Bertha v. Suttner: Mr. Leon Bourgeois

Es war an dem Tage, da das Ministerium Dupuy fiel. Die Nachricht davon und die Berufung Leon Bourgeois` nach Paris kam erst um 9 Uhr Abends nach Scheveningen, wo eben der Chef der französischen Delegation mir die Ehre erwiesen hatte, nebst dem französischen Gesandten und noch einigen Herren mein Gast zu sein. Auch Dr. Herzl, damals auf der Durchreise nach London einige Tage in Holland verweilend, nahm an dem kleinen Diner teil. — Vor kurzem war Leon Bourgeois nach Paris abberufen worden, wo die Regierung seines Rates bedurfte. Schon hatte man in den Konferenzkreisen gefürchtet, dass er in seinem Lande zurückgehalten und die Arbeit nicht zu Ende führen werde, die ihm in der Friedenskonferenz zugefallen war: Die Leitung der Schiedsgerichts-Kommission. Mit großer Freude hatte man seine Rückkunft begrüßt. Auch ich drückte meinem Gaste diese Freude aus. Er antwortete leuchtenden Auges: „O, ich wäre um keinen Preis fortgeblieben, meine hiesige Aufgabe passioniert mich zu sehr

„Auch um den Preis nicht, wieder Ministerpräsident oder — das steht Ihnen vielleicht auch einmal bevor — Präsident der Republik zu werden?“ Er schüttelte den Kopf: „Daran denke ich nicht. Übrigens glaube ich meinem Vaterlande am besten dienen zu können mit dem, was meine heilige Mission ist — eine Mission, die mich schon darum doppelt freut; weil ihr Zins nicht nur meinem Vaterlande, sondern der ganzen Welt als Nutzen und Segen winkt.“


Natürlich kam das Gespräch wieder bei der „Affäre“ an. „Es ist mir unfasslich,“ meinte ich, „wie jetzt gegenüber der Evidenz die Antirevisionisten noch immer bei ihrer Meinung bleiben und wie überhaupt Menschen, die doch sonst Verstand und Herz haben, sich in so ungerechte und harte und man kann sagen, brutale Haltung verrannt haben!“ Bourgeois erklärte das so: Aller Ehrgeiz der Menschen gipfelt in dem einen Bestreben: „plaire à ses pairs,“ nämlich es denen recht zu tun, zu denen man gehört. Jeder Stand, jede Gesellschaftsklasse, jede Bildungskategorie hat ihr verschiedenes Jugendideal — das ist das Geheimnis des Corpsgeistes. — Überall liegt einem nur an dem Beifall, an der Achtung der Gesinnungsgenossen. „Der ganze Prozess hat seine Quelle doch zumeist im Antisemitismus“, bemerkte ich. „Was sagen Sie zu diesem?“ Bourgeois antwortete nur mit einem Wort, in leidenschaftlichem Tone: „Abominable!“ „Ist Ihnen bekannt, dass es eine Bewegung gibt — sehen Sie, unser Tischgenosse drüben — er kann uns nicht hören, er ist ins Gespräch vertieft — steht an der Spitze — eine Bewegung, durch welche sich die Juden der Verfolgung entziehen wollen“, — „der Zionismus“, unterbrach Bourgeois — „gewiss ist mir der bekannt. Man muss ihn ermutigen, denn“ — und Bourgeois fuhr fort, mir mit Feuer die Gründe auseinanderzusetzen, aus welchen, seiner Ansicht nach, die Bewegung unterstützt werden sollte. Die volle Assimilation — nach langen Zeiten zwar nicht unmöglich, — liege noch in zu weiter Ferne; bis dahin müssten noch, wenn sie sich nicht losreißen, zu viele Individuen leiden. — „Das Individuum ist doch überall die Hauptsache — Allgemeinheit ist nur ein abstrakter Begriff . . . Bis jetzt ist die Judenheit noch zu sehr charakteristisch, von den Übrigen verschieden, als dass sie unbemerkt sich amalgamieren könnte. Sowohl an ihren Fehlern, wie an ihren hervorstechenden Tugenden erkennt man sie. Verschiedenheit bedeutet nicht Minderwertigkeit — niemand soll es sich gefallen lassen, wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser oder jener ethischen Gruppe insultiert zu werden. Zionist sein, heißt: gegen den Antisemitismus Front machen. Und mehr noch fast als die Juden, wird die übrige Bevölkerung durch den Judenhass geschädigt — er wirkt verrohend, er wirkt kulturhemmend; namentlich hemmt er die Verwirklichung der Ideale, in deren Namen wir im Haag versammelt sind . . . Freilich bringt die Kultur nach und nach alle ihre Aufgaben zuwege — sie hat ja die endlose Zeit vor sich — aber um was es sich bei aller Wohlfahrtstätigkeit handelt, das ist die Beschleunigung des Fortschritts — darum willkommen alle frische, kühne Betätigung der Energie! Von einer neu zusammengeschlossenen Nation, die sich zu bejahen wagt, und die aus so intelligenten, erwerbsklugen und talentvollen Elementen zusammengesetzt ist, ließe sich eine Bereicherung der allgemeinen Kulturarbeit erhoffen und dem Antisemitismus wäre sein Hauptaktionsfeld entzogen, das Hauptobjekt seiner Schmähungen — nämlich „ein versprengtes Volk“. Ich bleibe dabei, man soll den Zionismus encouragieren.“

„Sie vergessen eines in Ihrem Plädoyer. Es handelt sich vor allem Bedrängten und unglücklichen Hilfe, rasche Hilfe zu bringen.“

„Natürlich — dies in erster Linie. Das ist aber selbstverständlich — ich wollte nur diejenigen Seiten der Frage beleuchten, die entfernter liegen, nur solche Argumente vorbringen, die man bestreiten könnte.“

„Selbstverständlich — naheliegend . . . ach, das ist's, was gewöhnlich am schwersten verstanden, am wenigsten beachtet wird! Wenn man über Zionismus debattieren hört, so bekommt man alle möglichen philosophischen und sozialpolitischen Dinge zu bedenken, dass aber hunderttausende von armen Menschen, die im tiefsten Jammer schmachten, gerettet werden können — werden müssen, daran denkt man nicht.“

„In der Tat. Am häufigsten wird, und besonders in unseren dem Zionismus abholden Kreisen, das folgende Argument vorgebracht: Seien wir froh, dass wir in den Juden ein kosmopolitisches Element besitzen, dass die Gelehrten und Künstler und Denker unter ihnen außerhalb der nationalistischen Ideen wirken und schaffen.“

„— — Als ob alle Juden nach Palästina gehen müssten“, unterbrach ich, „wenn es für die Verfolgten unter ihnen eine Zufluchtsstätte gäbe!“

„Das Argument ist nach anderer Richtung falsch,“ versetzte Bourgeois. „Man könnte hoffen, dass die human-kosmopolitischen Prinzipien, die einen Teil der Judenschaft beseelen, zum Allgemeingut werden könnten, wenn die Juden stark und zahlreich genug wären, um die anderen zu absorbieren; das ist aber nicht der Fall.“

„Gewiss. — Und nun, mit Nachdruck Kosmopolit sein zu können, d. h. zu erkennen, dass die Interessen der Menschheit die Interessen des Vaterlandes überragen, oder vielmehr in sich begreifen, muss man — „

„Muss man vor allem ein Vaterland haben,“ ergänzte Bourgeois.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen