Die Flucht unserer Besten

Rudolf Frömmel und Viktor Wessely hatten es unternommen, die Flucht der ersten Gruppe zu organisieren. Rudolf Frömmel, in den dreißiger Jahren, hatte am Wiener Februarkampf 1934 als Angehöriger des Republikanischen Schutzbundes teilgenommen und war zu einer mehrjährigen Kerkerstrafe verurteilt werden. Danach war er Teilnehmer am spanischen Bürgerkrieg, der ihn über die französischen Lager nach Auschwitz brachte. In seiner Eigenschaft als Elektriker der Fahrbereitschaft befasste er sich damit, aus Zündvorrichtungen und einem plastilinähnlichen Sprengstoff, mit dem die polnischen Partisanen versorgt waren und der — wie an anderer Stelle bereits berichtet — ins Lager gebracht wurde, Handgranaten herzustellen. Viktor Wessely war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und gehörte lange Jahre dem österreichischen Kommunistischen Jugendverband an. Er war der Schreiber der gleichen Fahrbereitschaft.

Frömmel und Wessely kannten jeden der Fahrbereitschaft zugeteilten SS-Mann und hatten sich einige durch verschiedene wechselseitige Gefälligkeiten gesichert. Sie unternahmen es, einen der SS-Fahrer für den Fluchtplan zu gewinnen. Die für das Unternehmen bestimmten Kameraden wollten sich in einer großen Kiste verbergen und mit einem Lastwagen aus dem Lager zu einem verabredeten Treffpunkt bringen lassen. Noch ein zweiter SS-Mann, ein Volksdeutscher aus Warschau, sollte mittun.


Als der Fluchttag durch einige technische Schwierigkeiten hinausgeschoben werden sollte, drohte der SS-Fahrer, er werde bei weiterem Aufschub von der ganzen Sache zurücktreten. Die Kameraden gaben leider seinem Drängen nach.

Am 29. Oktober 1944 war es soweit. Gegen neun Uhr vormittags fanden sich die Kameraden Ernst Burger, Zbyszek Raynoch und Benedikt Brzezina am Treffpunkt ein. Eduard Pys aus Rzeszow hatte sich um zwei Minuten verspätet und kam zurück; er hatte keine Spur mehr von den Freunden gesehen. Die Kameraden waren weg.

Sie fuhren bis zum ersten Treff, wurden aber dort von SS empfangen, ohne dass sie es in ihrem Kasten wussten, und ins Lager zum Bunker Block 11 gefahren. Erst beim Aussteigen merkten sie, woran sie waren. Der Lastwagen war von SS-Leuten mit Maschinenpistolen umstellt. Sie mussten nacheinander aus dem Kasten, jeder musste sich nackt ausziehen und dann ging es in den Bunker.

Kurz nachher lieferte man Frömmel und Wessely ein, die an der Fluchtvorbereitung beteiligt waren.

Der Verräter war der SS-Fahrer, der hier die Rolle des Lockspitzels gespielt hatte. Er erhielt dafür das Kriegsverdienstkreuz mit einem vierzehntägigen Erholungsurlaub.

Alle nahmen noch am gleichen Abend Gift. Zbyszek Raynoch, polnischer Kommunist aus Krakau, starb, während alle anderen wieder zu sich kamen. Mit Raynoch starb einer unserer treuesten Kämpfer, er gab sein Leben, damit es keiner Folter gelänge, ihm sein Geheimnis zu entreißen, das die Kameraden gefährden konnte.

Am gleichen Abend lagen im Leichenkeller des Blockes 28 noch zwei Tote, ein alter Arbeiter und ein junger ehemaliger Kapitän und Partisanenführer, die man am Treffpunkt erschossen hatte.

Die übrigen Freunde blieben am Leben, bei ihnen hatte das Gift nicht ausgereicht. Ihr Los teilte der Volksdeutsche SS-Mann, der sich als echter Mitverschworener erwies. Die folgenden Wochen waren voller Spannung. Bei den Verhören legten sie das Schwergewicht ihrer Aussagen darauf, dass es sich um eine Provokation, um eine Verlockung zur Flucht durch den SS-Fahrer gehandelt habe.

Die Sache schien nicht ungünstig zu stehen, denn bei dem SS-Fahrer handelte es sich um ein übles Subjekt, einen Mann, der schon verschiedene Betrügereien verübt hatte. Gelang es, ihn als Provokateur zu überführen, dann würde es vielleicht für unsere Kameraden mit einem Straftransport nach Flossenbürk oder nach einem anderen beliebigen Straflager abgetan sein, überall würden sie wieder gute Kameraden finden, die ihnen weiterhelfen würden.

Es wurde von uns versucht, auf SS-Offiziere einzuwirken, die uns direkt oder indirekt zugänglich waren. Letzten Endes war alles vergeblich.

Was sich bei den Vernehmungen bei der politischen Abteilung abspielte, ist müßig, zu beschreiben; alle Kameraden blieben fest, keiner von ihnen wurde schwach. Es kam Weihnachten, jeden Tag konnte die sowjetische Offensive losbrechen — das fühlten wir förmlich — , ging doch die sogenannte letzte Auffangstellung vor dem oberschlesischen Industrierevier quer durch das Lagersystem. Die Kameraden im Bunker waren zuversichtlich. Die Verbindung zu ihnen hatte im allgemeinen gut geklappt, wir waren über alles informiert und haben auch sie informieren und ihnen auch mit Nahrung, Zigaretten und Zeitungen helfen können.

Man setzte ihnen auch einen Spitzel, den Unterkapo Koch, ein von der SS gekauftes Subjekt, in die Zelle. Auch durch ihn, obwohl er — wie uns unsere tapferen Mädels von der politischen Abteilung meldeten — einfach falsche Berichte über Gespräche in der Zelle gab, konnte man nichts herausholen.

Erst als im Zuge der Verhaftung von einigen Partisanen belastendes Material gefunden wurde, wussten wir unsere Kameraden in Gefahr. Für die SS war die Verbindung mit der polnischen Widerstandsbewegung klar bewiesen.

Am 29. Dezember traf uns wie eine Bombe die Nachricht, dass auf dem Appellplatz die Galgen errichtet werden. Sie wurden noch einmal abgerissen, aber am 30. richtete man sie wieder auf. Das ganze Lager war angetreten, als sie aus dem Bunker herauskamen. Wir ließen von der Desinfektion als letzten Gruß die Dampfsirenen ertönen. Als sie an uns vorbeikamen, grüßten wir sie alle, indem wir unsere Mützen abnahmen. Sie hatten uns verstanden und grüßten wieder.

Verstärkte Sicherungen wurden aufgestellt, als man die fünf Kameraden heranführte. Am Hinrichtungsplatz wurde das Todesurteil nochmals verlesen: ,,Wegen Fluchtversuchs, unter Verleitung von SS-Angehörigen, zum Zwecke der Zusammenarbeit mit Partisanen." Noch während der Verlesung führte man den ersten Kameraden, einen Polen, unter die Schlinge. „Es lebe Polen!" rief er. Der Henker schlug ihm ins Gesicht. ,,Es lebe der Sozialismus!" rief der zweite, ,,Es lebe die Sowjetunion!" der dritte. Einzelne Stimmen versuchten, sie niederzuschreien; es waren deutsche ,,grüne" Berufsverbrecher. Noch ein Kamerad rief eine polnische Losung. Der letzte, dessen Bild sich allen am unauslöschlichsten einprägte, war Viktor Wessely. Als stiege er auf eine Rednertribüne, so frei und gelassen trat er auf den Schemel und rief mit seiner jugendlichen Stimme: „Nieder mit der braunen Mordpest! Es lebe die Freiheit!"

Auch der mitverschworene SS-Mann wurde hingerichtet.

In diesen Tagen war in der Auschwitzer Umgebung der Teufel los. Fast alle Verbindungsleute mussten ausgewechselt werden, denn der Gestapo war es gelungen, einige Polen zu verhaften, unter denen wieder ehemalige Häftlinge waren. Nur unser Weg zum Kurzwellensender blieb die ganze Zeit offen und wurde auch benutzt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Widerstand in Auschwitz