Suggerierte Zustände und Handlungen

Suggestionen brauchen, wie aus den letzten Ausführungen schon hervorgeht, keineswegs immer durch lebende und intelligente Wesen direkt ausgeübt zu werden; ja die menschliche Einwirkung ist dabei überhaupt nicht erforderlich. Auch Naturphänomene aller Art vermögen unsren Allgemeinzustand, unsre Bewegungen und Handlungen suggestiv zu beeinflussen. Wie der Anblick eines Gähnenden den Gedanken an Müdigkeit und ein Mitgähnen suggeriert, so kann auch der Anblick einer Quelle oder das Geräusch ihres Rieselns Durstgefühl erwecken. Der Blick in einen tiefen Abgrund löst bei zahlreichen Menschen ein Gefühl der Unsicherheit aus, das bekannte Schwindelgefühl, und lockt gewissermaßen zum Hinabspringen, wie auch oft genug eine heranbrausende Lokomotive den Gedanken auslöst, unmittelbar vor ihr auf die Schienen springen zu müssen. — Nicht mit Unrecht spricht man von der „anziehenden Macht des Abgrundes“, und „der Gefahr“, wenn auch dabei der Verstand mit Erfolg den suggerierten Gedanken zu bekämpfen vermag, so pflegt dieser doch fühlbar genug zusein, um wahrgenommen zu werden. Um so sonderbarer ist es, dass am Rande des Abgrundes ein schützendes Geländer in Brusthöhe, auch eine Fensterbrüstung, das Gefühl der Unsicherheit meist zu beseitigen vermag, selbst wenn die Schutzwehr nur ein dünnes Stück Holz oder gar ein Bindfaden ist, der einen Fall in keiner Weise würde aufhalten können: das Bewusstsein, vorkommendenfalls einen Halt zu haben, genügt dennoch, um den suggerierten Furchtzustand zu besiegen. — Kommt die Bewegung stürzender Wassermassen hinzu, um den Gedanken an den Fall in die Tiefe besonders lebhaft zu färben, so wird die Suggestivwirkung des Abgrundes noch ganz bedeutend gesteigert. Wer einmal unmittelbar neben einem gewaltigen Wasserfall, in nächster Nahe der stürzenden Schaumstrudel, gestanden hat, vielleicht im Rheinfall auf der sogenannten Fischetz am Fuß des Schlosses Laufen, der wird bemerkt haben, wie intensiv die Lockung werden kann, mit den tosenden Wassermassen in die Tiefe zu stürzen. Bei nervös veranlagten, stark suggestiblen Gemütern kann diese Lockung geradezu gefährlich werden. So berichtet z. B. Stoll in seinem Werk „Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie“ folgenden Fall:

„Eine schweizerische Dame, mit der ich über den Gegenstand sprach, versicherte mir, dass sie bei ihren Besuche der Niagarafälle der faszinierenden Macht so stark anheimfiel, dass ihr männlicher Begleiter sie nur mit Gewalt von dem todbringenden Sprunge zurückhalten konnte.“


Wir haben es hier mit einem typischen Beispiel der durch Furcht veranlassten, sogenannten Konträrsuggestion zu tun, indem grade die Angst vor der Gefahr Handlungen auslöst, welche die Gefahr erst wirklich ins Leben treten lassen. Man weiß, wie in zahllosen Fällen das Bewusstsein eine nahen Gefahr, z. B. bei Feuerbrünsten oder im Wagengewühl der Straße, unbesonnene Menschen derart kopflos macht, dass sie direkt in die Flammen hinein oder vor die Räder eines Wagens laufen. In Alfred Lehmanns vortrefflichem, nicht genug zu rühmenden Werk „Aberglauben und Zauberei“ (Deutsche Übersetzung von Dr. Petersen, Stuttgart, 1898) findet sich folgendes ausgezeichnete Beispiel einer Konträrsuggestion:

„Als elfjähriger Knabe erhielt ich einen Lehrer, dessen Aussehen mir als das Hässlichste, was ich jemals gesehen hatte, erschien; er hatte außerdem stechende Augen, die meine Aufmerksamkeit in hohem Grade fesselten. Gegen Schluss der ersten Stunde brach er plötzlich den Unterricht ab und verlangte in einem zornigen Ton, daß diejenigen Schüler, die mit der Zunge geschnalzt hätten, dieses unterlassen sollten, da er den Laut nicht vertragen könne. Ich wusste mich ganz unschuldig, denn ich hatte zu große Angst vor dem Manne, als daß ich es hätte wagen sollen, in seiner Stunde dumme Streiche zu machen — aber die Suggestion wirkte. Aus der Furcht davor, daß ich unwillkürlich mit der Zunge schnalzen könnte, wandte ich unabsichtlich meine Aufmerksamkeit nun grade auf die Schluckbewegungen, die bei jedem normalen Menschen rein reflektorisch ausgelöst werden, sobald sich eine gewisse Menge Speichel im Munde angehäuft hat. Dabei wurden die Reflexbewegungen gelähmt, der Mund lief voll Wasser, und mit einer gewissen Willensanstrengung mußte ich die ganze Menge Speichel hinabschlucken; das ging aber nicht ohne ein lautes Schnalzen mit der Zunge. Ich wurde natürlich entdeckt und bestraft; von dem Tage an trat aber die Lähmung konstant in dem Augenblicke ein, wo der bestrafende Lehrer seinen Fuß in die Klasse setzte, und sie verschwand spurlos, sobald er sich entfernte.“

Allgemein gilt die Regel, daß diejenigen Zustände und Handlungen, auf die die Aufmerksamkeit besonders intensiv oder besonders häufig gerichtet wird, am leichtesten zur Nachahmung reizen. Dass „Beispiele anstecken“, ist eine triviale Alltagsweisheit, die lediglich einen neuen Beweis für die Macht der Suggestion liefert. Gewisse Witze, Bonmots oder Melodien, welche in unglaublich kurzer Zeit die Runde durch Städte, ganze Länder und Kontinente machen, zeugen von der Wirkung der Suggestion, die die Gedanken zahlloser Menschen immer wieder und wieder zu einem Punkt zurückkehren lässt, bis das Interesse daran ermattet. Wer eine seltsame Bewegung oder eine auffallende Redewendung, einen sonderbaren Akzent bei einem andern wiederholt oder besonders aufmerksam betrachtet, wird sich häufig dabei ertappen, daß er sich unbewusst die gleiche Eigentümlichkeit zuschulden kommen lässt. Nicht mit Unrecht bemerkt Lehmann in seinem noch oft zu zitierenden Werk:

„Wie der Herr, so der Knecht. In dem Auftreten des Personals eines Comptoirs hat man gewöhnlich einen ziemlich zuverlässigen Maßstab dafür, welche Behandlung man vom Chef erwarten darf. Das Beispiel steckt so sicher und kräftig an wie der bösartigste Bazillus“. Zeige mir, wer du bist, und ich werde dir sagen, mit wem du umgehst, könnte man auch ein gewisses Sprichwort variieren. Dass namentlich Untergeordnete den Höhergestellten gegenüber suggestiv besonders empfänglich sind, betont Lehmann mit Recht. Geht doch diese ansteckende Macht des Beispiels so weit, daß der Mensch sich selbst zu folgenschwersten, verantwortungsreichsten Handlungen eher entscheidet, wenn er einen guten Bekannten einen gleichen Schritt tun sieht; ziehen ja bekanntlich Verlobungen besonders leicht Verlobungen im Freundeskreise des Bräutigams nach sich! Und nach schweren Kriegen, wenn die männliche Jugend stark dezimiert ist, schreiten bekanntlich selbst alte Hagestolze noch zur Heirat, die unter anderen Umständen niemals daran gedacht haben würden; ja diese Erscheinung ist so allgemein verbreitet, daß nach großen Kriegen die Zahl der Knabengeburten stets in auffallender Weise überwiegt, woraus zu schließen ist, daß der Altersunterschied zwischen den Ehegatten, der das Geschlecht der Kinder bis zu einem gewissen Grade beeinflusst, durchschnittlich ein erheblich als in anderen Zeiten. Dass auch Selbstmorde und Verbrechen zu gleichen Handlungen unter gleichen Einzelumständen anreizen, sei hier nur nebenbei bemerkt.

Wie selbst das ganze Lebensschicksal eines Menschen durch Suggestion bestimmt werden kann, geht schlagend aus einem Beispiel der Edda, der Vatnsdöla Saga, hervor. Dem Ingemund wird geweissagt: „Du wirst in einem Lande zu wohnen kommen, das Island heißt, das noch in weiten Umfange unbebaut ist“ usw. Ingemund ist zuerst sehr zornig über diese Weissagung und erklärt, das Land seiner Väter nie verlassen zu wollen. Ein Jahr später äußert er bereits gelegentlich seiner Hochzeit: „Was das finnische Weib mir von der Veränderung meiner Angelegenheiten prophezeit hat, geht mir beständig durch den Kopf, aber ich sähe am liebsten, dass es nicht wahr werden möge, daß ich meine väterlichen Güter verlassen müsste.“ Alsbald sendet er Finnen nach Island, die ihm Bescheid bringen sollen über das Land, und schließlich gibt er seinen Freunden ein Abschiedsmahl und äußert sich: „Ich habe beschlossen, meine Stellung zu verändern und nach Island zu ziehen, mehr weil es der Wille des Schicksals ist, als aus Neigung.“ Wirklich zog er nach Island und wurde dort der Stammvater des großen isländischen Geschlechtes der Vatnsdölen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft