Rathausbau

Aber diese durch den Krieg hinzu gekommene neue Schuldenlast der Stadt stellt ja nur einen ganz kleinen Teil der Schwierigkeiten dar, mit denen die Stadtverwaltung zu jener Zeit zu kämpfen hatte. Die schon vor der Kriegszeit arg vernachlässigten öffentlichen Bauten gingen jetzt mit Riesenschritten dem völligen Ruin entgegen. Die Marienkirche war schon vorher sehr verfallen; nun wurde sie noch von französischem Militär zu Übungszwecken benutzt und bekam dadurch „mehr das Ansehen einer Mörderhöhle als eines Bethauses“. Nicht besser erging es den Kirchen zum Heiligen Geist und zum Schwarzen Kloster. *) Ihr Verfall schien nicht mehr aufzuhalten. Und schlimmer noch war, zumal bei der ohnehin herrschenden Sittenlosigkeit, die Verwilderung der Gemüter durch den Anblick solchen Unfugs, der nicht einmal zur Zeit der Gottesdienste unterblieb. Bis zu welchem Grade der Verwahrlosung die öffentlichen Bauten gediehen waren, zeigte sich in erschreckender Weise am Rathause der Stadt: In der Nacht vom 22. auf den 23. Mai 1807 stürzte ein Teil seines Daches ein, wodurch ein großer Teil des Gebäudes fast vollständig zerstört wurde. **) Die Kämmerei, der die Verwaltung der städtischen Güter und Bauten oblag, wurde mit der Wiederherstellung des Daches beauftragt. Ihre Kasse war aber so erschöpft, dass sie nicht einmal die außer dem Bau-holz und den Arbeitslöhnen auf 2.233 Taler veranschlagten Kosten aufbringen konnte. Unterstützungsgesuche bei der Regierung hatten nur einen äußerst geringen Erfolg. So musste die notwendige Arbeit unterbleiben. Die Ruinen des großen Gebäudes ragten gen Himmel als ein allen sichtbares Wahrzeichen des bejammernswerten Zustandes der Stadt. Ein im Jahre 1809 durch Einsetzung einer rätlich-bürgerschaftlichen Kommission von Neuem gemachter Versuch, den Bau in Gang zu bringen, musste gleich wieder aufgegeben werden, da die Kämmerei dafür nur 558 Taler zur Verfügung stellen konnte; und selbst diese kaum, da der fällige Beitrag zu den Landes-Kriegsschäden noch nicht berichtigt war.

*) Bericht des Superintendenten Koch vom 1. Dezember 1807 in der Ober-Kirchenratsregistratur.
**) Ratsarchiv Tit. XIII, No. 5, Vol. 2.


Erst 1815 wurde diese Angelegenheit dadurch wieder angeregt, dass mehrere bemittelte Einwohner eine größere Summe zur Wiederherstellung des Rathauses anzuleinen versprochen hatten. Der Rat wünschte auf dem Wege freiwilliger Zeichnungen weiter zu gehen, da die Kämmerei immer noch außer Stande war, die Baumittel zu beschaffen. Nun aber hinderte der Ausschuss durch sein Verlangen, dass zuvor die von Behörden vorgenommenen Kriegsrequisitionen zurückerstattet würden.

Inzwischen war aber der Verfall des Gebäudes mit Riesenschritten weitergegangen. Und dabei musste die Ruine in ihren noch halbwegs brauchbaren Teilen weiter benutzt werden, weil die zum Ersatz gemieteten Räume nicht ausreichten. Im Juli 1815 wurden auch die Räume, die dem städtischen und Hebungsarchiv dienten, unbrauchbar, da Regen- und Schneewasser durchdrang und die Akten verdarben. Bald darauf zeigte der Stadtsekretär Walter an, „dass er nicht mehr ohne Lebensgefahr ins Archiv gehen könne, indem in dem größten Archivzimmer schon acht Steine, die jeder einen Menschen totfallen könnten, oben aus dem Ge-wölbe des Zimmers losgeweicht und herabgefallen wären“. Dazu kamen die immer dringenderen Klagen der Anwohner, die durch den mit Sicherheit zu erwartenden Einsturz des ganzen Gebäuderestes geängstigt wurden. So sah sich endlich am 28. August 1816 der Rat genötigt, den Abbruch der den Einsturz drohenden Teile der Ruine zu verfügen, „zumal die Anwohner des Gebäudes wegen drohender Lebensgefahr aufs dringendste darum gebeten haben und Senatus ihr Gesuch nur gerecht und billig finden kann“. Jetzt endlich schien auch der wieder aufgenommene Versuch, mit Hilfe freiwilliger Beiträge die erforderliche Summe zusammenzubringen, glücken zu sollen. Im Frühjahr 1817 wurde die Wiederherstellung mit Unterstützung des Hof- und Landbaumeisters Barca begonnen, wenn auch die Mittel bei Weitem noch nicht gedeckt waren. Nachdem das Gebäude wieder unter Dach und Fach gebracht war, wurde am 27. September 1817 eine etwas verfrühte Wiederherstellungsfeier begangen. Der größere Teil der Arbeit fehlte aber noch, und dabei waren die von der Baukommission zusammengebrachten Mittel nicht nur vollständig verbraucht, sondern noch bedeutende Schulden gemacht. Gleichwohl musste unter allen Umständen eine Unterbrechung des Baues vermieden werden, denn es hatte sich gezeigt, dass ein großer Teil des alten Gebäudes, den man hatte stehen lassen wollen, baufällig und gänzlich unhaltbar war. So wurde aus der anfänglich nur beabsichtigten Reparatur allmählich ein Neubau. Die zunächst notwendigen Geldmittel wurden durch Inanspruchnahme einer privaten Kriegsentschädigung von 3.439 Talern und durch den Verkauf der Ratsapotheke gewonnen. Im November 1818 betrugen die Schulden der Baukommission aber schon wieder 5.626 Taler. Am 18. Oktober 1819 konnte das neue Rathaus feierlich eingeweiht werden. Die Gesamtkosten hatten annähernd 33.000 Taler betragen, wovon 2.572 aus freiwilligen Beiträgen herrührten. Nachträglich wurde noch der Balkon im Jahre 1820 gebaut, und die innere Einrichtung, besonders die des Audienz- und Schauspielsaales hat noch manches Jahr in Anspruch genommen.

So war dies Werk glücklich zu ende geführt. Mit seinem Bürgermeister v. Breitenstern konnte Wismar voll Stolz darauf zurückblicken, denn es war nächst der Abbürdung der Kriegsschuld das erste große Unternehmen, das der Stadt in dieser trüben Zeit trotz der, noch lange nicht überwundenen Kriegsdrangsale, trotz völliger Erschöpfung der städtischen Kassen gelungen war. Zwar hatte es mehrerer Anläufe bedurft; nun aber stand das Werk vollendet da. Und wie noch vor kurzem die öde Ruine die unheilvolle Zerrüttung des Gemeinwesens veranschaulicht hatte, so ließ jetzt der Neubau erkennen, dass sich nach hoffnungslosem Niedergang wieder neue Kräfte zu regen begannen, die auch unter denkbar ungünstigen Verhältnissen ihre Sache zum Ziel zu führen verstanden. Hielten diese Kräfte vor, so musste Wismar wohl endlich wieder in die Höhe kommen. Aber erlahmen durften sie nicht, denn es blieben noch gar zu viele Hemmnisse hinwegzuräumen, bis die alte verfallene Stadt auf die Bahn eines stetigen und gesicherten Fortschritts gelangen konnte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wismar unter dem Pfandvertrage, 1803 bis 1903