Emil Kronberger: Zum Briefe des Prof. v. Zwiedinek

Wenn wir den Entwicklungsgang der Kulturvölker Europas Revue passieren lassen und nach den Bevölkerungsklassen fragen, die an den großen Umwälzungen und ethischen Krisen sich beteiligen, werden wir nie oder höchst selten die Gestalten jener auftauchen sehen, die, beati posidentes, auf das stille Sichausleben, das heitere Genießen dessen, was Talent und Glück ihnen bieten, die Summe aller Wünsche richten. Es ist vielmehr das aufstrebende Volk, die akademische Intelligenz, der Kleinbürger und das denkende Proletariat, die die gewaltige urwüchsige Volkskraft auf ein großes Ziel lenkend das Schicksal ihrer nationalen Einheit bestimmen. Sollte es nun in den Augen eines so bedeutenden Forschers wirklich einen Mangel darstellen, dass der Zionismus, der auf alle jene Elemente sich stützt, die mit Recht als Baumaterial für das Werk einer kulturellen, jüdischen Renaissance gelten können, die Übersatten, die von dem Schmerzensschrei der Not ihrer Brüder unberührten Großen und Reichen nicht schon zu seinen Anhängern zählt? Kommen werden auch diese und dann sie sollen uns auch herzlich willkommen sein, wenn sie redlich mitarbeiten wollen in Reih' und Glied.

Aber wann haben je Banquiers und Industriebarone Volksbewegungen führen, wenn das volle unerschütterliche Vertrauen Hunderttausender besitzen können, das den Fundus instructus einer gedeihlichen Entwicklung bilden muss. Die tüchtigen, eifrigen Menschen, die bis auf den Heller den national- ökonomischen und den eigenen Vorteil von Industrie- und Handelsunternehmungen ausrechnen können, sind taub gegenüber den leisen Mahnungen ihrer Zukunft. Sie werden dann erst zu fühlen beginnen, wenn das rollende Rad der Zeitenentwicklung ihre Glieder vernichtend bedroht. Das Verhängnis muss sie erst bei der Brust packen, derb schütteln und ihren Köpfen ein Hirngespinst blinder Hoffnung entwinden. Dann erst kommen sie.


Aber freilich der Zionismus, der die Rettung der Armen propagiert kann nur wenig den Großen bieten. Und dieses wenige ist nicht materieller Natur. Was er ihnen verleihen kann, ist das psychische Gleichgewicht, das er im Zwiste zwischen dem Streben der Anpassung an das Fremde und dem antisemitischen Gegendruck einstellt, ein Geleitstab ist er, so zu sagen, der, treu der Selbstwürde, unser geistiges Schaffen führt. Hätten die Zionisten blos darauf gerechnet mit Hilfe der Finanzgrößen und Börsenbarone ihr Ziel zu erreichen, nimmer würde ihre Zahl eine so große geworden sein. Es ist ganz ähnlich der alldeutschen Kolonialpolitik ergangen. Anfangs der Lieblingsgegenstand einiger Universitätskreise, drang das Streben nach dem vergrößerten außereuropäischen Deutschland ins Volk. Mit Jubel aufgenommen gewann dieser Gedanke von Jahr zu Jahr an Ausdehnung. Expeditionen wurden ausgerüstet, kaufmännische Gesellschaften gegründet und erst, als die ersten Erfolge sichtbar wurden, traten der Kolonialpolitik die Behörden und Regenten näher.

Oder nähern wir uns der österreichischen Politik! Unterstützt etwa der Fürst Lichtenstein, etwa Prinz Windisch-Graetz oder einer der Auersperge und, wie sie alle noch heißen mögen, die Allmächtigen und Einflussreichen, die Deutschen in ihrem nationalen Kampfe. Und wenn doch die Wogen der deutsch-nationalen Volksbewegung so mächtig pulsieren, ist es nicht das Verdienst des Mittelstandes, der Intelligenz und der Kleinbürger?

Der Zionismus ist gewiss ein völlig Neues in seiner politischen Form, seine Wurzeln und Motive aber reichen in der Jahrhunderte Lauf zurück; er ist die Sehnsucht zum Leben nach langer Zeit der Ohnmacht. Ihm die Möglichkeit eines Erfolges zu negieren einzig, weil kein geschichtliches Analogon besteht, das ihm ganz genau gleicht, geht doch nicht gut. Und wenn ein Kranker, den ein schweres, seltenes, schier unheilbar scheinendes Übel heimgesucht hat, im seligen Vertrauen den Operateur aufsucht, darf dieser, der einen solchen „Fall“ noch nie gesehen, ihn fortschicken und sich damit trösten, dass in der ganzen Literatur eine solche Form unbekannt sei. Er muss vielmehr um jeden Preis die Krankheit studieren, aus ihrer Erkenntnis die Heilungsmethode zu erfahren. Er wird Punktionen und Injektionen versuchen und anderes mehr, die ganze Reihe der Hilfsmittel durchproben.

So hat es die Geschichte mit dem jüdischen Elend gemacht. Die Kolonisierungsversuche seit 25Jahren haben einen ausgezeichneten Erfolg. Jüdische Dörfer blühen und jüdische Bauern — frühere Hausierer und Arbeiter — bestellen emsig ihr Feld. Zerstört ist die Fabel von der Unfähigkeit der Juden zum Ackerbau und die Veränderung des Ghettojammermenschen zum kräftigen Ackermann und Baumpflanzer ist eine so erstaunliche, eine so überraschend gute, dass das Auge an den einstigen Lumpenproletarier nicht glauben mag.

Wenn nun durch den Zionismus Hunderttausenden die Möglichkeit einer solchen Entwicklung gegeben wird, wird damit allein nicht schon viel des Jammers gestillt. Und dieser Jammer ist unendlich. Auf die dumpfesten Räume eingeengt, im furchtbarsten Konkurrenzkampfe, der ihre Kraft ebenso wie die Tuberkulose ihren Körper schwächt, leben sie dahin. Jeder neu Eintretende bringt den Andern um einen Fuß dem Hungertode näher; sie alle dürfen ja nur Kleinhandel und Kleinhandwerk und das auch nur in bestimmten Städten betreiben.

Da ruft der Zionismus die Einen herbei: Ihr wollt Arbeit? Hier ist sie auf väterlichem Boden. Sie werden Bauern, brauchen Arbeiter und andere Hilfsquellen, immer mehr ziehen sie die Armen nach. In der alten Heimath aber stärkt der hoffnungsweckende Zionismus den Arbeitssinn der Zurückgebliebenen und gewährt ihnen durch Erleichterung des furchtbaren Wettbewerbes — die Zahl der Konkurrenten mindert sich ja — Spielraum zur Erlangung besserer Lebensbedingungen. Hier fördert er Kultur, dort lindert er Not, nicht durch die Wohltätigkeit, sondern durch der Hände Arbeit, die die Armen suchen und so selten erlangen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen