offiziere am Vorabend: „Meine Herren, morgen siegen wir, oder wir sehen uns niemals wieder“ unter die Suggestivmittel ein und ebenso sein berühmter Gruß am Abend des Schlachttages selbst an die im Schloss zu Lissa versammelten, feindlichen Offiziere: ,,Bon soir, messieurs“, durch den er den Anschein erweckte, als ob bedeutendere Truppenmassen ihm auf dem Fuß folgten, und wodurch er selber der drohenden Gefangenschaft entging. Und endlich bietet die Geschichte vom „Choral von Leuthen“ ein kennzeichnendes Beispiel dafür, wie die elementar zum Ausbruch gelangende Stimmung eines Einzelnen Tausende mit sich fortzureißen und in die gleiche Stimmung zu bringen vermag; grade die ehrliche Andacht hat ja eine besonders unwiderstehliche Kraft in sich, der sich auch der Unbeteiligte und der Ungläubige nicht entziehen kann.

Aber nicht nur im Kriege bietet die Weltgeschichte bedeutungsvolle und zuweilen selbst ausschlaggebende Suggestivmittel dar; auch sonst ist oftmals der Gang großer Ereignisse in hervorragender Weise durch Suggestion der Volksmassen beeinflusst worden. Cäsar, der große Menschenkenner verhinderte die drohende Meuterei seines Heeres, indem er seiner zehnten Legion suggerierte, daß ihre Treue zu ihm ja unerschütterlich sei. Antonius suggerierte dem römischen Volke das Rachebedürfnis für Cäsars Ermordung, und die Hohenpriester überredeten die Juden, „daß sie um Barrabam bitten sollten und Jesum umbrächten“. Allein die gewaltige Suggestionskraft des glänzenden Namens Napoleon verschaffte bei der Wahl zum Präsidenten der Republik am 10. Dezember 1848 dem kleinen Neffen des großen Imperators den Sieg über seinen verdienstvolleren Mitbewerber Cavaignac. Die Revolutionsszene in Aubers „Stumme von Portici“ gab am 24. August 1830 der gährenden Stimmung des erregten Brüsseler Publikums das Signal zum Aufstand gegen Holland, wie überhaupt die Revolutions-Epidemien der Jahre 1830 und 1848 vortreffliche Beispiele für die ansteckende Macht der Suggestion sind. Und Bismarcks geschickte Redigierung der Emser Depesche hatte vielleicht das Hauptverdienst an der allgemeinen, großen Kriegsbegeisterung des Jahres 1870 in Preußen.

Diese Beispiele aus der Weltgeschichte ließen sich noch bedeutend vermehren. Das Gesagte dürfte aber genügen, um die ungeheure Macht der Suggestion zu veranschaulichen und um begreiflich zu machen, daß im Leben des Alltags die Suggestion eine noch ungleich bedeutsamere Rolle spielen muss, als in den geschichtlichen Ereignissen. Suggestionen einzelner Personen und Suggestionen der Massen, wie die genannten historischen Tatsachen sie ausnahmslos darboten, halten sich dabei in bezug auf ihre Wichtigkeit wohl ungefähr die Waage; die ersteren sind vielleicht häufiger, die letzteren jedoch von einschneidenderer Bedeutung. Gerade in unserer gegenwärtigen Kulturwelt, wo mit dem allgemeinen Aufblühen des Parlamentarismus auch die Suggestivkraft der Beredsamkraft wieder zu hohem Ansehen und zu einer Wertung gelangt, die sie früher vielleicht nur in der althellenischen und altrömischen Welt besaß, in unserer Zeit, wo die Tagespresse die öffentliche Meinung in einer fast allzumächtigen Weise beeinflusst und fortwährend auf allen Gebieten des geistigen Lebens neue Lehren, Schulen und Methoden auftauchen, kann man das Wirken und Wachsen der unendlich zahlreichen Massensuggestionen auf Schritt und Tritt verfolgen, denn Suggestion und Überredung spielt bei allen jenen Funktionen des öffentlichen Lebens eine weit größere Rolle als Logik und Überzeugungskunst. Der moderne Mensch kann unmöglich auf allen Gebieten geistiger Regsamkeit bewandert sein, kann nicht jedes Für und Wider sich aus eigener Denkkraft heraus vorhalten, und da er unendlich oft ein Urteil abgeben muss über Dinge, in denen er nicht Fachmann ist, muss er sein Urteil notwendig dem irgend einer Autorität, eines wirklichen oder scheinbaren Besserwissers anpassen und unterordnen. Auch sonst bietet aber das Thema der Suggestion im Alltagsleben noch gar mancherlei Stoff zu einer Fülle von Betrachtungen. Da wir hier die Suggestion nur in ihren Hauptzügen betrachten können, vermögen wir das interessante Thema nicht weiter zu verfolgen. Nur auf ein schlagendes, alltäglich zu unzähligen Malen wirksames Beispiel der Massensuggestion im Alltagsleben sei an dieser Stelle noch kurz hingewiesen, auf die Suggestion der Reklame, die dem Großstädter und jedem Zeitungsleser in unendlicher Mannigfaltigkeit auf Schritt und Tritt begegnet. Die Schaufenster und Bazare, die Annoncen und Plakate, die Anpreisung von Ausverkäufen, Gelegenheitskäufen, Auktionen, sie wollen samt und sonders nur zum Kauf reizen, und daß diese Form der Suggestion die vortrefflichsten Erfolge erzielt, beweisen die geradezu kolossalen Summen, die alltäglich von großen und kleinen Kaufleuten für Reklamezwecke aufgewendet werden. Ich muss es mir versagen, auf dieses hochinteressante Thema an dieser Stelle weiter einzugehen, und es dem Leser überlassen, weiteren Gedanken darüber nachzuhängen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft