Der Wunderglaube der modernen Geheimwissenschaften

Häckels biogenetisches Grundgesetz gilt auch für die geistige Entwicklung: sie ist beim Individuum dieselbe wie bei der Gattung. Das bewies uns das vorige Kapitel. Die naturwissenschaftlich nicht geschulte Menschheit wie das Kind nahm zu allen Zeiten und nimmt noch heute für alles Ungewohnte, dessen Ursache sie nicht zu begreifen vermag, für jeden rätselhaften und auffallenden Vorgang als einfachste und nächstliegende Erklärung ein willkürliches, von den Naturgesetzen losgelöstes Eingreifen unsichtbarer, übermenschlicher, intellektueller Kräfte an; das ist ein allgemein gültiges, durch zahllose Tatsachen immer aufs neue bestätigtes psychologisches Gesetz.

Erst in unsern Tagen, unter dem machtvollen Einfluss der modernen Naturwissenschaft, beginnt die Methode metaphysischen Spekulierens der exakten Forschung zu weichen, welche die Enträtselung der Welt besser wird durchführen können. Wo aber die exakte Forschung noch nicht einsetzen kann, da befolgt die Naturwissenschaft die Taktik kritischen Abwartens; ein für alle Male verzichtet sie jedoch auf vorzeitige Deutungsversuche.


Wenn der Begriff des Wunders im Zeitalter der Naturwissenschaft überhaupt noch eine Berechtigung haben kann, so könnte er nur noch angewandt werden auf den einwandfreien Nachweis, daß außer der menschlichen und tierischen Intelligenz ins Getriebe der Welt noch weitere intelligente Kräfte eingreifen, die wir bisher nicht kennen. Ein solcher Nachweis wäre das Wunder aller Wunder, das die alte Weltanschauung der Naturwissenschaft auf den Kopf stellen und auch das Urgesetz von der Erhaltung der Energie vernichten oder völlig umgestalten würde, weil es neben der Welt der mechanischen Energie noch eine neue Welt der psychischen Energie als gleichberechtigten, verwandten, aber unberechenbaren und unmessbaren Faktor in die physikalische Wissenschaft einführen würde.

Das ist eben die große, grundlegende Wichtigkeit des spiritistischen und animistischen Problems, über dessen umfassende Bedeutung die naturwissenschaftlich meist wenig geschulten Spiritisten und die ihnen nahestehenden Verächter der modernen, vom Kraft- und Energiebegriff beherrschten Wissenschaft sich selbst nicht klar sind: gelingt auch nur in einem einzigen Falle der sichere Nachweis, daß physikalische Vorgänge außerhalb des menschlichen Körpers durch rein-psychische Kräfte ausgelöst werden können, so fällt damit der größere Teil des von der Naturwissenschaft errichteten Weltbildes in Schutt und Trümmer zusammen. Ein solcher Einsturz wäre zwar nicht der erste von größerem Umfange in der Geschichte der Naturwissenschaft; die durch Kopernikus oder Darwin hervorgerufenen Umwälzungen waren sicherlich nicht kleiner. Aber man kann es der Wissenschaft wahrlich nicht verdenken, wenn sie nur auf völlig zwingende Beweise hin die alten, wohlbegründeten Überzeugungen fallen lässt, um sich zu neuen zu bequemen. Der ungeheuren Wichtigkeit des Postulats muss auch das Schwergewicht der Beweise entsprechen, und auf Möglichkeiten und Hypothesen hin soll Niemand sich vermessen, an dem gegenwärtigen Erkenntnisbau der Wissenschaft frevelnd zu rütteln.

Die Darlegungen dieses Buches haben sich die Aufgabe gestellt, in allgemeinverständlicher Weise die bisher vorliegenden Beweise für das Walten geheimnisvoller psychischer Kräfte und übermenschlicher, geisterhafter Wesen auf ihre Glaubwürdigkeit und ihre Bedeutung tun au prüfen, mit den Lehren und Behauptungen des Okkultismus und Spiritismus im weitesten Sinne des Wortes bekannt zu machen, die Unvollkommenheiten ihrer Behauptung darzulegen und die überaus zahlreichen Fehlenquellen und Fallstricke nachzuweisen, denen eine ungeschulte, mit den psychologischen Tatsachen nicht vertraute Beobachtung und Berichterstattung nur allzu leicht bei der Wertung des Materials zum Opfer fällt. Dabei wird der vorliegende erste Band des Werkes „Wunder und Wissenschaft“ sich mit denjenigen angeblich übersinnlichen, geheimnisvollen Tatsachen und Behauptungen des „Okkultismus“ befassen, welche noch nicht der Hypothese übermenschlicher, mächtiger Wesen und Intelligenzen zur Erklärung bedürfen. Der eigentliche Geister- und Gespensterglaube, insbesondere also der moderne Spiritismus, werden dagegen später im zweiten Band dieses Buches eingehend behandelt werden.

Berichte über wunderbare Erlebnisse, die alles physikalischen Geschehens zu spotten und den sicheren Nachweis für das Walten mystischer, übermenschlicher, intellektueller psychischer Kräfte zu erbringen scheinen, gibt es wie Sand am Meer. Sie verblüffen durch ihre beträchtliche Anzahl und durch die oftmals überaus eingehende Detailschilderung, welche die Glaubwürdigkeit erhöht. Ehe wir uns aber mit ihnen direkt befassen, ehe wir ihnen kritisch gegenübertreten können, müssen wir den richtigen Standpunkt zu gewinnen trachten, von dem aus wir sie objektiv auf ihren Wert oder Unwert zu beurteilen vermögen. Und dem gemäß müssen wir uns zunächst mit den Fehlerquellen der Beobachtung und Erinnerung beschäftigen, denen jede Schilderung eines tatsächlichen Geschehnisses unterliegt.

Die bedeutendste Fehlerquelle für jede richtige Erkenntnis, das größte Hindernis für die Erforschung der Wahrheit ist die Suggestion. Mit diesem gefährlichsten Feinde des kritischen Forschergeistes wollen wir uns daher zunächst befassen, und wir werden sehen, daß nahezu die Hälfte aller okkulten Erscheinungen, mit denen wir uns in diesem ersten Buch befassen wollen, und ebenso ein sehr großer Teil der mystischen und spiritistischen Phänomene, von denen das zweite Buch handeln wird, mittelbar oder unmittelbar auf Wirkungen der mächtigen Zauberin Suggestion zurückzuführen sind.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zu Wunder und Wissenschaft