Prof. Dr. F. Heman: Was soll man vom Zionismus halten?

Gedanken eines Nichtjuden.

Vom Universitätsprofessor Dr. F. Heman (Basel).


Nichts ist irriger als zu glauben der Zionismus benachteilige die soziale und politische Stellung der Juden unter den christlichen Deutschen und den deutschen Christen. Diese Rede ist ein blinder Schreckschuss der Assimilanten zur Einschüchterung der Dummen und Feigen im eigenen Lager. Wer Stimmung und Ansichten der Nichtjuden kennt, urteilt anders. Er weiß, dass der stille, heimliche Antisemitismus, den der deutsche Bauer und Handwerker, Kaufmann und Beamte, Offizier und Geistliche, Agrarier und Nationalliberale hegen, mit dem Zionismus gar nicht, wohl aber mit der Assimilation im Zusammenhange steht. Als nämlich die Assimilation gar zu arg ins Kraut schoss, und die Juden schon am Ziel der ersehnten Bruderschaft mit den Deutschen zu sein meinten und sich als Herren der Situation in Deutschland zu gebärden anschickten, da bemächtigte sich aller Stände und Schichten des Volkes eine stille und tiefe Abneigung gegen die Juden. Das war bereits in den sechziger Jahren in der liberalen Aera und es dauerte noch ziemlich lange bis Stöcker 1881 im Reichstag dieser allgemeinen Stimmung offenen Ausdruck gab. Von da an erst trat der Antisemitismus auch öffentlich als Partei hervor, aber er beschränkte sich durchaus nicht auf diese Partei. Die allgemeine Stimmung des deutschen Volkes in allen seinen Ständen geht auf Zurückweisung der Assimilation, Ausschließung der Juden aus dem politischen und sozialen Leben des deutschen Volkes, weil die Juden zwar Landesbürger, aber doch fremder Nation und fremder Rasse seien. Der Antisemitismus wird, solange volkstümlich bleiben, als es Assimilanten in Deutschland gibt. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn einmal Chinesen aus Kiautschau oder Neger aus Kamerun in Deutschland sich als „deutsche Brüder“ aufspielen werden, dann wird sich des deutschen Volkes ebenso ein Antimongolismus und Antiniggertum bemächtigen, wie sie im freien Amerika bestehen. Denn die Menschen sind überall gleicher Natur. Wird diese verletzt, so reagiert sie überall gleich. Nationalitäts- und Rassenunterschiede sind nun einmal Naturverhältnisse, die sich nicht ignorieren lassen. Wollen die deutschen Juden wirklich einmal „deutsche Brüder“ werden, dann müssen sie ihre nationale Natur zuerst ändern, zuerst die geistignationale, dann ändert sich auch bald die körperlichnationale. Solange die deutschen Juden aber noch geistig, (d. h. religiös in diesem Falle) ein Separatleben führen wollen, noch Synagogen bauen, ihre Kinder beschneiden, und sich mit den Deutschen nicht einmal in der gleichen Reihe wollen begraben lassen, glaubt ihnen trotz aller Versicherungen kein Mensch, dass sie wirklich deutschen Geist annehmen wollen oder gar schon haben, selbst wenn sie auch den Doktorhut, den Offiziersdegen oder das Ministerportefeuille tragen, sogar nicht, wenn sie deutsche Gedichte schreiben und christliche Sujets malen. Der deutsche Geist glaubt deswegen doch, durch den jüdischen Geist der Assimilanten verjudet zu werden, wie sehr sie ihn auch zu verbergen suchen und für Deutschtum schwärmen.

Der Zionismus nun bekennt frei und offen seinen jüdischen Geist und will ihn sogar stärken und heben, damit er sich in seiner ganzen Kraft zeige, indem er sich sogar verkörpere in einem nationalen Judentume, in einem nationalen Staat, Reich und Land. Wird das nun aber nicht den Widerspruch der anderen Nationen erst recht herausfordern? Die deutschen Assimilanten behaupten dies in ihrem konfusen Denken, aber unlogischer Weise. Ja, wenn Einer Zionist und Assimilant zugleich sein wollte, so würde natürlich der Konflikt sich noch steigern. Aber Zionismus und Assimilation sind ja diametrale Gegensätze. Der Antisemitismus wendet sich aber gegen die Assimilation, dann kann er aber nicht zugleich auch auf ihre Gegner gehen. Weil die Zionisten die Assimilanten bekämpfen, lässt der Antisemitismus die Zionisten zum mindesten ruhig gewähren. Noch nirgend in Deutschland ist deshalb weder von deutschnationaler noch von religiös-christlicher Seite auch nur ein einziges böses Wort gegen die Zionisten gefallen. Selbst so rabiate Judenhasser, wie sie zu Hamburg täglich zu Worte kamen,*) haben über die Zionisten nicht schlimmer geredet, als über alle Juden. Was aber die vernünftigen Deutschen und Christen über den Zionismus denken, dem hat der deutsche Kaiser auf seiner Palästinafahrt den richtigen Ausdruck gegeben. Die Zionisten dürfen dies für mehr als bloß für den persönlichen Stimmungsausdruck des Kaisers nehmen; die dem Dr. Th. Herzl gereichte Hand ist zugleich Symbol der Stimmung des deutschen Volkes gegenüber dem Zionismus selbst.

Daher brauchen die Zionisten auch nicht zu fürchten, es würde von christlicher Seite wegen der heiligen Station gegen eine jüdische Besitzergreifung Palästinas protestiert werden. Das könnte nur dann eintreten, wenn ein religiösfanatisches Judentum von den Zionisten gepflegt würde und eine rückständige Hierarchie an der Spitze stünde. Die drei zu Basel gehaltenen Kongresse haben das Gegenteil bewiesen, sie bewiesen eine außerordentlich maßvolle und taktvolle Haltung, darum hat sich auch zum großen Schmerze der Assimilanten und der Rabbiner noch keine christliche Partei gegen die Zionisten er klärt. Was würden die Assimilanten für Kapital daraus schlagen, wenn sie auf nur eine christliche Autorität oder Notabilität weisen könnten, die gegen den Zionismus protestiere! Sie warten vergeblich auf eine derartige Kundgebung. Der Zionismus hat noch durch nichts, weder Wort noch Tat, die Sympathien der wohlmeinenden Christen verscherzt. Ihm ist es zu danken, dass die Christen einen Unterschied zwischen Juden und Juden zu machen beginnen.

*) Gemeint ist die Konferenz antisemitischer Politiker zu Hamburg (1899).

Aber verlassen wir diesen Boden; stellen wir uns auf den allgemeinen humanen Standpunkt! Wir wollen den Zionismus einfach als historische Zeiterscheinung im europäischen Völkerleben betrachten; was wird da unser Urteil sein?

Das jüdische Volk ist das älteste aller lebenden Kulturvölker und war schon vom bedeutendsten Einfluss auf das geistige Leben der Menschheit; als die Völker, die jetzt an der Spitze stehen, noch rohe Naturvölker waren, und erst durch das aus dem Judentume hervorgegangene Christentum gezähmt, erzogen, gebildet und dadurch zur Weltherrschaft fähig gemacht wurden. Das jüdische Volk nimmt daher neben Griechen und Römern einen hervorragenden Rang in der Weltgeschichte ein. Wenn ein Volk von dieser historischen Bedeutung freiwillig seine Nationalität aufgeben würde, so wäre das nichts anderes, als gemeiner nationaler Selbstmord zu nennen. Ein Volk von diesem Rang in der Geistesentwicklung der Menschheit, das zudem alle seine geistigen und moralischen Fähigkeiten, durch Jahrtausende unversehrt, bis heute erhalten und so wenig an Lebenskraft eingebüsst hat, dass die Zahl seiner Glieder jetzt sogar an die zehn Millionen reicht, hat gewiss gerade jetzt, wo auch die kleinsten und historisch unbedeutendsten Völker und Stämme mit Energie ihre Nationalität wahren und geltend machen, nicht bloß das Recht, sondern die heilige, moralische Pflicht, seinen Traditionen treu zu bleiben, seine Nationalität zu wahren und zu sein, was es von Natur ist. Es wäre eine elende Feigheit und schändlicher moralischer Selbstmord, wenn die jüdische Nation gerade jetzt, wo Nationalität alles gilt, und jedes lebensfähige Volk auf seine Nationalität stolz, eifersüchtig darüber wacht, dass sie in ihren Eigenheiten nicht gehemmt werde, sondern sich frei zu entfalten Raum habe, — wenn gerade jetzt die jüdische Nation, freiwillig und ungezwungen sich ihrer Nationalität begeben sich ihrer schämend, sie wegwerfen würde, um sich von anderen Nationen absorbieren zu lassen. — Dies Verbrechen der Selbstaufgabe wäre um so niederträchtiger, als die Nationen, mit welchen die Juden sich national verschmelzen wollen, nicht bloß diesen Verschmelzungsprozess gar nicht wünschen, sondern sich dagegen mit allen Mitteln wehren und die Juden deswegen erst recht hassen und verachten. — Das Vorgehen der Juden, sich mit den Nationen zu verschmelzen, unter denen sie wohnen, wäre vielleicht noch begreiflich, wenn diese Nationen sich bisher allezeit freundlich und günstig gegen die Juden gezeigt hätten, aber unsinnig ist dies Beginnen, da es sieh gerade um Nationen handelt, welche allezeit ihre Abneigung gegen die Juden in grausamen Verfolgungen kundgegeben haben. Dieser Schmach des feigen nationalen Selbstmordes stellt sich nun der Zionismus mutig und frank gegenüber und sucht ihn zu verhindern. Damit wird er zum Retter des jüdischen Volkes und der jüdischen Nation. Die späteren Jahrhunderte werden ihn darum preisen und werden es nicht begreifen können, dass es einmal eine so große mächtige und feige Assimilantenpartei hat geben können, wie sie heute existiert. — Weder das jüdische Volk noch die Weltvölker werden die Namen der Tapferen vergessen, die sich dem nationalen Untergang ihres Volkes, was zugleich den moralischen Untergang bedeutete, entgegen gestellt haben. Die jüdische Geschichte der letzten neunzehnhundert Jahre ist freilich nur eine fast ununterbrochene Leidensgeschichte gewesen; man hat den Juden kaum Luft und Licht zum Leben, aber keinen Baum zum frohen und gedeihlichen Wirken gelassen und diese grausamen Verfolgungen hatten ja wesentlich ihren Grund in den nationalen und religiösen Eigenheiten des jüdischen Volkes, durch welche sie sich innerlich und äußerlich gegen die Weltvölker abzuschließen und in Gegensatz zu stellen genötigt waren. Das jüdische Volk aber hat Jahrhunderte hindurch seine eigenartige Nationalität und seine eigenartige Religion so hoch gehalten, dass es Alles, Alles ertrug in Geduld und ohne Verzweiflung, getröstet durch die süße Hoffnung, dass doch noch einst eine messianische Zeit der nationalen Erlösung und des religiösen Heils kommen werde. Und diese glorreiche Leidensgeschichte, unerhört in der Weltgeschichte, weil hier ein Volk fast zweitausend Jahre lang um einer national-religiösen Idee willen Unsagbares erduldete, soll nun damit endigen, dass die Juden schließlich doch ihre Vergangenheit wegwerfen und ihre Zukunft preisgeben und sich selbst dem nationalen Untergang weihen? Diese ganze große Leidensgeschichte soll umsonst und vergeblich durchgemacht sein? Sie soll kein anderes Ende haben, als selbstmörderische nationale Verzweiflung? Dann wäre es ja wohl viel besser gewesen, ihre Väter hätten dies schon vor zwei Tausend Jahren so gemacht. Ihre Väter aber sind edler, hochherziger, idealer gesinnt, aber nicht feige gewesen, sondern haben Glauben gehalten, Glauben an ihre Nationalität, Glauben an den Gott ihrer Vergangenheit und den Gott ihrer Zukunft. — Die jetzige Generation müsste ihrer Väter ganz und gar unwürdig sein, eine verächtliche, verkommene Masse, wenn sie insgesamt in ein so ehrloses Ende einwilligen würde! Es gibt ja wohl heute Tausende von Juden, welche es für ihr größtes Unglück halten, als Juden geboren zu sein; sie sind entschuldbar, weil sie nichts wissen, weder von ihrer nationalen Vergangenheit, noch von ihrer nationalen Zukunft; aber unentschuldbar sind die, welche kraft ihrer Bildung und sogar kraft ihres Berufs, beides kennen, aber preisgeben und verkaufen um das Linsengericht einer fremden Nationalität und zeitlichen Behagens und Wohlseins. Ubi bene ibi patria ist für einen Juden die miserabelste Gesinnung.

Wenn die Zionisten, den Idealismus ihrer Väter hochhaltend die jüdische Nationalität nicht wollen untergehen lassen, so zeigen sie sich ihrer Väter würdig; ja sie übertreffen sie dadurch, dass sie für die Wiedererhebung und Erneuerung ihrer Nation, für die Anerkennung ihres Daseins und Rechtes auch energisch arbeiten und den Leiden ihres Volkes durch eine Tat der Erlösung ein Ende zu machen sich vorsetzen. Würden sie aber auch ihren letzten Zweck, Wiederherstellung der Nation im Lande der Väter durch die Ungunst der Umstände nicht erreichen, so würden sie doch schon einen großen, welthistorischen Erfolg erreicht haben, wenn sie nur das jüdische Nationalbewusstsein selbst gerettet, erhalten und vor allen Völkern offen bezeugt und zur Geltung gebracht hätten. Einem Volk sein Nationalbewusstsein lebendig und kräftig zu erhalten ist schon eine edle, ruhmwürdige Tat. Der Zionismus ist aber auf dem besten Weg zu diesem Ziel und hat durch seine drei Kongresse in dieser Hinsicht schon bedeutende Erfolge erzielt. Er hat ein Institut geschaffen, das die Einheit und das Nationalbewusstsein der Juden zu repräsentieren im Stande ist, es ist eben das Institut des Kongresses von Delegirten der Nation. Am Kongress hat die jüdische Nation ein Organ erhalten zur Äußerung seines Nationalwillens und er wird immer mehr auch das Organ zur Ausführung dieses Willens werden. Der Zionismus hat weiter im Innern seiner Nation eine Agitation geschaffen, welche von Jahr zu Jahr größere Massen der Nation zur Vereinigung und Einheit bringt und in absehbarer Zeit die ganze Nation für ihre Zwecke und Ziele gewinnen und einen wird. Es ist ein ungeheuer schwieriges Werk, sprachlich, kulturell und ökonomisch so zersplitterte, unzusammenhängende Massen mit einem Geist, einer Gesinnung, einem Ziel zu erfüllen und eine wohlorganisierte Einheit daraus zu schaffen. — Wird der Zionismus dies Werk zu Stande bringen, und er wird es, dann hat er den schwereren Teil seiner Aufgabe schon gelöst.

Der Zionismus beweist sich nämlich tatsächlich als eine Geistesmacht im jüdischen Volke. Wäre er dies nicht, so hätte er nicht bisher schon eine so tiefeingreifende und immer weiter um sich greifende Bewegung im jüdischen Volk selbst hervorbringen können. Als er zuerst auftrat, haben Juden und Christen darüber die Achseln gezuckt, als über ein ganz phantastisches, kopfloses, aussichtsloses Unternehmen, dem keine Bedeutung beizumessen sei. Aber es sind keine drei Jahre vergangen, so hat er schon eine einschneidende Krisis unter den Juden hervorgebracht, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt und die keinem Juden erspart bleibt. Der Zionismus stellt die Juden vor die Entscheidung, entweder ganz Jude zu bleiben und wieder gute und volle Juden zu werden oder ihr Judentum voll und ganz abzulegen und aufzugeben. Die halben Juden, die ihrem Judentum, der Nationalität und meist auch der Religion nach, indifferent und gleichgültig gegenüberstanden, haben sofort gewittert, dass sie jetzt aus ihrer trägen Ruhe aufgeschreckt würden und sich entscheiden müssten. Darum hätten sie gerne den Zionismus unterdrückt und von Deutschland ferne gehalten. Dies ist ihnen gänzlich misslungen. Geistige Bewegungen und geistige Kräfte lassen sich nicht unterdrücken und der Zionismus ist eine geistige Bewegung und eine lebendige Kraft. Er ist also doch auch nach Deutschland gekommen, und seine erste Wirkung ist nun die, dass einerseits das jüdische Nationalbewusstsein langsam erwacht und erstarkt, anderseits aber die halben Juden sich nur noch mehr von ihrem Judentum loslösen, und dass die, welche innerlich ihrem Volk und ihrer Religion schon längst entfremdet waren, denen ihr Judentum schon bisher nur eine Last und ein Unglück schien, nun den Entschluss fassen, ihm ganz den Rücken zu bieten und ganz ins andere Lager überzugehen. Sie wollen keine zionistischen Juden sein; also werden sie christliche Deutsche. So ist der Zionismus eine kritische Macht. Durch ihn ist es dahin gekommen, dass jetzt dem Juden Sein oder Nichtsein zur freien Wahl vorgestellt ist und er sich entscheiden muss. Die Juden selbst fühlen es, dass jetzt die Entscheidung an sie herantritt, entweder Jude oder Nichtjude zu sein und dass jetzt die Zeit vorüber ist, wo man dem Namen nach Jude, aber dem Geist und der Gesinnung nach Nichtjude sein könne. Die Zionisten haben weder beabsichtigt noch voraussehen können, dass sich an den Zionismus eine solche Krisis knüpfen werde, aber eben diese unabsichtliche und doch so mächtige Wirkung, die er mit sich führte, beweist, dass er eine geistige Macht ist. Da ist ein Prinzip lebendig geworden, das mächtiger ist, als seine Urheber. Diese wollten nur eine Heimstätte für arme, verfolgte Juden auf väterlichem Boden gründen. Der Zionismus ist aber zu einer Geistesmacht geworden, welche die Juden insgesamt vor die Entscheidung stellt, Jude ganz oder ganz Nichtjude. Das ist die wahre und große Bedeutung des Zionismus für die Gegenwart.

Und was wird seine Zukunft sein? Wird es ihm in absehbarer Zeit gelingen, auch sein letztes Ziel zu erreichen? Wird er den Gedrückten und Verfolgten eine rechtlich gesicherte Heimstätte in Palästina schaffen können? Dies Ziel kann im zweifachen Sinn verstanden werden, in einem engern und einem weitern.

Die Zionisten beabsichtigen zunächst vom Souverän des Landes, dem Sultan, die bestimmte, in rechtliche Formen gefasste Erlaubnis zu bekommen zu rechtlich völlig gesichertem Bodenerwerb in Palästina, dann sollen arme oder gedrückte Juden dort angesiedelt werden, damit sie durch Ackerbau zu Wohlstand kommen; auch industrielle Unternehmungen sollen von Juden für Juden dort eingerichtet werden. Dies ist ein praktisch wohl erreichbares Ziel. In dieser Beziehung erscheint der Zionismus als eine Wohltätigkeits-Anstalt, die sich von den älteren, derartigen Gesellschaften nur etwa durch die umfassenderen Pläne und dadurch unterscheiden würde, dass sie ihren Unternehmungen rechtliche Sicherheit durch ausdrückliche Genehmigung des Sultans selbst verschaffen will.

Aber dieses nächstgelegene, engere Ziel führt mit Notwendigkeit zum weiteren, denn diese Unternehmungen sollen ja nicht von einer Privatgesellschaft, sondern von der ganzen Nation und für die Nation durchgeführt werden. Sodann, wenn sie gedeihen sollen, muss ihnen die freieste Bewegung und ungehinderte Selbstverwaltung gestattet sein. Diese Kolonien müssen auch mit politischen Rechten ausgestattet sein und unter sich im innigsten Zusammenhang stehen. Anders ist weder ihr Bestand, noch ihre Sicherheit, noch ihre Blüte garantiert. Dieses Alles führt aber notwendiger Weise zum Erwerb und Besitz des ganzen Landes und zum Recht der Selbstverwaltung und Selbstregierung. Und so muss aus der einfachen Kolonisation ein ganzes Staatswesen werden: ein jüdischer Staat. Dieser Staat bildete dann natürlicher Weise Heimat, Zentrum und Stützpunkt für die ganze Nation in aller Welt. Dies aber bedeutete die Wiedereinführung der jüdischen Nation in den Kreis der selbstständigen, geschichtlichen Völker. Was sagen wir dazu? Wenn eine unterjochte, unselbständige Nation überhaupt zum Besitz eines eigenen Landes und eigenen Staatswesens kommen will, so ist das zwar ein sehr schwieriges, weitaussehendes, nicht so leicht und so bald zu erreichendes, aber darum doch noch kein durchaus unmögliches Unterfangen. Schon viele große und kleine Völker haben aus Jahrhunderte langer Knechtschaft sich wieder zur Freiheit und Selbständigkeit erhoben in einem mehrere Menschenalter andauernden Ringen, warum sollte das einer so großen Nation, wie die jüdische ist, nicht gelingen, zumal da ihr dazu weder die geistigen noch die materiellen Mittel fehlen? Für die Juden besteht freilich noch die besondere Schwierigkeit, dass sie zerstreut sind und nicht schon ihr Vaterland wenigstens bewohnen, denn dort bilden sie erst eine kleine Minorität. Ihre Staatsbildung muss zugleich Besitzergreifung des Landes sein und Ansässigmachung darin. Aber das alles bildet kein unüberwindliches Hindernis. Energisch arbeiten und geduldig warten, das allein ist erforderlich. Staaten, die Dauer haben sollen, werden nicht durch einen Handstreich über Nacht, auch nicht in einem Jahrzehnt gegründet. Da kommt es zudem noch auf günstige Umstände und Verhältnisse an, die abgewartet, aber nicht vorausbestimmt, selten sogar absichtlich herbeigeführt werden können. Wann also die Bildung des Staates geschehen können und wann sie fertig werde, kann daher weder der geschickteste noch mächtigste Staatsmann voraus wissen oder sagen. Aufgabe der Führer der Zionisten und der Vertreter der jüdischen Nation kann daher nur das sein, durch energische, umfassende und geschickte Arbeit alles, so vorzubereiten und zu rüsten, dass alle günstigen Umstände und Zeitverhältnisse voll und ganz zum bestimmten Zweck ausgenützt werden können. Alles dies kann aber um so leichter, geschehen, als, diese Vorbereitungen keine kriegerischen sind und sein, können, sondern durchaus friedliche, die daher offen vor der ganzen Welt Augen können und dürfen unternommen werden. Unausführbar wäre die Sache nur, wenn die Juden mit erobernder Waffe, Gewalt oder durch heimlich vorbereitete Revolution in den Besitz des Landes kommen wollten. Dies ist aber unmöglich und undenkbar, denn wo wollten die Juden ein Heer sammeln? Wie könnten sie in Palästina eine Revolution machen? Das Alles sind Dinge der Unmöglichkeit. Das jüdische Volk ist auf friedliche Mittel angewiesen, auf die Gunst der Völker und Weltmächte, auf die günstigen Umstände der Zeit und Weltlage. Dafür zu arbeiten, bedarf es mir friedlicher Mittel, die Allen erlaubt sind. Diese zu gebrauchen, wird niemand sie hindern. Auch sind die politischen Verhältnisse des Landes und des ganzen Reiches, um die es sich handelt, so prekär, so ungewiss, dass Niemand weder sagen noch leugnen kann, dass sie vielleicht über Jahr und Tag schon eine für die Juden sehr günstige Konstellation annehmen. Es kommt ganz auf Glück und Geschicklichkeit der Juden an. Bringen sie nur das zu Stande, dass die Nation innerlich gesammelt, opferfähig und tatkräftig gemacht wird, dann wird Gott und das Glück den Mutigen helfen. Die Führer haben dann ihre Pflicht getan, ob sie oder erst eine der folgenden: Generationen die Frucht ihrer Anstrengungen ernten. Um ein Ziel zu erreichen, muss man fest daran glauben. Feige, Schwache und Zweifelnde erreichen nie etwas. Das Streben der jüdischen Nation nach Erlösung, Freiheit und Selbstständigkeit darf daher nicht voreilig als aussichtslos hingestellt werden. Vielmehr rufen wir den Zionisten jene alten Glück- und Segenswünsche zu: „Wünschet Jerusalem Glück: es müsse wohl gehen, denen, die dich lieben! Der Herr wird dich segnen aus Zion, dass du sehest das Glück Jerusalems dein Leben lang! Friede über Israel,“ (Psalm 122,5 : u. 128;5 u. 6.)


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen