Dr. Hans Edler v. Zwiedinek-Südenhorst: Ein Brief

Seit langem drückt mich die Schuld, an die ich mich wiederholt erinnert habe, das Versprechen nämlich Ihnen meine Ansicht über den Zionismus kundzugeben. Auch heute kann ich es nicht einlösen, denn ich bin nicht mehr jung und leichtsinnig genug, mir eine Ansicht nur nach dem ersten Eindrucke zu bilden, den ein neuer Gedanke auf mich macht; ich kann mich von dem Bedürfnisse bei einem Plane auch seine Ausführbarkeit zu prüfen, nicht befreien. Für die Frage nach der Ausführbarkeit der von Ihnen mit Begeisterung verteidigten Sache der Zionisten fehlt mir jedoch jeder sichere Anhaltspunkt der Beantwortung und ich kann nicht finden, dass Max Nordau*) das Problem ernst und kritisch behandelt. Für die 8 Millionen ostländischer Juden wird es keine Erlösung bedeuten, wenn im besten Falle durch Unterstützung der wohlhabenden, reichen Westländer einige Hunderttausende in Syrien und Palästina angesiedelt werden.

*) Gemeint ist hier M. Nordau's Brief an „Le Siècle“ in Paris, der in kurzen Umrissen des spärlich bemessenen Raumes wegen vieles Wichtige nur berühren konnte.


Aber eines will ich Ihnen zugeben; wenn ich Jude wäre, so würde mich die Idee wenigstens einen Teil der mir verwandt erscheinenden Stammesgenossen sesshaft zu machen, die Hoffnung, einem Volke das zu geben, wodurch es erst zum Volke wird, die unbestrittene Heimat, wahrscheinlich so stark fesseln, dass ich mich in ihren Dienst stellen müsste, selbst gegen die Warnungen einer kritischen Beurteilung des Erfolges. Bei dieser scheint mir nichts so schwer ins Gewicht zu fallen, als der Mangel historischer Analogie; denn bei den von Nordau*) angeführten Beispielen, liegen die Verhältnisse wesentlich anders als bei den Juden der Gegenwart, von denen nicht der stärkere, unternehmungsfreudige, kampflustige Teil auswandern soll, sondern der schwache, am Hergebrachten hängende, apathische. Nur Tatsachen können in diesem Falle beweisen. Wenn der Opfermut und der Enthusiasmus Ihrer Brüder gesunde, lebenskräftige Kolonien geschaffen haben wird, mit denen die Welt zu rechnen hat, wenn namentlich das eine Verlangen erfüllt wird, dass die kultivierten und mächtigen, westländischen Juden den nationalen Zusammenhang mit den verkommenen und wenig sympathischen, in orthodoxer Beschränktheit befangenen Juden diesseits und jenseits der Karpaten anerkennen, was ich bezweifle, dann wird ein Urteil über den Wert der von den Zionisten angegebenen Losung gefällt werden können.

*) Ein jüdischer Literat hatte den Zionisten Feigheit vorgeworfen. Darauf antwortet Nordau, indem er historische Analoga zusammenstellt, wie folgt: „Die Pilgrimfathers, die Pilgerväter, jene erhabenen Reisenden, welche auf der „May Flower“ auszogen, um in den jungfräulichen Wäldern Amerikas die Gewissensfreiheit zu suchen, welche ihnen ihr englisches Vaterland verweigerte, wären also Ausreißer gewesen? Die französischen Hugenotten, welche in Folge der Widerrufung des Edikts von Nantes ausgewandert sind, diese große Rasse, deren Nachkommen noch heute das Salz der brandenburgischen Erde bilden, Feiglinge, die Holländer, welche die Zivilisation nach Südafrika getragen haben, die Deutschen, welche sich an den Ufern des Neckar übel befanden haben, die Stammväter der Riesen von Kentucky geworden sind, die Söhne der Normandie, welche Kanada bevölkert haben, die Waadtländer, welche sich nach Piemont geflüchtet, mit einem Worte alle Idealisten, welche mehr auf ihre Überzeugung als auf ihr Land und Gut gehalten haben, alle diese Pioniere, welche ein unbekanntes Geschick dem sichern und hoffnungslosen Elend vorgezogen haben — sie alle waren Hasenfüsse, Feiglinge?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen