Der Schnee und die Lawinen

„Heut blüht ein Schnee! Seh'n Sie es nicht, das Schneegeblüh?"
Die hoch gehenden Lämmerwölkchen, welche aus feinen Eiskristallen bestehen, waren gemeint.
„Jetzt hat es auergeschnieben. Viel zu viel Schnee hat es heuer gemacht!“

Der Schnee von den ,Lanen' hat früher oft so hoch auf dem Brennerwege gelegen, dass für die Fuhrleute nur ein schmaler Weg durchgegraben werden konnte. Immer vier Mann schöpften sich den Schnee einander zu, und der blieb zu beiden Seiten hoch stehen. Ja, da wäre kein Hund außer gekommen, so hoch stand er!" erzählt der Huisum*).


„Wie ist es eigentlich mit der Lane, hat damit auch das ,Pfeiffer-Huisele'**) etwas zu tun?" fragten wir, als bei erneutem Schneefall man das Kommen der Lawinen befürchtete. „Von der Lane habe ich es nie gehört, dass das Pfeiffer-Huisele sie gehen macht! Dass sie von einem Schuss und vom Anschreien geht, das wohl!“ antwortete die Zenze, und der Seppe, ihr Neffe, der dabei stand, fügte hinzu:
„Geht die Windlane und die Schneelane zusammen, dann sind sie schneller als die Büchse (ein Büchsenschuss). Heustadel und ganze Wälder nehmen sie mit fort. Die Lane geht ihren Weg, den der ,Dasige' kennt und sich daher hütet, ihr in den Weg zu kommen. Der , Außerländer' kennt die Lanenwege nicht, und so bestimmte ein fremder Ingenieur, als die Bahn hier gebaut wurde, als Platz für ein Bahnwärterhaus eine durch die Lane gefährdete Stelle. Vergebens warnte ein alter Brenner, dort das Haus zu bauen, indem er sagte:
„Es kann ja sein, dass etliche Jahre hier keine Lane kommt, auch fünfzig Jahre kann sie ausbleiben; aber wenn hier eine den Berg herunterkommt, dann geht sie diesen Lanenweg!“

*) Ein alter Holzknecht, Bruder der Zenze.
**) Ein Hexenmännle, von dem viel erzählt wird.


Es wurde nicht auf ihn gehört, das Haus wurde, wo es bestimmt worden war, gebaut, und nachdem der alte Mann gestorben war, bezog sein eigener Sohn es als Bahnwärter. — — — Auf dieser gefährdeten Stelle und unter diesem Dache befand er sich mit seiner jungen Frau und mit seinen zwei kleinen Kindern, als die Lawine kam. Wie das Haus und die junge Häuslichkeit zerstört worden ist, erzählte uns des Bahnwärters Bruder, Hans Vetter, der ,Huisen Hans' genannt.

„Es war nach 3 Uhr früh. Wir sechs Brüder waren im Wächterhause des Bruders Valtl zusammen, weil eben eine Lane auf die Schienen herabgekommen war. Glücklicherweise verließen wir das Haus, um nach dieser zu sehn; doch der Bruder Valtl kehrte dahin zurück. Wir andern gingen heim. Ehe noch der letzte von uns, der Bruder Franzl, im Hause war, zeigte der Telegraph durch Getöse an, dass wieder eine Lane gefallen sei. Schleunig kehrte der Bruder um, fand die Telegraphenstangen umgerissen und vom Wärterhause nichts mehr zu sehen, als zwei Mauerreste, die aus dem Schnee herausstanden. Er rief uns und andere Leute herbei; doch waren wir nur etwa acht Mann, — weischt Du, — wir hatten nur wenig Licht, drei Stalllaternen, und wussten nicht, wo wir graben sollten. Der Bruder mit der Frau und den Kindern konnte ebensogut im Hause verschüttet liegen, als vor der Thür. Wir gruben etwa drei Stunden vergeblich, — die Lokomotive hatte auch noch mehr Arbeiter von Gossensass gebracht, — da warf Einer von uns einen großen Schneeklumpen, der wohl eine Elle im Durchmesser hatte, herum und — ein Kinderköpfchen, das des kleinen Mädchens, wurde sichtbar. Das Hemde und das Jäckchen waren ihm bis unter die Arme emporgestreift, so dass das ganze Körperchen, wie es der liebe Gott geschaffen hatte, im Schnee steckte. Sein Deckbettchen fanden wir später auf der anderen Seite des Eisack, und soweit war auch das meiste Hausgeräte und das Dach des Hauses fortgetragen worden. Das zweijährige Kind aber muss wohl sein Schutzengel gehütet haben, dass sein Köpfchen mit der Schaufel nicht beschädigt worden war. Auch war es ganz lendig (lebendig), weinte nur. Schleunig wurde es in einen Bahnwärterpelz gewickelt und ins nächste Haus gebracht.

Wieder gruben wir eine halbe Stunde, da sahen wir einen Fuß von der Frau, aber ein schwerer Baum vom Dachstuhl lag über ihrem Rücken, so dass wir nicht zu konnten. Einer von den Arbeitern sagte zu dem andern: „Lauf, hole eine Hacke, sonst bringen wir den Baum nicht fort!" Diese Worte hörte die Frau unter dem Schnee und dachte: „Bis der mit der Hacke kommt, bin ich erstickt!" Doch sie vermochte nicht zu rufen, dass die Leute sie hörten; auch schwand ihr bald die Besinnung. Wir aber warteten nicht auf die Hacke, sondern sägten das freigewordene Ende des Baumes ab, und da wurde die Frau zwar ohnmächtig, aber doch lebend hervorgezogen. Mit dem Kopf hatte sie unter dem Bette des Kindes gelegen und dadurch etwas Luft gehabt.

Wir fragten sie, wo ihr Mann sein könne. Endlich erholte sie sich so weit, uns verstehen zu können und zu sagen: „Vor der Türe!“ Noch eine halbe Stunde und man fand den Bruder Valtl, mit dem Herzen und der Brust neben der Tür auf die geborstene Mauer des Hauses gepresst. Seinen kleinen Sohn hatte er unter dem Arm. Beide waren tot. Der herbeigekommene Arzt erklärte, der Tod müsse augenblicklich eingetreten sein. Die Frau, welche sich unterdessen erholt hatte, erzählte, sie habe, nachdem wir gegangen wären, in der Küche gestanden, um Kaffee zu kochen, da sei der Mann hereingekommen und habe gerufen: „Die Lane! Nimm das Kind!" Aber obgleich sie dem Bübl näher gestanden hätte, als er, hätte sie es nicht mehr derthan, danach zu greifen. Wie der Mann es gekonnt, könne sie nicht verstehen; denn kaum hätte er gesprochen, so wäre ein furchtbares Gedröhne erschallt und dann wusste sie von nichts mehr.

Die Frau, welche dreieinhalb Stunden vergraben gewesen war, wurde nach vier Monaten von einem gesunden Töchterchen glücklich entbunden. Seitdem hat sie den Beruf erwählt, andern Frauen bei der Geburt ihrer Kinder behilflich zu sein.

Das neue Wärterhaus aber wollten sie wieder an die alte Stelle in den Lanenweg bauen; doch die Regierung erlaubte es nicht ohne weiteres, sondern hieß die Ingenieure erst die Ältesten des Ortes um Rat fragen. So wurde es auf einer sichereren Stelle gebaut; den Rat des Vaters — tröst ihn Gott! — hatten sie als den eines dummen Bauern verachtet." So schloss der Mann.

Wir sahen im Winter 1888 unter den bedeutenden Lawinen, welche in der Umgegend herabgekommen waren, auch eine große Grundlawine, d. h. eine solche, welche von dem schrägen Boden abrutscht, wie der Schnee von dem Dache, und den Grund mit sich reißt, daher alles andere als weiß ist. Diese Lawine war genau den früheren Weg gegangen, wo das alte Bahnwärterhaus gestanden hatte, und das Marterl zum Andenken an die Verschütteten, was aus Vorsicht nur ein Paar Schritte abseits vom Lanenwege errichtet ist, war der einzig stehen gebliebene Gegenstand, den man aus der Lawine herauserkennen konnte. —

Im Kriege wollten die Franzosen über den Brenner marschieren, da sagten ihnen die Bauern, sie könnten nicht gehen, denn die Lanen kämen. „Ach, was!", rief der Offizier, — er verstand es wohl nicht, was die Lane ist, — „ich werde ihnen schon Widerpart halten mit diesem meinem scharfen Degen!" Als dann nach ein Paar Tagen das Wetter besser wurde, sind die Franzosen drüber gegangen. —

Ende April trat ich fröstelnd vor die Haustüre. „Dass es aber heute wieder so kalt ist, und es war doch schon so schön!" sagte ich zur Wirtin, „Das wundert Sie? Mich wundert das nicht“, antwortete die Frau. „Hören Sie nicht den Wind und sehen Sie nicht den Schnee? Der Schnee muss ja kalt sein! Er hat es ja geschworen: ehnder er derwarmt, zergeht er!" —