Der Regen

„Der Regen lässt sich nicht verbergen! Alles grünt und blüht. Jetzt werden auch die Bäume erwachen! Aber regnet es am ersten Pfingsttage, so ist die halbe Nahrung hin“ (die, welche im Getreide, in Kartoffeln u. s. w. im Felde steht). —

Um genügend Regen für die Feldfrüchte zu erlangen, werden an Samstagen Wallfahrten nach Maria-Trenz (zwei Stunden unterhalb Sterzing) unternommen. „Der alte Wolf sagt, er gehe nicht mehr um Regen bitten, nass wäre es im Felde noch immer genug.“ — Der geht nicht um Regen bitten, weil die Fremden den nicht mögen, sagen die Bauern.


Im Sommer 1883 regnete es zur Erntezeit unaufhörlich. Die Leute konnten die Ernte nicht hereinbringen. Endlich schien die Sonne; doch es war kein Arbeitstag, sondern ein Sonntag. Der Kurat verkündigte nach der Predigt, dass, wenn die Bauern diesen Sonntag auf dem Felde arbeiten wollten, das keine Sünde wäre.

Trotzdem hörten wir im Hause und auf den Gassen sagen: „Mir ist es nicht drum zu tun, zu arbeiten." Am Nachmittag gingen wir stundenweit ins Pflerschtal, sahen aber nur vereinzelt einen Mann im Getreide beschäftigt, einen anderen das Korn hereintragen und gegen Abend ein Paar Mädchen im Sonntagsstaat, die die vom Regen und Wind umgeworfenen Schöwer wieder aufrichteten.

Montag regnete es wieder, Erchtags (Dienstags) ebenfalls und so fort die Woche durch, und was nicht von der Ernte hereingekommen war, ging verloren.

„Sie haben es früher gelobt, den Tag der Wetterherrn zu feiern, jetzt tut es niemand mehr, da tun die Herrn auch, was sie wollen! Oder wie ist das? Sie sprechen doch auf der Kanzel selbst von den abgebrachten Feiertägen, — haben die Leut' sie nur für eine Weile verlobt?"

„Es gleicht nicht, dass der Regen nachlässt, welche Absätzerl wird er wohl machen. Die Wälschen bei der Bahnarbeit werden schnell gegangen sein, — die arbeiten nicht im Regen, — die Deutschen wohl! Du wirst nicht gleich in Scherben gehen!“ so sprach, wie sich selbst ermunternd, ein schon fast erblindeter, alter Mann. —

Ich trat zu Leuten aufs Feld, die sich zum Rendol (Marende, Vesperbrot) zwischen die Garben gelagert hatten, die sie eben geschnitten. Die Besitzerin des Feldes verteilte Wein und Brot unter die Arbeiter, zu denen auch ihre eigenen Söhne gehörten; sah aber dabei immer ängstlich zum Himmel empor, weil sich über dem Felde schwere Wolken zusammenzogen. Als sie mich kommen sah, rief sie mir entgegen: „Frau, haltet die Hände frei auf zum Himmel, dass es nicht regnet!" — „Wie soll ich die Hände halten?“ fragte ich. „Ei, so!“ antwortete sie und sie erhob die Hände zum Himmel, wie einst die Alten im Gebete zu Jupiter-Pluvius. Die Söhne lachten über die Stellung der Mutter, diese aber rief ihnen eifrig zu: „Wenn ich wüsste, dass es hülfe, ich täte es wohl!“

So fand sich hier noch im Leben ein Nachklang aus der alten Welt, wenn auch der einst heilige Brauch nur noch als eine Art Hausmittel verwendet werden sollte. Hier hatten wir nicht Gelegenheit, das gewaltsame Anschwellen eines Baches durch Wolkenbrüche von Beginn an zu beobachten; aber wenige Stunden von hier, in Mühlbach im Pustertal, waren wir vor einigen Jahren [1880] davon Augenzeugen, und hat sich das Ereignis unserem Gedächtnis so tief eingeprägt, dass wir glauben, es noch jetzt getreu wiedergeben zu können.

Schon der Abend vor dem Tage, an dem das Unwetter heraufzog, welches die Gewässer überfüllte, war unheimlich.

Die Luft war so dunkel, dass es uns unmöglich war, vom Gasthause bis zu unserer Wohnung, die nicht weit entfernt lag, zu gelangen. Es ließ sich nicht ein hellerer Schimmer vom Himmel neben den Häusern unterscheiden. Wir mussten umkehren und im Wirtshaus bitten, jemand möchte uns mit der Laterne heimbegleiten. Die Laterne war nicht gleich zur Hand, und ein Mädchen griff statt ihrer nach einer brennenden Kerze; diese nahm meine Schwester, um sie vor dem feinen Regen zu schützen, unter den aufgespannten Schirm. Mit Erstaunen bemerkten wir, dass die Luft neben der großen Dunkelheit auch noch so still war, dass sich die Flamme des Lichts nicht einmal leise bewegte.

Nächsten Tag, am Nachmittage, brach ein starkes Gewitter los, und unsere Wirtin, eine madonnenhaft sanfte Frau, ging mit dem Säugling auf dem Arme leise und unruhig im Hause umher und sagte mehrmals still für sich: „Wenn nur nicht der Bach kommt!" „Vor einem Jahre war es wie heute“, sprach sie darauf zu uns, „da ist der Bach gekommen und in einem Nu ist mit einem Knall die alte Brücke zusammengebrochen.“

Auf einmal wird das fortwährende Rauschen des Baches vor unseren Fenstern von einem Rauschen, welches seitwärts herkommt, überdröhnt, und als wir dort hinaussehen, erblicken wir statt des steinigen Weges nach Meransen einen ebenso breiten Wasserstrom, der, Wellen schlagend, herabkommt. Männer jeden Alters kommen von allen Seiten herbei, um durch Vorschieben von Steinen und Erde das Wasser von den Häusern fern zu halten und um durch Graben von Rinnen ihm schneller Luft nach dem Bache zu verschaffen.

„Der Bach! Da kommt er!“, ruft entsetzt die Hausfrau, die, neben uns stehend, immer unruhig zwischen den arbeitenden Leuten auf der Gasse und den Wogen des Baches hin- und hergeblickt hatte. „Er bringt große Steine mit.“ Gleichzeitig übertoste wieder ein anderes, noch dumpferes Gedröhn fast den Donner selbst. Eine braune Masse wälzt sich über die eben noch krystallenen Wogen, verschlingt sie und stürzt dampfend der Brücke zu. Auch die Menschen wenden sich unwillkürlich dorthin, als könnten sie ihr Werk schützen. „Fort von der Brücke!“, rufen Männer, und ein Alter stellt sich diesseits, ein zweiter jenseits derselben auf, damit niemand die gefährdete Stelle betreten möchte.

Da erscheint im Ornate und von Chorknaben begleitet der Geistliche des Ortes, um den Bach zu segnen. Um ihn herum knien in tiefster Andacht die Dorfbewohner, während das erderschütternde Getöse unter Donner und Blitz und zunehmendem Regen sich immer mehr verstärkt.

Von der gegenüber liegenden Bergwand, dort, wo der Fremde Schatten unter schönen Fichten findet, neigt sich die Krone eines Baumes und stürzt zur Erde. „Hat das der Blitz getan?" — Dort fällt ein zweiter und dort ein dritter Baum; den Abhang herab aber kommen Burschen in einer Reihe hinter einander und in gleichem Schritt. Sie tragen etwas Schweres, Nachschleppendes. Als sie näher kommen, erkennt man, was sie tragen: es ist einer der stolzen Bäume mit voller Krone, welchen sie eben gefällt haben. Von anderer Seite eilen Leute mit Ketten herbei, der Baum wird damit umwunden und mit dem dicken Ende voran gegen die andringenden Fluten ins Wasser versenkt. Er wird im Augenblicke von diesen gegen die Dämme und die Häuser gedrückt, aber die wilden Wogen folgen, sich verteilend, den Ästen und Zweigen und stoßen weniger gewaltsam gegen das Ufer. Von allen Seiten werden Bäume gebracht, versenkt und die Gewalt des Stromes nimmt endlich ab.

Als Wetter und Wasser ausgetobt hatten, lagen ganze Felsblöcke im früheren Flussbette und der Bach selbst lief in unzähligen Wasseradern überall nebenher. Um sein altes Bett wieder herzustellen und ihn wieder hineinzuleiten, damit er die vielen Mühlräder zur Seite von neuem treiben könnte, mussten die Steinblöcke erst mit Pulver gesprengt werden. Wie in Mühlbach die Fichten, so sahen wir im Laufe der Zeit am Brennerwege eine schöne Fichte und Birke nach der anderen, die den Rand des Eisack geschmückt hatten, im Augenblick der Wassersnot dem Beile zum Opfer fallen, um mit ihren in die Fluten versenkten Kronen das Ufer zu schützen.

Unwillkürlich blicken wir noch oft, vergeblich suchend, nach den leeren Stellen, wo einst das Sonnenlicht die hohen Lärchenzweige rötete und der Wind mit dem langen Goldhaar der Birke spielte. —