Vier tapfere Mädels

Wir sollten den Kelch noch bis zum letzten Tropfen leeren. Bei der Untersuchung der selbstverfertigten Handgranaten des Sonderkommandos wurde von der SS festgestellt, dass diese Sprengstoff aus der Pulverkammer des Betriebes Union enthielten. Nun ließen sie ihren Spitzelapparat spielen; und eines Tages wurden mit Hilfe des gekauften Banditenkapos Schulz acht Frauen aus dem Betrieb von der Nachtschicht in den Bunker gebracht. Unmenschlich wurden diese weiblichen Häftlinge von den Banditen der politischen Abteilung geprügelt, doch nichts war aus ihnen herauszuholen. Nach einigen Tagen Bunkerhaft mussten sie wieder ins Lager entlassen werden.

Die Bemühungen der politischen Abteilung hörten damit keineswegs auf. Sie bediente sich nunmehr ihres schon an anderer Stelle benannten Spitzels, des Unterkapos Koch, der mit Hilfe seiner „Freundin" sehr bald auf einige Mädels stieß, die vor einiger Zeit in der Pulverkammer in der Tagschicht gearbeitet hatten.


Vier Mädels wurden verhaftet, und obwohl sie schwiegen, gelang es der SS-Bande nachzuweisen, dass sie der Pulverkammer Material entnommen hatten. Ich erspare mir zu beschreiben, was die politische Abteilung mit den Mädels alles aufstellte, um sie zum Sprechen zu bewegen. Es war aber alles vergeblich, sie schwiegen!

Die Lagerleitung sah sich in ihrer Hoffnung, über diese Mädels unsere ganze Organisation aufzurollen, wieder getäuscht. Die Hinrichtung der Mädels wurde angeordnet. Sie sollten öffentlich im Frauenlager (FL 1) erhängt werden. In der Nacht vor der Hinrichtung gelang es uns, eine von ihnen über Querverbindungen zu sprechen. Wir waren nachts im Bunker und sprachen mit einem etwa zwanzigjährigen Mädchen. Sie beschämte uns, als wir ihr Mut zusprechen wollten, indem sie versuchte, uns noch Mut zum weiteren Kampf zuzusprechen. Sie sagte uns, sie sei stolz darauf, dass sie am Widerstand mitgewirkt habe, und sterbe ruhig. Selten haben wir uns von einer Kameradin so verabschiedet wie hier.

Wir wussten, diese tapferen Mädels werden bis ins Grab schweigen.

Am nächsten Tage wurden sie beim Appell im Frauenlager erhängt. Sie starben ruhig und gelassen und eine rief: „Wir werden gerächt werden!"

Unsere tapferen Mädels waren nun tot. Den Lumpen Koch ereilte sein Schicksal später in Mauthausen.

Wer waren diese Mädels? Es waren junge jüdische Mädels im Alter von 18 bis 22 Jahren. Sie kamen aus Polen und hatten eigentlich ihr ganzes bewusstes Leben in Unfreiheit verbracht; denn 1939 kamen sie ins Ghetto und 1942 oder 1943 nach Auschwitz. Auf der Rampe, schon bei der Ankunft, nahm man ihnen die Eltern und Geschwister und schickte diese ins Gas. Sie waren die einzigen Überlebenden ihrer Familien und schlössen sich bald der jüdischen Gruppe von 300 Häftlingen an, die mit uns in der Widerstandsorganisation verbunden war. Am 6. Januar 1945 war ihrem Leben durch die Hinrichtung ein Ende gesetzt. Kein Auschwitzer wird diese tapferen jüdischen Mädels vergessen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Widerstand in Auschwitz