Armenwesen

Die Armenversorgung *) hatte früher in Wismar ausschließlich auf den milden Stiftungen und auf Privatmildtätigkeit beruht. Erst mit Anfang des 19. Jahrhunderts wurde, besonders um der immer drückender werdenden Straßenbettelei abzuhelfen, eine allgemeine Armenanstalt unter behördlicher Aufsicht errichtet. Die dazu notwendigen Mittel sollten durch freiwillige Beiträge aufgebracht werden. Die Verordnung vom 22. Dezember 1803, durch welche die Armenanstalt ihre Organisation erhielt, bestimmte die Zurückweisung der Vagabunden an den Toren der Stadt, die Einschärfung des Betteleiverbots gegenüber den mit Erlaubnisschein auf ein bis zwei Tage eingelassenen Handwerksburschen unter Androhung körperlicher Strafe und Versorgung der Ortsarmen durch Arbeitserteilung oder Geldunterstützung von Seiten der Armenkommission.

*) Ratsarchiv Tit. IV, Vol. 38; Tit.. XIX, No. 5, Vol. 14 und 32.


Aber die freiwilligen Beiträge flossen bald spärlicher und spärlicher, so dass die mit dem Armenwesen verbundene Arbeitsanstalt sich nicht halten konnte. Dabei wurde von den Einwohnern auf öffentlicher Straße eine Privatmildtätigkeit geübt, die den Zwecken der Armenanstalt schnurstracks zuwiderlief und durch Verordnung vom 27. März 1804 bei Strafe von 2 Talern verboten werden musste. So beschlossen im Jahre 1809 Rat und Bürgerschaft, um der Armenanstalt zu Hilfe zu kommen, dass von der Armenkommission eine Beitragstaxe angefertigt würde, deren Ansätze eingetrieben werden sollten. 1811 wurde diese Einrichtung dahin abgeändert, dass die einzelnen Zünfte und Kompagnien ihre Mitglieder einschätzen sollten, jedoch unter Aufsicht einer aus Rat und Bürgerschaft niedergesetzten Kommission. Durch entstehende Prozesse wegen Zwangsvollstreckung wurde man indessen genötigt, für eine gesetzliche Grundlage zu sorgen. So kam unterm 7. Juli 1813 eine Verordnung zustande, durch welche die allgemeine Beitragspflicht zur Armenanstalt und in Anlehnung an das außerordentliche Kontributionsedikt die Normalsätze festgestellt wurden. Für jedes Jahr sollte nach dem obwaltenden Bedürfnis die zur Hebung kommende Summe besonders bestimmt werden.

Das Geschäft der Armenkommission bestand im wesentlichen immer noch in der Verteilung barer Unterstützungen; an genügender polizeilicher Aufsicht über die Armut mangelte es noch gänzlich. Eine solche war aber um so dringender nötig, als infolge neuer gesetzlicher Anordnungen die Bewohner des platten Landes anfingen, in die Städte zu drängen, und diese dadurch in Gefahr gerieten, von dürftigen Einwohnern überfüllt zu werden. 1819 schon griff man zu dem Mittel der Quartiervisitationen: besonders dazu angestellte Bürger mussten die in sechs Quartiere eingeteilte Stadt wiederholt visitieren, um zu erkunden, ob sich nicht Fremde eingeschlichen hätten. Unter stillschweigender Billigung der Stadtobrigkeit nahmen die Quartierbürger nun auch Revisionen der Verwaltung der Armenanstalt vor, indem sie prüften, ob deren Unterstützungen auch an Bedürftige und deren Verhältnissen entsprechend verteilt wurden. Die Berechtigung dazu ward den Quartierbürgern nachträglich durch Publikandum vom 20. März 1820 zuerkannt.

Jetzt wurde auch ein neuer Versuch mit einer öffentlichen Arbeitsanstalt unternommen, die aber wiederum nach kurzer Zeit wegen fehlenden Absatzes — sie hatte Spahnflechterei betrieben — einging. Fruchtbar wurde dagegen die Tätigkeit der Quartierbürger: aus ihr erwuchs die Anregung zu einer Reform der Armenanstalt, und im April 1820 wurde die Armenkontribution zu einer stehenden städtischen Abgabe, für die es keiner jährlichen Bewilligung durch den Ausschuss mehr bedurfte. Aber bald kamen die heilsamen Quartiervisitationen wieder ins Stocken und die Straßenbettelei nahm wieder überhand. 1824 richtete die Armenkommission eine Verpflegungsanstalt für die von ihr zu unterhaltenden Kinder ein, weil deren Unterbringung bei einzelnen Familien doch sehr große Nachteile für die körperliche und sittliche Ausbildung in sich barg. Durch diese Anstalt und die in ihr gewonnenen Erfahrungen ward die Errichtung der Arbeitsanstalt vorbereitet. 1825 wurde diese wiederum beschlossen. Das Rüdemannsche Testament, das schon bei den früheren Versuchen Beiträge geleistet hatte, erbot sich, zur ersten Einrichtung der Arbeitsanstalt 3.000 Taler beizusteuern und dieselbe weiter mit den Zinsen eines gleichen Kapitals zu 5 vom Hundert zu unterstützen. Die Quartiervisitationen wurden wieder ins Leben gerufen und den Quartierbürgern unterm 28. April 1827 eine genaue Instruktion erteilt. Unterm 19. September 1827 endlich wurde die neue Armenordnung erlassen, die in zweckmäßiger Weise die Armenpolizei *) mit der Leitung des Armenwesens verband und das Institut der Quartierbürger für sie benutzte. Auch die Bestimmungen über Arbeits- und Krankenhaus waren der neuen Armenordnung eingefügt. Damit war dem wismarschen Armenwesen zum ersten Mal eine feste und breite Grundlage gegeben. Dass dieser Abschluss erreicht wurde, war vor allem wieder das Verdienst des Bürgermeisters Haupt. Bald genug sollte er Gelegenheit finden, seine junge Schöpfung zu verteidigen.

*) Diese hatte früher mit der gesamten Polizeiverwaltung dem Gewett obgelegen. 1823 erst war ein eigenes Polizeidepartement errichtet worden, wobei aber die Gewerbe- und Medizinalpolizei dem Gewett verblieb.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Wismar unter dem Pfandvertrage, 1803 bis 1903