Obergericht

Während Nettelbladt somit vielfach und nicht immer zur Zufriedenheit der Stadtbehörden in die innerste städtische Verwaltung eingriff, lagen der Regulierung noch manche Aufgaben ob, deren Erfüllung einem Wunsch der Stadt entsprach. Dazu gehörte die Stellung Wismars unter das Oberappellationsgericht zu Parchim und die Freigabe des unmittelbaren Appellationszuges an dasselbe. Gleich nach der Wiedereinverleibung war Wismar bis auf Weiteres unter das Hof- und Landgericht zu Güstrow und mit dem Oktober 1818 unter die dortige Justizkanzlei gestellt worden. Wismars Bemühungen, schon damals unter das Parchimer Oberappellationsgericht, wenn auch zunächst nur provisorisch, gestellt zu werden, hatten noch keinen Er-folg. Am 2. August 1820 wurde für die wismarschen Rcchtshändel einstweilen wohl der Rekurs von der Güstrower Justizkanzlei an das Oberappellationsgericht nach erwirkter Erlaubnis des Großherzogs oder des Regierungskollegiums gestattet. Aber die nähere Bestimmung des Verhältnisses der Stadt zum Oberappellationsgericht wurde der nächsten Regulierung vorbehalten. *) Von Seiten der Regierung wurde die Gewährung des Wunsches der Stadt abhängig gemacht von einer gehörigen Organisierung des Justizwesens und von einer Außerkraftsetzung der alten Tribunalsordnung. Nettelbladt hatte daher zunächst das wismarsche Justizwesen zu untersuchen. Es entsprach nicht den gestellten Anforderungen; namentlich rügte der Kommissar die auffallenden Verschleppungen bei den Konkurs- und Kuratelsachen. Durch Denkschriften Haupts und des wismarschen Syndikus Dahlmann wurde zunächst die Einführung der Großherzoglichen Oberappellationsgerichtsordnung vorbereitet.

*) Ratsarchiv Tit. VIII, No. 2, Vol. 8.


Aber auch solche Gegenstände, bei denen die Regierung und die Stadt im wesentlichen dasselbe Ziel verfolgten, gingen nicht ohne Streitigkeiten ab. Nachdem der Rat sich bereit erklärt hatte, das zu gründende städtische Obergericht nach Nettelbladts Vorschlägen einzurichten, überreichte unterm 13. November 1827 die Regierung ein Regulativ für dasselbe. Dabei wurde vorgeschrieben, dass das Obergerichtspersonal aus einem rechtsgelehrten Bürgermeister, dem Syndikus und einem von niedergerichtlichen Funktionen freien Ratsherrn bestehen müsse.

Die dadurch notwendige Anstellung eines dritten rechtsgelehrten Ratsherrn fand nicht den Beifall des Rats. Dieser nahm es ferner als sein gutes Recht in Anspruch, das Obergericht selbständig zu organisieren, und verlangte Zurücknahme des erteilten Regulativs. Dazu kamen noch kleinere Häkeleien wegen Beibehaltung der Tribunalsordnung für die innerwismarsche Rechtsprechung und wegen Unterordnung der Hebungen unter das wismarsche Obergericht. Der Rat gedachte, mit der Eröffnung des Obergerichts zu warten, bis die Verhandlungen Klarheit über die Notwendigkeit eines dritten rechtsgelehrten Ratsherrn verschafft hätten. Erst nachdem die Regierung die einstweilige Eröffnung mit zwei Mitgliedern zugestanden hatte, erklärte sich die Stadt bereit dazu, ohne sich jedoch damit zur Wahl eines weiteren Senators verbindlich machen zu wollen. Am 28. Mai 1828 erging der gemeine Bescheid über die erfolgte Eröffnung des Obergerichts. Die scharfen Auseinandersetzungen mit der Regierung gingen aber weiter. Die Stadt erreichte endlich, dass ihr die Jurisdiktion erster Instanz über die Hebungen eingeräumt wurde. Dagegen stieß ihr Versuch, die Vereinbarung über diesen Punkt vom Ergebnis der Gesamtregulierung, insbesondere von der Aufnahme in den ständischen Verband abhängig zu machen, auf starken Widerstand der Regierung. Da außerdem die Aussichten der Gesamtregulierung immer trüber wurden, musste sich die Stadt, um nur etwas zu erreichen, zu dem Sonderabkommen über das Justizwesen entschließen. Es wurde am 21. Mai 1829 von Bürgermeister und Rat unter Zustimmung der Bürgerschaft genehmigt.

Während der Besprechungen der wismarschen Justizverhältnisse hatte Nettelbladt den Vorschlag gemacht, das wismarsche Konsistorium aufzuheben und die geistliche Gerichtsbarkeit für die Stadt und das städtische Gebiet dem Rat zu übertragen, der sie durch das Konsulat (d. h. die Bürgermeister und den Syndikus) unter Zuziehung der Geistlichkeit zu verwalten haben würde. Der Vorschlag erschien Haupt „außerordentlich annehmlich“, da er nicht nur das Fortbestehen des geistlichen Gerichts am Orte sicherte, sondern auch die Machtbefugnisse des Rats erweiterte.

Der Rat war um so geneigter, auf Verhandlungen über diesen Gegenstand einzugehen, als sich schon früher bei der Regierung starke Neigung zur Aufhebung des wismarschen Konsistoriums gezeigt hatte. *) Jetzt konnte man der Stadt vieles erhalten, was bei einer später doch unvermeidlichen Aufhebung wahrscheinlich verloren gegangen wäre. Die Verhandlungen mit Nettelbladt nahmen unter solchen Umständen einen günstigen Fortgang und führten zu einer umfassenden Regelung der gesamten kirchlichen Verhältnisse Wismars. Die Befugnisse des aufgehobenen wismarschen Konsistoriums gingen nur zum Teil auf das Rostocker Konsistorium über: für die inneren Verlöbnis- und Ehesachen wurde ein wismarsches Ehegericht eingesetzt, das aus dem neuen Obergericht und drei zugezogenen Pastoren gebildet wurde. Auch im Dispensationswesen erlangte Wismar wesentliche Begünstigungen. Im März 1829 war alles fertig.

*) Vgl. Oberkirchenratsregistratur.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wismar unter dem Pfandvertrage, 1803 bis 1903