Der Sonnenschein

Uns vom Schlafe eben Erwachten verkündet ein rötlicher Schimmer auf der Lärchenholztäfelung des Zimmers, dass der Morgen nahe. Wir stehen auf, kleiden uns an und eilen hinaus, das erste Licht auf den Bergspitzen, welches uns einst bei unserer Ankunft in Gossensass so erfreut hatte, zu begrüßen. Die Wirtin folgt erschreckt vor die Tür, und als sie sieht, was uns hinaus getrieben, — wie unsere Blicke an den leuchtenden Bergesspitzen haften, — ruft sie erstaunt: „Haben Sie das nie gesehen? Das macht die Sonne!"

Schon lichten ihre Strahlen die höchstgelegenen Bäume auf der östlichen Bergwand, schon breiten sie sich weiter nach beiden Seiten aus und jetzt langen sie auch zu uns herab, in die Tiefe des Tals:
„Jetzt ist die Alte wohl kommen!" hören wir sagen. „Sehn Sie sie nicht, wie sie dort niederhockt auf dem Baume, die alte Mutter, die Sonne?" —


Höher steigt sie, die Wolken ballen sich zusammen und das Gewitter kommt.

„Dass das Wetter kommen musste, wusste ich wohl. Die Sonne hat immer so geblickt!"

Bald ist es vorüber, balsamisch duften die Lärchenwälder, der Regen lässt nach und über die Wolken spannt sich der Regenbogen.

„Der Sonnenbogen!" *) ruft in demselben Augenblicke die uns wohlbekannte Stimme. —

*) Auch „Sonnenring“ genannt.

Die Sonne hat sich gesenkt, bald deckt ein Fels sie und beschattet das Tal, doch über ihm und zwischen seinen Zacken strömt warmes Licht auf die gegenüber liegenden Berge. Nur Schritt für Schritt weicht das Licht, gefolgt von breiten Schatten, den Höhen zu.

„Jetzt geht die Sonne wohl den Berg in die Höhe!"

Und wo bleibt sie die Nacht?

„Die goldene Kugel ist allem dort, wo die Muttergottes ist, so sagte die Rox Annele, die oft für sich und andere zur Muttergottes nach Trens wallfahrtete." —

Jeden Morgen, jeden Abend röten sich Himmel und Berge, aber immer später kommt, immer früher geht die Sonne: „Sie dergibt nichts mehr, sie ist ganz weiß!“

„Doch am Königstage geht sie wieder einen Hahnenschritt höher. Ein unsriger Vetter, der Kauner“, sagt die Weber-Zenze, „hat es in seiner großen Stube gemessen — am Sonnenschein, dass es so richtig ist. Und er hat ein kleines Löchele an der Decke eingebohrt, wie hoch die Sonne dann geht." — „Am Sebastianstage aber“, setzte der Huisum hinzu, „steigt die Sonne schon um einen Hirschsprung." Und er erzählte uns auch später, was man zu tun habe, um drei Sonnen auf einmal aufgehen zu sehen. —

Wir hatten mühsam mit ihm ein Joch überschritten und ruhten am Rande eines kleinen Sees aus, in stilles Anschauen versunken, da begann der Alte:

„Haben Sie es gehört? Haben Sie schon davon gehört, wenn man am Dreifaltigkeitssonntage auf einen hohen Berg steigt und vor Sonnenaufgang auf der Spitze ist, da sieht man statt einer Sonne drei Sonnen aufgehen: Gott Vater, Gott Sohn und Gott heiligen Geist!“

Nein, davon haben wir nichts gehört. Haben Sie das gesehen?

„Ich bin nicht zukommen." —

„Scheint der Mond, wenn er abbricht (abnimmt), in eine Kost, so dass man den Mondschein mitisst — wird man schwer krank." Will man recht herrisch reden, so nennt man den Muhne (Mond) Mahn.

Auf dem Brenner waren die letzten Tage im August 1890 keine guten. Zu Regen, Wind, Gewitter und drohendem Bergrutsch gesellten sich brennende Bauernhäuser in der Nähe des mit Fremden überfüllten Hotels Gröbner in Gossensass. Der Blitz soll das Feuer angeschürt haben? Aber wie ist das, — ,das wilde Feuer' ist nicht mit Wasser zu löschen und sie haben es gelöscht!

Ein fremder Handwerksgeselle soll beim ,Plündern' (Ausräumen) gestohlen haben! Selle Fremden, das will ich Ihnen sagen, sind nicht zu ergründen.
Gossensass, den 31. August 1890.