Fürst Friedrich Wrede: Ein Brief

Sie fragen mich, wie ich mir die- Beziehungen des Zionismus zur Allgemeinheit denke.

Wenn ich erst heute auf Ihren Brief antworte, so ist diese Verzögerung dem Umstände zuzuschreiben, dass ich nichts zu sagen weiß.


Wenigstens nichts, was nicht seit dem Wiedererwachen des Zionismus zu wiederholtenmalen von berufenerer Seite gesagt und niedergeschrieben worden wäre.

Nachgerade ist der Zionismus derart erstarkt, dass er sich nicht nur auf Wahrscheinlichkeiten, sondern auch auf Tatsachen berufen kann.

Die Kardinalfrage, von deren Bejahung oder Verneinung die ganze Existenzberechtigung dieser Bewegung abhängt, lautet: Sind denn die Juden überhaupt ein Volk?

Viele Leute verneinen es.

Sie behaupten, es gäbe nur Deutsche, Russen, Franzosen, Engländer israelitischen Glaubens.

Auch mir schienen manche Erwartungen, die ich aus dem Munde begeisterter Zionisten hörte, etwas sanguinisch. Seitdem ich jedoch in London — es war im Herbste des vergangenen Jahres einer großen, von vielen Tausend Juden besuchten Versammlung beigewohnt, bin ich bekehrt.

Meiner Ansicht nach sind die Juden allerdings kein Volk. Aber es gibt noch unter den Juden ein jüdisches Volk und dieses Volk wird sich — früher oder später — sicherlich ein Fleckchen Erde als Heimstätte ertrotzen.

Wenn ich Jude wäre, so würde an die Erreichung dieses Zieles zu arbeiten, die Aufgabe meines Lebens bilden. Und das kann ich Sie versichern, dass ich mir nicht den Kopf darüber zerbrechen würde, wie sich die Beziehungen des neuen Gemeinwesens zur Allgemeinheit gestalten werden!

Euer Wohlgeboren etc.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen