Sommerzeit in New York. 1858

„Alle Welt hat die Stadt verlassen“ — so lauten jetzt die Bulletins der Moniteurs der Fashion, und die Zeitungen, statt Berichte über New York in die Ferne hinauszusenden, lassen sich von dort Schilderungen des Lebens und Treibens der Sommeremigration senden. Jeder elegante Badeort hat seinen Chroniker, der mit indiskreter Genauigkeit Personen und Vorfälle der Neugierde des Publikums vorführt. Die Schönen der Badewelt werden von seiner Feder daguerreotypirt und dem reizenden Porträt werden Namen, Stand, gute Eigenschaften und — das Vermögen beigefügt, so dass die Sammlung dieser Berichte in der Tat ein trefflicher Katalog zum Gebrauch heiratslustiger Junggesellen wird. Barnum, der jetzt entthronte König des Humbugs, hatte die Kinderausstellung erfunden, die Badeplätze sind durch die Presse ein Bazar der amerikanischen Schönheiten geworden. Überall folgt das Späherauge und das horchende Ohr dieser Herodote der Fashion den gefeierten Frauen, kaum rettet vor ihrem Forschen die verschlossene Tür das Geheimnis des Schlafzimmers. Der Tag aber gehört diesen Argussen: jedes Wort, jede Bewegung, jeder Blick ist eingetragen in die Chronik, und die flüchtigen Coquetterien einer Schönen, schlau verteilt unter die Schar ihrer Anbeter im Hinwirbeln eines Walzers, werden den andern Morgenn geschwätzig von der Presse über Stadt und Land hingerufen. Öffentlichkeit ist das Prinzip des hiesigen Lebens, und die Presse hat es so ausgedehnt, dass hier das ganze Land eine große Schaubühne geworden ist, auf der man für zwei Cents — der Preis einer Zeitung — täglich die zartesten Mysterien des Privatlebens aufgeführt sehen kann.

Bald werden die zahlreichen Touristen die geheime Geschichte Europas in Wahrheit oder Dichtung der neuen Welt erzählen, denn nur wenige begnügen sich schon jetzt, dort zu wandeln und zu sehen. Reiseberichte zu senden, scheint bei Vielen der eigentliche Zweck der Wandelung zu sein. Die Fahrt eines jeden Steamers hat ihren Historiographen. Es bildet sich eine wahre Summerliteratur, die allerdings weniger Blüten als dürre Blätter liefert. Haben Europäer mit dem Notizbuch in der Hand die große Republik mit der Blitzesschnelle der Dampfkraft durchflogen, um dann zu Hause ein Phantasiebild aus den aufgerafften Skizzen zu entwerfen, so werden die Amerikaner sich dafür rächen und die alte Dame Europa mit nicht weniger kühner Hand abkonterfeien. — Die Sonnenhitze ermattet das Stadtleben bis zu tiefem Schlafe. So hält jetzt die Metropolis ihre Siesta; es herrscht eine solche Stille, und ist ein solcher Mangel an aufregenden Ereignissen, dass man fast sagen möchte, New York ist nicht mehr in New York, sondern zerstreut nach allen Weltgegenden im Inland und Ausland.


Nur die Geschäftswelt bewegt sich fort in ihrem rastlosen Schwunge, und gleich der Ebbe und Flut wogt die arbeitende Bevölkerung, vom reichen Kaufmann herab bis zum Packträger, Morgens zur Stadt hinunter, des Abends hinauf, und an der Börse, an dem Mauthause, an den Werften schlägt stets hoch die Brandung des Geschäftes. Die Arbeitsbienen können nicht weg, aber ihre Königinnen und in ihrem Gefolge die Drohnen sind ausgeflogen, und summen fern in erfrischender Ruhe ein frohes Sommerlied.

Die Sehnsucht, das Bedürfnis, während der Sommerhitze aus der Steinwüste der Stadt zu flüchten, ist wohl nirgends größer und allgemeiner, als in New York, und auch nirgends natürlicher und gerechtfertigter, trotz der günstigen Lage zwischen zwei Flüssen und vor einer weit offenen Bai, bildet sich über der vernachlässigten Metropolis eine malaria, welche auch dem Kräftigsten zuletzt die Brust beengt und ihn angstvoll nach Lebensluft seufzen macht. Die Unglücklichen aber, welche die Pflicht der Arbeit nicht frei lässt, suchen wenigstens für die Nacht zu entfliehen, und so findet jeden Abend eine wahre Völkerwanderung statt. Über den Fluss und die Bai hinunter tragen, schwankend unter dem Übermaße der Last, die Dampfboote eine Menschenmasse, die teils nach ihren Sommerwohnungen heimkehrt, teils nur für wenige Augenblicke mit stärkender Seeluft die erschöpfte Brust erfrischen, oder in den kühlen Meereswogen die Hitze des Tages vergessen will.

Das romantische Staten - Island, das mit seinen waldbedeckten Höhen und freundlichen Landhäusern sich weit in die Bai hinunter erstreckt, ist der beliebteste Sommeraufenthalt besonders der nicht verheirateten Arbeitsklasse. Coney-Island, ein öder Dünenstrich am Eingange der Bai und bespült von den heranrollenden Wogen des Ozeans, wird von der Menge aufgesucht, die weniger noch sich von dem Orte der Arbeit entfernen kann. Es ist eine interessante Szene, die Masse der täglichen Auswanderung sich auf das Schiff drängen zu sehen. Welch ein Gewühl von Männern, Frauen, Kindern: Säuglinge auf den Armen ihrer Mütter, Gepäck und Lebensmittel, Alles sollte glauben machen, es sei eine wilde Flucht vor dem Feinde. Man eilt und ringt um Zulassung auf dem rettenden Dampfer; schon ist das Boot voll, die Glocke läutet zur Abfahrt, aber Hunderte noch stürzen in hoffender Eile aus der glühenden Stadt herbei. Unbarmherzigkeit und Geldverlust wäre es, wollte der Kapitän sie getäuscht auf dem Ufer zurücklassen. Also herein und immer herein, bis der letzte Raum, auf dem zwei menschliche Füße stehen können, gefüllt ist. Schwankend und halb sinkend, stöhnend und mühsam zieht dann das Boot durch die Fluten. Die Menschenmenge, froh, der Stadt entronnen zu sein, schreit, jauchzt, singt und spottet in glücklichem Übermute der Zurückgelassenen, die nachgedrängt am Ufer traurige Blicke dem entschwindenden Dampfboote nachsenden, um dann nach der heißen Stadt ermatteter noch zurückzuschleichen. Und welche Szene bei der Ankunft der Glücklichen am Ufer der Insel! Das Boot ist noch nicht fest, und schon stürzt im Sturmlauf die eingepresste Menge ans Land, und mit wildem Jauchzen nach dem Ladeplatz. Für Wenige nur gibt es da Hütten und Kleidung. Hunderte aber verlangen sehnsuchtsvoll das erfrischende Bad, und in einer Stunde schon fährt das Boot zurück. Kein Badeort der alten und neuen Welt kann daher ein solches Treiben darbieten, wie das kleine Coney-Island. Die im Wettlauf den Preis errungen haben, Männer, Frauen und Kinder tummeln sich mit wilder Lust in den Wogen herum; am Ufer stehen Hunderte, ergötzen sich an dem tollen Treiben und genießen den erquickenden Hauch des Ozeans. Dort, unter dem Schutze einer Bretterhütte, nehmen in weiten Kreisen Familien ihr frugales Abendbrot. Es geht bei dem Allen ziemlich derb zu, aber es herrscht eine so wahre, gesunde Fröhlichkeit, dass man nicht bereuen kann, dieses Volksbad besucht zu haben. Auch seinen Spieltisch hat Coney-Island; es ist derselbe allerdings nur ein Pfahl mit einem Brett in den Sand gesteckt, auf dem ein verschmitzter Danket drei Karten mit gewandter Hand hin und her wirft, und die richtige erraten lässt. Wehe dem „Grünen,“ der sich von dem scheinbaren Gewinne der zwei Gehilfen dieses Bombiers hinreißen lässt. So sah ich vor einigen Tagen einen Gerupften um zwanzig Dollars leichter von diesem Spielbrett wegschleichen. „Ich hätte besser nicht gewettet“ — sagte er in dem gemütlichen Schwabendialekte, — eine Weisheit, die er nicht zu teuer erlauft hat, wenn er sie auf seine künftige Carriere in Amerika anwendet. —
Coney-Island ist das Ostende der New Yorker Demokratie; dahin führt sie nach kurzer Fahrt die herrliche Bai hinunter täglich mehrere mal ein rasches Boot. Eine Stunde Seeluft und Kühle in der Flut können daher auch den von der Arbeit Gebannten zu Teil weiden.

Die Aristokratie ist ferner von der Stadt und setzt in den fashionablen Badeorten in strenger Abgeschlossenheit die Komödie des Salonlebens fort. Beim Beginn dieser Saison hielt der launische New York Herald plötzlich eine Reihe von Strafpredigten gegen die fashionablen Badeorte. Er appellierte an den Geschmack, an die Moral und an den Geldbeutel seiner Landsleute, um sie fern zu halten von diesen Sammelplätzen des Sommervergnügens, wo sie für schweres Geld nur neues Verderbnis für Geist und Heiz kauften.

„Nach dem Westen! Durch die Prärien nach den Bergen und Wäldern!“ — rief er ihnen zu — „dort wird die Natur euch wohltuend umarmen.“ Dem Beispiele des New York Herald folgten noch andre Blätter und es erhob sich mit Einemmale ein gewaltiger Chorus von Klageliedern über den Unsinn und das Verderbnis der fashionablen Badeorte. Die Gastwirte fürchteten schon zitternd den unvermeidlichen Ruin ihrer Unternehmungen. Die Presse, welche Ruhm und Erfolg schafft, hatte sich gegen sie erklärt, aber die Mode, mächtiger als eine politische Partei, ging ruhig ihren Weg fort, und die Badeorte sind ebenso besucht als je. Und warum auch nicht? Die Moralpredigt der Presse war nur ein so oft vorkommender Versuch, durch etwas Unerwartetes die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen; ernstlich war es nicht gemeint. Des Übels ist in den hiesigen Badeorten auch nicht mehr, als in jenen von Europa. Monotonie und Langeweile dagegen herrschen daselbst mächtig. In dem aristokratischen Europa werden diese Sammelplätze des Sommervergnügens gewissermaßen demokratische Lager für die verschiedenen Klassen der höheren Welt; die Schranken, welche sie sonst trennt, werden niedriger aufgeschlagen, so dass es nicht unmöglich ist, darüber hinwegzusehen. Im demokratischen Amerika erhöht man sie; man sondert sich strenger noch in Cliquen ab, zwischen denen kein freundliches Zusammenkommen auf dem gemeinsamen Felde des Vergnügens, sondern Scharmützel der Rivalität und Eitelkeit stattfinden. Viele kehren verwundet von diesem Schlachtfelde der Mode zurück, aber der nächste Sommer führt sie wieder auf dasselbe.

Eine Sitte, die mit jedem Jahre allgemeiner wird, ist der Sommeraufenthalt von Familien auf den Pachthöfen der Umgegend. Bis zu den weniger bemittelten Ständen dringt diese Gewohnheit, die eine natürliche Folge des Geist und Körper erschöpfenden Lebens von New York ist. Ruhe und gesunde Luft für einige Monate zu finden, ist ein so gewaltiges Bedürfnis, dass ihm manches Opfer gebracht weiden muss. Wollte man pathetisch sein, so könnte man sagen: Es löst selbst die heiligen Bande der Ehe und trennt, was Gott verbunden. Der Kaufmann kann sein Comptoir, der Advokat den Gerichtshof, der Geldhändler die Börse nicht verlassen, aber Flau und Kind scheiden von hier und lassen den Vereinsamten in der glühenden Tretmühle des Geschäftes. Ein trauriger Anblick ist es, den so verlassenen Gatten und Vater in dem verödeten Hause einherwandeln zu sehen, und die Zahl dieser unglücklichen Sommerwitwer ist groß. Trotz aller Leiden und drückendsten Langeweile murren und klagen sie nicht. Sie wissen, dass Frau und Kind des erfrischenden Landaufenthaltes bedürfen und mit lobenswerter Aufopferung des eignen Genusses verschaffen sie ihnen denselben. Eine solche Trennung der Familien möchte wohl den deutschen Begriff von ehelicher Gemeinschaft in Freud' und Leid verletzen und zum Glauben veranlassen, es herrsche hier nicht innige Liebe zwischen den Familiengliedern. Es wäre dies ein irriger Schluss. Der Amerikaner stellt die Frau freier und ferner hin von der Last des Lebens und glaubt, dass sie und die Kinder das Recht haben, allein einer solchen Sommerruhe zu genießen, wenn auch er sich dieselbe versagen muss.

Wie stark übrigens die Sommerauswanderung aus New York ist, mag der Umstand andeuten, dass Kirchen in den fashionablen Stadtteilen geschlossen sind, weil die Herde der Gläubigen auf andern Gefilden weidet und der Hirte selbst, frei von der Sorge für ihre Seelen, fern im Lande oder in Europa wandelt. Öde und tot ist es überhaupt in den eleganten Stadtteilen. Die verlassenen, verschlossenen Häuser, die menschenleeren Straßen machen den Eindruck, als sei eine verheerende Seuche durchgezogen und habe alles Lebende weggerafft. Doch des Abends ertönt nicht selten aus den unterirdischen Küchenräumen Musik, tobender Lärm und Stampfen von Füßen. Es ist dies ein Ball der irländischen Dienerschaft, der die Bewahrung des Hauses von der fernen Herrschaft überlassen ist und die das Sprichwort bewahrheitet: „Wenn die Katze aus dem Hause ist, tanzen die Mäuse auf den Tischen.“

Für die unglücklichen Zurückbleibenden, Verheiratete wie Unverheiratete, ist die Sommerzeit in New York eine harte Prüfung. In dieser Treibhaushitze stirbt selbst die Lust, die Kraft zum Vergnügen. Mattigkeit des Geistes und Körpers ist die allgemeine Sommerkrankheit. Das gesellschaftliche Gespräch geht nicht viel über Variationen des Themas: „Wie heiß ist es!“ — hinaus. Vergebens versuchen die Theater durch prunkende Versprechungen großer Talente und durch den Reiz neuer Vergnügen das Publikum anzuziehen. Nur die prachtvollen Säle der Konditoreien füllen sich. Eis und Sorbets aller Art erfrischen und laben die Märtyrer der Sonnenhitze. Unsre Landsleute erfreuen sich mit ungestörter deutscher Lust Gambrinus' reichlich fließender Gabe; der Amerikaner folgt nicht selten ihrem Beispiel und verlangt sein Glas Lagerbier. Überhaupt erinnert das deutsche Leben allein etwas an die Sommerfeier in Europa. Trotz des Gesetzes rauscht am Sonntag in den um die Stadt gelegenen Gärten die deutsche Tanzmusik und wirbelt unter Gesang, Jauchzen und Gläserklang der Zechenden das junge Volk munter herum. Mancher Amerikaner sucht auch diese Orte der ausländischen Sitte auf, doch sind es deren nur wenige. Religiöse Gewohnheit und der gute Ton hält die unendliche Mehrheit fern, und von allen Plagen des Sommers ist keine größer, als die eines Sonntags.
New York - Hudson-River-Kanal

New York - Hudson-River-Kanal

New York - East River

New York - East River

New York - Hafen 1

New York - Hafen 1

New York - Hafen

New York - Hafen

New York - Hafen-Kai

New York - Hafen-Kai

New York - Coney Island

New York - Coney Island

New York - Kreuzung Fünfte Straße

New York - Kreuzung Fünfte Straße

New York - Umland, Bauern beim Pflügen

New York - Umland, Bauern beim Pflügen

New York - Umland, Farmhaus

New York - Umland, Farmhaus

New York - Jamaica-Bay

New York - Jamaica-Bay

New York - The Old Coney Island

New York - The Old Coney Island

alle Kapitel sehen