Unsere Fluchtorganisation

In vielen Fällen war es notwendig, dass Häftlinge flüchteten, weil sie entweder von der Widerstandsbewegung draußen angefordert wurden oder sie wurden von uns zum Anknüpfen von Verbindungen hinausgeschickt. Manchmal waren Kameraden so belastet, teils durch organisierte Spitzeltätigkeit der politischen Abteilung, teils durch ihre antifaschistische Tätigkeit aus der Freiheit — deren Untersuchung durch die Gestapo noch nicht abgeschlossen war — , dass zu befürchten war, dass sie erschossen oder vergast werden.

Hierbei spielten unsere polnischen Kameraden eine große Rolle. Im wesentlichen ging die Flucht folgendermaßen vor sich: Der Kamerad ging in ein Arbeitskommando, das außerhalb der kleinen Postenkette arbeitete. An dem für die Flucht vorgesehenen Nachmittag verschwand er dann in einen sogenannten Bunker — das waren Versteckräume, die, geschickt getarnt, sich vorwiegend in der Nähe des Bahnhofs befanden und die zu diesem Zweck von unseren Kameraden vorbereitet wurden.


Das war also innerhalb der großen Postenkette. Wenn die Fluchtsirenen erschallten — meist geschah dies bei der Entdeckung der Flucht — vor dem Abendappell, musste er bereits im „Bunker" sein.

Einige Stunden wurde durch die SS unter Zuhilfenahme von deutschen Blockältesten und Kapos das Gelände abgesucht. Dabei ergab sich häufig das Kuriosum, dass die Blockältesten, die sich der Widerstandsorganisation angeschlossen hatten, gerade den Geländestreifen zur Untersuchung übernahmen, in dem sich der Flüchtling aufhielt. Durch diese Taktik wurde er erheblich geschützt.

Drei Tage und drei Nächte nach jeder Flucht blieb die große Postenkette stehen; dann wurde sie nachts wieder eingezogen. In der vierten Nacht verließ der Kamerad dann sein Versteck und begab sich an eine vorher festgelegte Anlaufstelle außerhalb des Lagersystems, von der er bei günstiger Gelegenheit weitertransportiert wurde.

Es passierte unseren Kameraden in Birkenau einmal, dass bei einer Flucht von drei Kameraden zwei erschossen und einer angeschossen wurde. Letzterer wurde sechs Wochen in einem ,,Bunker" außerhalb der kleinen Postenkette von unseren Kameraden gepflegt, bis er fähig war, das Lager ganz zu verlassen.

Von den geflüchteten Polen und anderen Kameraden erreichten fast alle ihren Bestimmungsort, teils in den Städten und zum Teil bei den Partisanen. Einige blieben auch beim Verbindungsapparat zwischen dem Lager und den Freunden draußen.

SS-Leute berichteten oft von Partisanenkämpfen, in denen sie unter den Toten ehemalige Häftlinge gefunden hatten. Von den anderen Kameraden wussten wir nur, dass sie wohlbehalten alle Anlaufstellen passiert haben. Von keinem konnten wir jedoch mit Sicherheit sagen, dass er die Sowjetfront erreicht hat. Von einem österreichischen Kameraden erfuhren wir, dass er in Warschau von den Nazis erschossen worden war.

Selbstverständlich wurden auch andere Möglichkeiten benutzt. So hatten wir einige Fälle, in denen SS-Männer, die wir für unsere Mitarbeit gewonnen hatten, sich Passierscheine beschafften und mit zwei Kameraden am Tage durch die Postenketten gingen.

Unsere Kameraden unter den Schneidern beschafften für einzelne Fälle auch Uniformstücke. Ebenso wurden Passierscheine gefälscht. Einige Male ist es geglückt, dass ein Häftling in SS-Uniform mit zwei Häftlingen in Gefangenenkleidung durch die Postenkette kam.

Ein tapferes Mädel, das mit einem Mann flüchtete, wurde nach einigen Tagen wieder eingebracht. Es war Malla. Sie sollte öffentlich hingerichtet werden, und zwar durch Erhängen. Auf ihren Wunsch nahm man ihr die Fesseln ab. Sie öffnete sich sofort die Pulsadern und schlug den SS-Henkern mit den blutigen Händen ins Gesicht, die sie daraufhin vom Richtplatz ins Krematorium schafften und lebendig verbrannten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Widerstand in Auschwitz