A. Gundaccar von Suttner: Antisemitismus und Zionismus

Ich muss gestehen, mir war es immer unbegreiflich, warum die zionistische Bewegung inmitten der Judenschaft, und noch dazu der wohlsituierten, gebildeten Judenschaft Gegner fand. Wer noch an den alten Traditionen des jüdischen Volkes hing, musste in dieser Bewegung etwas Großes, etwas Begeisterndes erkennen, — geben wir zu: einen Zug von Romantik, aber von einer Romantik, die Greifbares, Ausführbares, mit einem Wort einen gesunden Kern enthält. Wer hingegen seine alten Überlieferungen in die Rumpelkammer geworfen, durch die Vergangenheit einen Strich gezogen hat und zu einer immer fortschreitenderen Assimilierung mit dem Christentum hinneigt, der musste ebenso dem Zionismus Sympathie entgegenbringen, denn er will ihm ja die Befreiung von solchen Stammesgenossen bringen, die sich in absehbarer Zeit nicht assimilieren können.

Ganz richtig bemerkte jüngst ein hervorragender Schriftsteller (es war Nordau oder Lazare), man sei gewohnt, im Judentume nur das jüdische Bürgertum zu sehen, während die Millionen, welche das Proletariat bilden, ganz unbeachtet blieben. Aber gerade diesen Teil der Judenschaft muss man ins Auge fassen und gerade da muss man fragen: Kann wirklich jemand ernstlich glauben, dass bei dieser elenden Plebs eine Assimilierung denkbar ist? Wer sollte diese Verschmelzung vermitteln, wer sich aktiv und subjektiv dabei beteiligen? Zu einer solchen Verschmelzung ist eine Grundbedingung unumgänglich notwendig. Der logische Anlass, und dieser fehlt in jenem untersten Stande absolut. Was konnte einen christlichen Handwerker, Arbeiter, Knecht veranlassen, in eine jüdische Proletarier-Familie zu heiraten? Die Liebe? Guter Gott, die Liebe spielt heutzutage in den untersten Schichten eine fast noch geringere Rolle, als in den oberen. Der kleine Mann sucht als Lebensgefährtin eine gute Köchin, Haushälterin, die ihm keinerlei Lasten in Form eines bettelhaften Familienanhanges zubringt, sondern im Gegenteile noch ein Paar Gulden Ersparnisse hat, mit denen man sich für das Notwendigste einrichten kann. Wird er die passende Hausfrau also dort suchen, wo Not und Elend und Entbehrungen zuhause sind?


In den siebziger Jahren hat es in Österreich (übrigens auch in anderen Ländern) Assimilierung durch Heirat in den höheren Ständen gegeben; doch auch hier fand sich der logische Anlass: auf der einen Seite, Ehrgeiz, Eitelkeit, auf der andern Geschäft. Die Franzosen fanden einen eigenen Ausdruck dafür: „fumer ses terres“, — „seine Ländereien düngen“ — sagte man, wenn ein Mitglied der Aristokratie einen solchen Bund schloss, durch den er dafür, dass er seinen Namen und Titel als Morgengabe brachte, sich von drückenden Schulden befreite, und das Schloss seiner Väter wieder im einstigen Glänze aufrichtete. Was erleben wir aber zumeist an der Frucht dieser Assimilierung? Dass die Kinder durchaus nicht das vermittelnde Agens zwischen einst und jetzt werden, sondern dass sie den hasserfülltesten Antisemitismus an den Tag legen und dies sogar gegen den eigenen Elternteil jüdischer Abstammung. Wenn also die Behauptung aufgestellt wird, die Assimilation wäre das einfachste Mittel, um den Antisemitismus verschwinden zu machen, so ist das ein ungeheurer Irrtum. Geradeso, wie es ein Irrtum ist, im Antisemitismus eine religiöse Bewegung zu erblicken; er ist ganz entschieden eine Massenbewegung. Und wenn in der ganzen Frage überhaupt von Logik die Rede sein kann, so ist der Antisemitismus der Deutschnationalen noch logischer zu nennen, als der der Christlich-Sozialen. Das Christentum ist ja streng genommen nichts anderes als eine jüdische Sekte. Christus wurde nach den Lehren der Kirche als Jude geboren und erzogen. Die heiligen Gesetze der Juden gelten ebenso den Christen heilig, indem sie in der Bibel, im alten Testamente als von Gott erlassen anerkannt werden. Selbst im christlichen Cultus, in der Kleidung der Priester und Bischöfe findet man noch Reminiszenzen an das alte Judentum. Wenn somit die Christlich-Sozialen auf ihr Christentum pochen, so ist das ein Nonsens, denn sie können nicht anders, als gleichzeitig auch ihr Judentum hervorheben. Anders die Deutschnationalen, die sagen zu können glauben: „Uns hat man die alten Götter der Walhalla vom Throne gestürzt, uns hat man eine Konfession aufgenötigt, die von den Juden kommt!“ Allerdings wird es heute wenig Deutschnationale geben, die ihren direkten Ursprung von den Verehrern Wotans ableiten können; keinesfalls dürfte dieser Nachweis ihren Führern Schönerer und Wolf gelingen. Wenn somit die Assimilierung nicht die erwartete Lösung bringen kann, was dann? Eine vollständige Lösung wird es meiner Meinung nach überhaupt erst geben, wenn die Menschheit auf einen Grad der Zivilisation gebracht ist, wie er nicht viel höher erstrebt werden kann. Darüber werden aber noch viele Jahrhunderte vergehen.

Erst wenn der Mensch eine angeborene, eine ererbte Moral mit ins Leben bringen wird, wenn er nicht mehr die übertünchte Bestie sein wird, erst dann werden die durch die Menschheit selbst verursachten Leiden der Welt geschwunden sein. Aber eine teilweise Remedur gäbe es schon heute und diese Remedur hat, glaube ich, der Zionismus gefunden. Werden wir uns nur einmal über den Antisemitismus klar. Er ist, wie gesagt, eine Rassenbewegung, wie man sie in anderen Ländern ganz analog — in Amerika z. B. gegen die Schwarzen findet, im Orient gegen die Armenier. Der Antiarmenismus existiert nicht allein in der Türkei; er besteht auch in den russisch-asiatischen Provinzen, besonders in solchen Städten, wie Tiflis, Eriwan etc. wo Handel und Geldverdienst in den Händen der Armenier liegen. Die Armenier, ein indogermanischer Stamm, haben mit den Semiten gar nichts gemein. In den Ländern, welche sie in den Vorzeiten eroberten, bildeten sie sogar den kriegerischen Lehensadel, und nannten sich stolz „Haikh“, die Herren. Und heute spielen sie dort, wo sie zahlreicher ansässig sind, genau dieselbe Rolle, wie bei uns die Juden. Der kleinste, heruntergekommenste, georgische Adelige wird sich hoch erhaben über den armenischen Millionär fühlen; er wird ihm vielleicht die Ehre erweisen, eine Einladung anzunehmen, um endlich einmal wieder ein ordentliches Essen in den Leib zu bekommen, aber hinterher wird er sich über den „Parvenü“ lustig machen, und er muss schon gehörig am Hungertuche nagen, um sich zu einer solchen Mesalliance, einer Heirat mit einer Armenierin zu entschließen. Ich wollte nur an diesem Beispiel zeigen, dass die Religion bei derlei Völkergegnerschaften nichts zu tun hat; die Eingeborenen Kaukasiens sind Christen und doch besteht diese Antipathie schon seit längerer Zeit. Nun kommt aber noch ein Faktor hinzu, der geeignet ist, diese Abneigung zu verschärfen: Der Kampf um den Mammon. Die einwandernden Völker bringen in das Land, in welchem sie sich niederlassen, immer eine frischere Lebenskraft, somit auch eine größere Energie mit, als die seit alten Zeiten Sesshaften sie besitzen. Wir sehen in den amerikanischen Milliardären nicht die Nachkommen der ursprünglichen Squatters, Trappers und anderer Landerbeuter, sondern fast durchwegs spätere Einwanderer, die den Markt erobern kamen.

Die Instinktive Abneigung gegen die sogenannten „Fremden“, wenn diese auch schon seit der Altvordern Zeiten ansässig sind, geht in Hass über, sobald diese „Fremden“ Beweise von Superiorität liefern. Daher das Treiben in Wien gegen die „jüdischen“ Advokaten, die „jüdischen“ Ärzte, die „Judenpresse“, die „jüdischen“ Handelsleute. Der objektiv denkende Mensch sagt sich: „Es ist ganz gerecht und naturgemäß, wenn der Talentiertere, der Fleißigere, der Unternehmendere eher auf einen grünen Zweig kommt, als jener, der diese Eigenschaften entweder nicht besitzt, oder nicht zur Geltung zu bringen vermag.“ Anders aber zieht dieser gewisse „Jene“ seine Schlüsse; er sagt : „Wenn die Talentierteren, Fleißigeren, Unternehmenderen nicht da wären, so müsste man mit uns Vorlieb nehmen und wir hätten heute ihre Stellen inne.“ Ob die übrige Menschheit dabei gut bedient wäre, ist ihnen natürlich einerlei; Selbstessen macht fett.

Dass die Idee des Zionismus nicht die ganze Judenschaft gepackt hat, halte ich aus partikularistischen, also egoistischen Gründen für ein Glück. Man müsste den Fortziehenden gerade so nachjagen, wie es der Überlieferung nach der ägyptischen König tat. Für sehr glücklich hingegen halte ich es, dass der Zionismus bei einem Teile Begeisterung gefunden hat, und zwar hauptsächlich bei jenem Teil, dem Degenerierung und Untergang in Europa droht. Man kann annehmen, dass heute aus dieser ganzen großen Masse, die in den slavischen Ländern im Proletarier-Elend lebt, vielleicht 1/100% sich aus seiner Umgebung herauszuarbeiten und in bessere Lebensstellung zu gelangen vermag. Wie viele Talente können dies aber nicht und gehen dort frühzeitig in Not, Hunger und Überarbeitung zugrunde. Und wie anders würde sich das Verhältnis nun gestalten, wenn diese unglücklichen Parias in eine andere Lage gebracht würden, wenn sie sich in einem Lande zu gemeinsamer Arbeit, zu gemeinsamer Entwicklung, zur moralischen und physischen Gesundung zusammenfänden, in einem Lande, wo sie sich endlich wieder als Menschen, als vollwertige, existenzberechtigte Menschen fühlen dürften!

Mir ist es unfasslich, dass die jüdischen Gegner des Zionismus, das sind die gutsituierten Juden, die Sache nicht von diesem Standpunkt aus betrachten und statt den Führern der Bewegung Dank zu wissen, diesen nur Hindernisse in den Weg zu legen trachten. Gerade ihnen müsste es ja eine Befreiung sein, ihre Hungerleider in ein fernes Land versetzt zu wissen, wo ihnen die Möglichkeit geboten ist, sich aus ihrem niedrigen Niveau auf eine höhere Stufe zu erheben. Dadurch würde ja auch voraussichtlich das Ansehen des ganzen Judentums steigen, statt dass dieses, wie das gegenwärtig der Fall ist, immer tiefer sinkt. Der Prozess von Polna hat nur ein wenig in das Innere jener Ghettos blicken lassen, von deren Existenz die meisten Menschen bisher keine Ahnung hatten. Was sind das für Individuen diese Hilsners, die es in jenen Gegenden in Massen zu geben scheint, die in Trägheit, Arbeitsscheue und Vagabundendrang verkommen und immer und ewig dafür sorgen, dass das alte Märchen nicht aus der Welt schwindet? Wer trägt die Schuld, dass solche problematische Existenzen frei umherlaufen, die Gegend unsicher machen und ihre eigenen Stammesgenossen in immerwährende Gefahr bringen? Doch nur das Land selbst und in weiterer Hinsicht der Staat. In früheren Zeiten hat man solche Burschen in den Soldatenrock gesteckt und Mores gelehrt; heut nimmt man die Arbeitsamen, bringt sie um ihre Existenz und lässt die Vagabunden laufen. Ist also das Land resp. der Staat nicht fähig, diese Individuen auf den rechten Weg zu führen, so sollte er wenigstens jenen Dank wissen, die ihn davon in der Weise befreien wollen, dass sie solche Familien einer besseren Existenz zuführen, deren Sprösslinge unter den obwaltenden Verhältnissen auf der Gasse und schließlich im Kerker enden müssen. Zudem wurde der Staat immer dabei profitieren, wenn er zu solchen Zwecken der zionistischen Bank eine bestimmte Summe pro Familie zusicherte. Die ganze Affäre Hilsner, in der noch lange nicht das letzte Wort gesprochen ist, wird der Regierung zu guter Letzt eine Summe gekostet haben, mit der sie manchem strebsamen Familienvater die Gründung eines Heims in Palästina ermöglicht hätte.

Solange das jüdische Elend in Europa geduldet wird, ebenso lange wird auch eine radikale Ausrottung des Antisemitismus unmöglich sein. Gegen wen kühlen eigentlich die Antisemiten ihr Müthchen? Doch nur gegen die Kleinen, wenn sie auch dabei die Großen zu treffen und zu kränken wähnen. Wird es auch nur einem aus der Schar, ja selbst dem verrücktesten Ritualmordriecher Schneider einfallen, gegen einen Rothschild eine ähnliche Beschuldigung zu schleudern? Gewiss nicht; seine eigenen Parteigenossen würden dafür sorgen, dass er stracks ins Irrenhaus käme. Um ihre Hetze wirksam fortzusetzen, um das Judentum in seiner Gesamtheit zu treffen und herabzuwürdigen, brauchen sie ganz speziell jüdische Bettler und Vagabunden. So einen Kerl hängt man ja auch leichter, und baumelt er am Galgen, so geht dann der Ruf durch die Reihen: „Da habt ihr den Beweis!“

Die Zionisten haben sich längst damit beschieden, auf die Teilnahme jener Glaubensgenossen zu verzichten, die mit ihrem Lose zufrieden sind und sich durch den Antisemitismus nicht getroffen fühlen. Wie sich heute die Bewegung entwickelt hat, besteht nicht mehr das bedingungslose Losungswort: „Auszug Aller ohne Ausnahme!“ Mit vollem Rechte können sie aber von der gesamten Judenschaft verlangen: Hindert uns wenigstens nicht, jene zu Menschen zu machen, mit denen ihr selbst nichts gemein haben wollt! Helft uns im Gegenteil, den Mühseligen und Beladenen ein Heim zu bieten, das sie in der Diaspora nie und nimmer haben werden.

Und wir Nichtjuden, die wir aus Humanitätsgründen dieser Bewegung sympathisch gegenüberstehen, wir können den Führern nur unsere Anerkennung und unseren Dank aussprechen, dass sie unter schweren Mühen und Opfern ihre Stammesgenossen aus den Tiefen des Elends herausziehen wollen zur lichten Höhe der Gesittung und der Kultur.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Zionisten und Christen