Das Dünendorf - Ein Strandleben

Von Smidt, Heinrich (1798-1867) deutscher Schriftsteller

Zwischen den fruchtbaren Marschstrecken der langen und schmalen Küste und der rollenden See liegt in meilenweiter Ausdehnung die weiß leuchtende, hochgetürmte Düne. Nur einige allmählich ansteigende Flächen sind sparsam mit Sandhafer bewachsen. Die meisten Gipfel bleiben kahl und die Stürme wirbeln die Staubsäulen bis zur unglaublichen Höhe. Mühsam erklimmt der Wanderer dies schützende Bollwerk und steht inmitten einer Wüste, die nichts Lebendes kennt, als die Bergenten, die in tiefen Höhlen nisten. Hierher kommt Niemand, als um Mitternacht der schlaue Schmuggler und der Steuerjäger, der Schritt um Schritt, ein stummer Schatten, mit angelegtem Gewehr seiner Spur folgt.

Da plötzlich öffnet sich in dieser „Welt des Sandes“ ein Tal. Der Wanderer sieht überrascht ein Dorf mit einigen zwanzig Häusern. Es sind eigentlich nur Hütten, allein sauber und wohl erhalten. Bäume gedeihen in der rauen Seeluft nicht: aber vor jeder Haustür ist ein grünes Fleckchen und im Hochsommer schaut aus manchem Rasen ein helles Blumenauge zum sonnigen Himmel auf. Es ist eine Fischerkolonie, dies in den Dünensand eingeheimte Dorf. Seine Bewohner, abgehärtet in Wind und Wetter, in dem Kampf mit den Elementen erstarkt, haben zur Frühjahrs - und Herbstzeit manchen halbverlornen Segler wieder auf den rechten Steuerkurs gebracht. Aber wenn sie Andern auch das Ihrige erhielten, für sich selbst brachten sie nie Etwas vor sich. Sie sind zufrieden, wenn der für den Winter gesammelte Vorrat reicht, bis der neue Frühling neues Leben in die starren Eismassen bringt, die sich zwischen See und Land aufbauen.


Die Hütten liegen in dem von zwei allmählich ansteigenden Höhen gebildeten Talkessel. Nur zwei derselben stehen an den entgegengesetzten Enden der Kolonie ein Stück Weges die Anhöhe hinauf und sehen, gleichsam als wären sie die gebietenden Herren, vornehm auf das Dörfchen herab. Und doch sind die Bewohner dieser beiden Hütten grade die ärmsten. Wie vor ihrer Tür, die ihrer Lage nach den Seestürmen am meisten ausgesetzt ist, nie ein Grashalm keimt, so hat das Glück nie einen Fuß über die Schwelle dieser Tür gesetzt.

Die beiden Männer vom Berge haben manchen Strauß zur See bestanden und sich bei harter Arbeit an einander gewöhnt. Die Bewohner des Tales halten sich strenge abgeschlossen. Als Jene einst an die eine oder andre Tür klopften, um sich von den heranwachsenden Töchtern eine zum Weibe zu erbitten, wurden sie mit einem Korbe heimgeschickt. Sie blieben unbeweibt. Da sie für Niemand zu sorgen hatten, wurde ihnen das Wenige, was sie besaßen, noch gleichgültiger. Der Regen sickerte durch das Dach ihrer Hütten. Der Wind strich durch die zerbrochenen Fenster.

Sonst mochte es kaum zwei Männer geben, die in einem so engen Verkehr standen und zugleich so unähnlich an Charakter waren. Hans Blacker von der Westerhöhe war mürrisch, finster, in sich gelehrt. Er haderte mit seinem Geschick und grollte mit der ganzen ihm bekannten Welt. Sah er irgendwo das Feuer auf dem Herde heller leuchten, oder den Hausmann seinen Vorrat keuchend heranschleppen, wandte er sich fluchend ab oder rief eine Verwünschung hinter ihm her. Die Leute merkten es bald und gaben es ihm tüchtig heim. Wie sollte das Licht in ein so umdüstertes Leben dringen?

Auf der Osthöhe wohnte Broder Jens, ein stiller, besonnener Mann. Er hatte zwar keine Ursache, seinen Nachbarn besonders dienstfertig zu sein; aber er war freundlich, grüßte Jeden und stand bereitwillig Rede. Er beneidete den Wohlhabenden nicht, sondern sagte nur manchmal kopfschüttelnd, wenn er sein leeres Netz aus der See zog:

„Wunderlich! Die großen Fische kommen nicht zu dem kleinen Mann und für die kleinen sind die Maschen meines Netzes zu groß.“

Manchmal kam es aber doch vor, dass dieser oder jener Fang gelungener ausfiel. Dann gingen die beiden Höhenbewohner in das nächste Bauerndorf, wo sich immer Aufkäufer fanden, die ihnen ihre Waren abnahmen. So ein Tag war heute gewesen. Sie hatten einige Schillinge in der Tasche, was lange nicht der Fall gewesen war.

Beide waren auf dem Wege zur Schenke, um sich vor dem Heimgange einmal gütlich zu tun. Da traf es sich, dass ein Bauer den Broder Jens im Gespräch aufhielt. Er hatte den armen Dünenfischer bei einer früheren Gelegenheit kennen gelernt und wohl im Gedächtnis behalten. Darum grüßte er ihn jetzt freundlich und meinte, zur Schenke käme er noch früh genug: er solle mit ihm kommen, denn er wolle ihm einen Verdienst nachweisen.

Nach zwei Stunden, als es bereits stark dämmerte, verließ Broder Jens den Bauerhof und ging der Düne zu. Er dachte der Schenke nicht mehr. Die Aussicht auf eine lohnende Arbeit war ihm verheißen und dann hatte er mit dem Bauer eine reichliche Mahlzeit gehalten. Was ihn aber im Herzen fröhlich machte, das waren die guten Eindrücke, die er unter jenem Dache empfangen. Das stille Familienleben hatte ihn angeheimelt. Neidlos, wie er war, sah er das fremde Glück nicht mit giftigen Augen an. Aber eine tiefe Sehnsucht erwachte in seinem Herzen und als er in seine einsame Hütte trat, seufzte er laut.

Hans Blacker war gradeswegs zur Schenke gegangen und schimpfte bei einem Kruge Bier auf den Nachbar, der ihn sitzen lasse. Da er die Zeit nicht hinzubringen wusste, trat er an den nächsten Tisch, wo einige lose Bursche — Strandläufer oder andre Taugenichtse — saßen und doppelten. Nicht lange dauerte es und Hans Blacker saß mitten unter ihnen. Bald waren die wenigen Schillinge hin. Sie reichten nicht einmal, die Trink- und Spielschuld zu decken. Als er dem Wirt nicht gerecht werden konnte, warf ihn dieser, von dem Gelächter der Übrigen angefeuert, zum Hause hinaus. In dem Zustande der größten Aufregung kam Hans Blacker heim.

Ein furchtbares Unwetter, welches schon während des ganzen Abends gedroht hatte, brach plötzlich los und warf sich mit aller Macht auf die erschrockene See. Der Blitz riss die herabhängenden Wolken auseinander und lieft die See taghell aufleuchten. Der Donner rollte durch die Dünentäler. Von den einschließenden Höhen stürzte der Regen herab.

Wenn der Donner rollt und der Blitz leuchtet, springt der Küstenbewohner von seinem Lager auf und eilt dem Strande zu, wo die See ihm die schäumende Brandung ins Gesicht wirft. Sein geübter Blick erspäht, was jedem Binnenländer ein Rätsel bleiben würde.

Aber in dieser Nacht liegt der Schlaf bleiern auf den Bewohnern des Dünendorfes. Es hört Keiner das Heulen des Sturmes, den herabrauschenden Regen, die brandende See. Halb erschreckt fährt wohl Einer aus seinem Traumschlaf empor, sinkt aber gleich darauf, unverständliche Worte murmelnd, auf sein Lager zurück.

Nur auf der Ost- und Westhöhe wird das Unwetter gehört. Beide Bewohner derselben sind von den Erlebnissen des Tages erregt. Der Schlaf flieht sie. Sie stehen in der geöffneten Tür und schauen erwartungsvoll auf die See. Jeder Augenblick kann etwas Unerwartetes bringen, das eines entschlossenen Mannes Beistand erfordert.

„Wenn ein Schiff in diesem Sturm an unser Eiland verschlagen würde!“ sprach Hans Blacker vor sich hin. „Vielleicht bei der gelben Düne oder da herum. An ein Loskommen ist nicht zu denken. Da wäre noch ein Fang zu machen.“

Hans Blacker dachte an das damals geltende Strandrecht, das eigentlich das schreiendste Unrecht war. Es gab einen gesetzlichen Bergelohn, der dem Geretteten die Haare sträuben machte, und in der Kirche betete man mit Herz und Mund für einen gesegneten Strand.

Der Sturm, so heftig er war, dauerte nicht lange. Bald halte es abgeweht. Die Wolken verloren sich und der Himmel wurde klar. Wer der wilden Bö entkommen war, fand einen Leitstern, dem er getrost nachsteuern konnte.

„Es ist ein Gang!“ sagte Hans Blacker zu sich selbst. „Wenn ich Etwas will, muss ich es gleich wollen, bevor sie unten im Dorfe die Witterung kriegen, oder irgend ein schäbiger Steuerjäger von drüben heraufkommt. Das Volk hat eine keine Nase. Frisch daran. Ich kenne jede Furt und bin mit Tagesanbruch der gelben Düne seitlängs.“

Er versah sich mit dem Notwendigsten und ging hinab zum Strande, wo sein Boot lag. Vorsichtig steuerte er hart am Ufer entlang durch die Binnenlaichen, oft von der schäumenden Brandung überholt, in steter Gefahr, von einer Welle gefasst und in die See gerissen zu weiden. Endlich kam er bis zu der vorspringenden gelben Düne, unter deren Schutz sein Boot wie in einem Teiche lag. Hier war nirgends Etwas zu sehen. Aber der Morgen dämmerte auch kaum.

„Vielleicht da oben!“ dachte Hans Blacker, sprang aus seinem Fahrzeuge und stieg die Düne hinan. Oben angelangt, schrie er laut auf. Ein kleines Küstenschiff, halb Schoner, halb Galeas, wie solche in jenen Gewässern häufig gesehen werden, lag, von der Brandung auf die Seite geworfen, in der Nähe des Strandes. Mit Blitzesschnelle war er unten. Da lag auch das gekenterte Boot des gestrandeten Schiffes. Das Ende eines zerrissenen Kabels hing darüber hin. Der kundige Seemann begriff, dass die Mannschaft versucht hatte, eine Verbindung mit dem Schiffe und dem Lande herzustellen. Aber das Kabel riss und das Boot kenterte. Wohin hatte die Flut die Leichen getrieben? Der vor einer Stunde umsetzende Stromgang hatte sie vielleicht seewärts fortgeschwemmt.

Hans Blacker sah sich nicht weiter darnach um. Er dachte kaum daran. Er hastete sich ab, an Bord zu kommen. Das gekenterte Boot mit den geknickten Rippen war nicht zu flotten. Die Ebbe strömte reichlich ab. Er konnte vielleicht durch die Brandung waten. Das Glück war mit ihm. Der schäumenden See gewohnt, wusste er derselben geschickt auszuweichen und stand bald seitlängs von dem Wrack.

Kaum auf dem Verdeck angelangt, bellte ihn ein Hund an, der mit einem Tau an den Mast gebunden war, damit ihn die See nicht fortspüle. Hans Blacker bekümmerte sich nicht um das Tier und ging geradesweges in die Kajüte.

Ein erschreckender Anblick bot sich bar. Auf dem Boden lag eine weibliche Leiche. Ein morscher Decksbalken, der bei dem heftigen Stoße brach, hatte ihr im Herabstürzen den Schädel zerschmettert. Einen Augenblick stand er erbleichend vor der Leiche, dann aber wandte er sich ab. Er war, von einer unsichtbaren Macht getrieben, an Bord dieses Schiffes gekommen. Von dem Ausbruche des Sturmes an bis zu dieser Minute hatte es in seinem Innern gesprochen: „Dein Glück blüht! Greife zu, aber schnell!“

„Und das will ich auch,“ sagte er zu sich selbst, „keine Macht soll mich hindern zu nehmen, was sonst Andern in die Hände fällt, die nach mir kommen. Das da ist eines von den Fahrzeugen, die mit den nordischen Inseln Handel treiben, und wenn sie heimsteuern, ist das Spind mit guten Silberthalern gefüllt. Da wäre ich auf einmal all' mein Elend los.“

Rasch trat er zu den beiden Pfeilern, zwischen denen der Schränk befindlich ist, worin der Kapitän sein eignes, sowie das ihm anvertraute Geld, die Schiffspapiere und andre wertvolle Gegenstände aufbewahrt. Die Tür war bald gesprengt. Eine reiche Beute lachte ihm entgegen.

Was Hans Blacker auch immer erhoffte, so weit hatte seine Phantasie sich doch nicht verstiegen. Ein großer Beutel mit Thalern stand vor seinen Augen. Hinter demselben entdeckte er einen zweiten kleineren, worin er, als er ihn mit zitternden Händen öffnete, eine große Zahl blanker Goldstücke fand.

Es dauerte einige Zeit, bevor sich die Aufregung legte: dann aber steckte er das Gold in die weiten Taschen seines Wamses und warf den Sack mit Thalern auf die Schulter. Als er hart bei der Leiche vorüberging, schauerte er unwillkürlich zusammen und murmelte, um sein Gewissen zu beschwichtigen: „Wenn ich das da in Sicherheit gebracht habe, will ich sie begraben.“

Er kam glücklich an den Strand zurück. Das Geld konnte er nicht offen durch das Dorf tragen. Die Nachbarn hätten es gesehen und ihm sein Recht daran verkümmert. So beschloss er, den Sack zu vergraben und zur Nachtzeit in Sicherheit zu bringen. Bald war die leichte Arbeit geschehen und als Wahrzeichen einige Steine auf die Stelle gelegt.
Nun dachte Hans Blacker flüchtig daran, an Bord zurückzukehren, um die tote Frau abzuholen. Da glitt, wie zufällig, sein Blick längs der gelben Düne. Auf ihrer Spitze sah er einen Mann stehen. Er erschrak, denn er hielt sich für entdeckt. Aber bald überzeugte er sich, dass Jener so stand, dass er ihn gar nicht sehen konnte, und schnell beruhigt sagte er vor sich hin:
„Der da wird auch an Bord gehen und kann statt meiner dies Werk verrichten, um so mehr als er nichts Anderes zu tun findet. Daheim aber können sie sich in Acht nehmen. Bis heute haben sie mich mit Füßen getreten: von dieser Stunde an trete ich sie.“

Er kehrte zu seinem Boote zurück und fuhr bis zum Landungsplatz des Dorfes. Mit seinen leeren Netzen stieg er fluchend die Westhöhe hinauf. Zwei Männer, die des Weges kamen, sahen sich an und der Eine sagte:
„Da kommt Hans Blacker. Ist bei dem Unwetter die Nacht draußen gewesen und hat keine Flosse gefangen. Tut mir eigentlich leid.“

„Was leid!“ sagte der Zweite. „So lange der Kerl lebt, hat er mit keinem Christenmenschen auch nur das geringste Mitleid gehabt. Warum sollen wir es mit ihm haben? Möchte es Euch auch gar nicht raten, ihm ein freundliches Wort zu sagen. Er würde Euch schön abführen. Ob es heute Nacht etwas gegeben hat? Es soll tüchtig gebrieset haben.“

„Meine Alte sagt es!“ entgegnete der Erstere. „Können uns ja einmal umtun.“

Die beiden Männer beschlossen, sich nach einem Wrack umzusehen, das Hans Blacker schon ausgebeutet hatte, und dem jetzt der Mann zuschritt, der auf der Spitze der Düne sichtbar wurde.

Dieser Mann war Broder Jens. Auch er trat in der Nacht vor die Tür hinaus und folgte dem Verlauf des kurzen, aber gewaltigen Unwetters mit kundigem Auge. Sein richtiger Blick zeigte nach der gelben Düne, die sich zu Lande leichter erreichen ließ, und da stand er nun. Als Hans Blacker an der Ostkante seinen Schatz vergrub, stieg er, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was in seiner Nähe vorging, an der Westkante herab. Er sah das gestrandete Schiff und versuchte, es zu erreichen. Mit einem tiefen Atemzuge betrat er das Deck. Der Hund am Mast winselte ihm entgegen. „Armes Vieh!“ sagte Broder Jens und band ihn los. Der Hund sprang empor: die Zunge hing ihm aus dem Halse.

„Dir fehlt's am Besten,“ fuhr Broder Jens fort, und sah sich nach dem Wasserfasse um. Bald hatte er den Hund getränkt, und da ein Fischer sich selten auf eine Schwimmfahrt begibt, ohne mindestens ein Stück Brot in der Tasche zu haben, teilte er seinen Vorrat mit dem hungernden Tier. Erst dann sah er sich näher auf dem Verdeck um, des Hundes nicht achtend, der zur Kajütstlappe sprang, und als er die Tür eingeklinkt fand, jämmerlich winselte. Als er endlich die Tür öffnete, sprang der Hund heulend die Treppe hinab. Gleich darauf stand Broder Jens vor der erschlagenen Frau. Er begriff, wie Alles gekommen war und sagte:

„Das Volk hat das Schiff verlassen, um Hilfe vom Lande zu holen. Dabei sind sie verunglückt. Das ist mir klar. Aber lasst uns weiter sehen.“

Ehe er dies ausführen konnte, sah er, wie der Hund die Leiche verließ und an die Tür kratzte, welche in die anstoßende Kammer führte. Rasch drückte er sie auf und blieb vor Erstaunen mit bald offenem Munde stehen. Von der Decke herab hing eine schwebende Wiege, und in derselben lag ein dem Anscheine nach dreijähriges Kind, das die Ärmchen weinend dem Hunde entgegenstreckte, der zu ihm hinaussprang.

„Das sind seltsame Beutestücke!“ dachte Broder Jens. „Aber es ist meine Christenpflicht, zuerst dies kleine unschuldige Menschenleben zu retten. Wir behalten wohl schmuckes Wetter den Tag über und ich komme mit den Nachbarn zurück, um der toten Frau den letzten Liebesdienst zu erweisen. Erst aber will ich sehen, ob ich nichts von Papieren finde, die zu bergen sind, für den Fall, dass ein Unglück geschähe, während ich weg bin.“

Er trat zu dem Spinde, aus welchem Hans Blacker das Geld nahm, und fand zu seiner Verwunderung denselben nicht nur offen, sondern den Inhalt auch durcheinander geworfen, während doch vor dem Beginn der Reise Alles so festgezurrt wird, dass es sich nicht verrücken kann. Es musste schon Jemand vor ihm hier gewesen sein. Aber wer? Oder hatte der Schiffer selbst, bevor er vom Bord ging, das ihm Unentbehrlichste herausgenommen? Darüber zu grübeln war setzt nicht Zeit. Er steckte mehrere Papiere und eine Brieftasche zu sich, nahm das Kind auf den Arm, pfiff dem Hunde und stieg vom Bord in die rauschende See. Der Hund sprang ihm bellend nach.

Das war ein Wundern, als Broder Jens das Dorf betrat. Er erzählte, was geschehen war und sagte dann, die Gemeinde müsste das Kind erziehen. Als aber Einige dies mit barschen Worten von sich wiesen, meinte er, dass er es selbst behalten werde. Der Herrgott habe es ihm sichtbarlich zugeführt und er werde es nicht verstoßen. Eine Frau, die herzugetreten war, sagte:

„Das ist gut gedacht, Nachbar, gib mir aber einstweilen das Kind. Es weint zum Erbarmen und ich will es tränken. Verweile siehe Du zu, was für weiteres Strandgut Du findest.“

So geschah es. Alles, was im Dorfe an Mannsvolk vorhanden war, ging nach dem Steert des Sandes am Fuße der gelben Düne, nur von Hans Blacker war nichts zu sehen; seine Tür blieb verschlossen.

Besonnen gingen die Männer an ihr Werk. Die Flut war im Wachsen und das gestrandete Schiff vom Lande nicht mehr zu erreichen. Darum wurden schnell die Boote geflottet. Ihr erstes Geschäft war, die Leiche an das Land zu bringen. Es gab hier noch keinen Gottesacker mit der Bezeichnung „Heimatstätte für Heimatlose“ darum bereiteten sie ein Grab auf einer hochgelegenen Stelle der Düne, und als sie die Leiche da hineinlegten, sprachen sie ein stilles Gebet. Auf das zugeschüttete Grab legten sie darauf sieben Steine in Form eines Kreuzes. Das ist der fromme Brauch am Strande. Mag auch der nächste Sturm den Dünensand darüber hinwerfen, dass es vor den Augen der Menschen verschwindet: dem Auge Gottes ist das Werk der Barmherzigkeit offenbar.

Von den Kaufmannsgütern, die sich am Bord befanden, vermochte man bis zum Abend nur wenig zu bergen. Als die Sonne unterging, erhob sich der Sturm aufs Neue und mit solcher Heftigkeit, dass beim Anbruch des Tages das Fahrzeug zu einem rettungslosen Wrack geworden war.

Die Strandreiter, die unterdessen auch Kunde bekommen, eilten mit dem Strandvogte herbei und das Beutemachen auf eigene Hand hatte ein Ende.

Broder Jens ging in sein einsames Haus auf der Ostküste zurück, nicht ohne das gerettete Kind mit sich zu nehmen, begleitet von dem Hunde, der sich nicht von ihm trennte. Das Kind war ein schmuckes Mägdlein, das nur einzelne unzusammenhängende Worte in einer Sprache zu sagen wusste, die hierorts Niemand verstand. Auch die Papiere, welche Broder Jens gerettet, waren so geschrieben, dass die beiden einzigen Dorfbewohner, die überhaupt lesen konnten, nach einer gewissenhaften Prüfung erklärten, sie verständen nichts davon. Wolle Broder Jens etwas Näheres wissen, so möge er den Bauernvogt oder den Pastor im Kirchdorfe zu Rate ziehen. Er versprach es auch: aber die nächste Sorge war immer die erste. Gab viel zu schaffen in der Hütte eines armen Mannes, wo statt eines Kostgängers sich deren plötzlich drei einfinden. So wurde die Untersuchung der Papiere immer weiter hinausgeschoben und am Ende gar vergessen.

Aber mit dem Mägdlein war ein Segen in die Hütte des armen Fischers gekommen. Es hatte ein holdseliges Angesicht und die Äuglein blickten so hell. Die Weiber im Torfe, die selbst Kinder hatten, rechneten dem Broder Jens seine Tat hoch an. Sie leisteten ihm Vorschub mit Kleidungsstücken und sonstigen Dingen, die einem jungen Kinde nötig sind, und wovon die Männer nichts wissen. Aber auch den Hausvätern ging es zu Herzen, und sie sprangen mit Rat und Tat bei. Als die Kunde von dem Ereignis in das nahe große Dorf kam, wo der Bauer wohnte, der auf den armen Fischer große Stücke hielt, hatte vollends alle Not ein Ende. Es kamen der Liebesgaben so viele, dass er sie kaum verbrauchen konnte. Was aber die Hauptsache war: die Kundschaft vergrößerte sich und er hatte so vielen Verdienst, dass er bald sein kleines, halbleckes Boot auflegen und an den Kauf eines neuen, seefesten denken konnte.

So gingen nun die Tage fröhlich hin.

Eine Reihe von Jahren war verstrichen. Das aus dem Schiffbruch gerettete Mägdlein war zu einer blühenden Jungfrau herangewachsen. Broder Jens nannte sie Heilwig. So hieß seine Mutter und er hatte das hilflose Kind gleich im ersten Augenblicke so lieb gewonnen, dass er es nicht freundlicher zu nennen wusste, als mit diesem Namen. Als Heilwig heranwuchs, nahm sie sich des Hauswesens tüchtig an, und brachte im Arbeiten etwas vor sich. Alle Weibsleute mussten es eingestehen.

Herrschte nun in der Hütte auf der Osthöhe ein sich mit dem Laufe der Tage steigerndes friedliches Glück, hatte es sich dagegen unten im Dorfe allmählich gar sehr verändert. Finsteres Unheil senkte sich auf das einsame Dünendorf herab. Und dieses Unglück braute sich zusammen in der Hütte des Hans Blacker auf der Westerhöhe. Er hatte es den Dörflern geschworen, dass er ihnen die Verachtung, die sie ihm bewiesen, heimzahlen wolle, sobald er könne. Und er hat es getan, wie ein rechter Teufel, sobald ihm dazu die Macht gegeben ward. „Von Haus und Hof sollen sie mir, so wahr ich das Leben habe,“ sprach er schon damals in seinem Grimme, als er noch nicht wusste, wie er diese gottlosen Worte wahr machen sollte und er wiederholte sie in jener Nacht, als er den am Fuße der gelben Düne vergrabenen, vom Nord der gestrandeten Schoner - Galeas entwendeten Beutel heimbrachte.

Ein paar Tage nach jenem Ereignis begab er sich mit großem Geräusch auf die Reise. Ihm war darum zu tun, daß Jedermann erführe, er sei nicht etwa nach dem nächsten Kirchdorfe gewandert, sondern nach der Hafenstadt am Westfjord. Dahin jage ihn ein Traum der letzten Sonntagsnacht und man werde schon erleben, daß er das Glück heimbringe auf die Westerhöhe. Aber dann wolle er von derselben Herabkommen, dass Alle zittern und beben sollten.

Das erzählten die Leute einander. Und wie es zu geschehen pflegt, malte der Zweite das Bild mit grelleren Farben als der Erste, und der Dritte ging noch einen Pinselstrich weiter als der Zweite. So wuchs das Gerücht, bis Hans Blacker heimkam, einen Kittel vom besten Tuch auf dem Leibe, große Stiefeln an den Füßen und eine nagelneue Pelzmütze auf dem Kopf: Alles Dinge, die man in dem Dünendorfe nur hier und da an hohen Festtagen und auf Westerhöhe bislang nie sah.

Hans Blacker hatte nichts Eiligeres zu tun, als nach der Schenke zu gehen und sich in seinem Staate zu zeigen. Als er eintreten wollte, kam Broder Jens grade vom Strande herauf, und der von ihm gerettete Hund sprang bellend vor ihm her. Als dieser den Hans Blacker erblickte, stellte er sich ihm in den Weg und zeigte ihm grimmig fletschend die Zähne. Das Tier schien den Mann wiederzukennen, der erbarmungslos an ihm vorüber ging, als er an dem Mast festgebunden war.

Broder Jens hatte genug zu tun, den Hund an sich zu locken. Sein früherer Maat sah ihn mit einem grimmigen Blicke an und rief höhnisch:
„Tust Dir wohl etwas zu gute auf das Beutestück, das Du Dir von Deiner Strandfahrt mitgebracht hast? Aber so hoch Du Deine Nase auch trägst, ich bringe Dich doch herunter von Deiner Osthöhe, Du Lump.“

„Wenn Du über den Lump, den Du in Dir hast, auch einen noch so feinen Kittel ziehst, ist er darum doch deutlich zu erkennen!“ entgegnete Broder Jens und wollte noch ein schweres Wort hinzufügen. Da fiel sein Blick auf den Hund, der noch immer unruhig war. Er gedachte des offnen Schranks am Bord der Schoner-Galeas, worin Alles unter und über einander lag. Ihm fiel die tote Flau ein, und das hilflose Kind in der Kammer. Ihn überlief ein Frösteln. Es schnürte ihm die Kehle zusammen, und er vermochte leinen Laut hervorzubringen.

Hans Blacker hatte polternd und scheltend die Schenke betreten, worin ihm nichts gut genug war. Bald nachher erzählte die Wirtin der Nachbarin, Hans Blacker habe drei Nummern geträumt, die er in die Lotterie gesetzt und ein großes Geld gewonnen habe. Ihr Mann sei verschuldet und der Hans Blacker habe ein Gebot auf das Gewesen getan. Viel werde, wenn die Schuld bezahlt sei, nicht übrig bleiben: aber man komme doch los von den Gläubigern und könne an einem andern Orte von vorn anfangen. Als Hans Blacker später nach Hause ging, war er Herr der Schenke und die seitherigen Besitzer mussten andern Tags abziehen. Das hatte er bei dem Kaufe ausgemacht.

Noch waren nicht drei Wochen ins Land gegangen, da besaß der Bewohner der Westerhöhe noch drei andere Gewesen, die der Schenke zunächst lagen. Er hatte den bisherigen Besitzern ihr Eigentum abzuschwatzen gewusst, indem er sie in ihren Vorurteilen bestärkte. Es war nämlich auch bis in diese unwirtliche Gegend die Kunde gekommen von dem großen Glücke, das der deutsche Auswanderer macht, wenn er nach Amerika kommt. Eine große Zahl von Morgen des fettesten Bodens würde für einen Spottpreis und ganz abgabenfrei verkauft und wer eine Hand voll Geld mitbringe, der könne mit leichter Mühe ein großes Glück machen. Das gefiel den Leuten, die hier im steten Kampfe mit der See ein mühevolles Dasein fristeten, und da ihnen die Aussicht auf ein künftiges Herrenleben eröffnet ward, griffen sie mit beiden Händen zu.

Und wie Hans Blacker es mit den Ersten machte, so tat er es nach und nach mit den Übrigen. Man konnte sagen, dass er binnen Jahresfrist Herr des Dorfes ward, denn entweder kaufte er Haus und Land an sich, oder er schoss Geld vor und ließ sich eine Verschreibung geben. Die Häuser der Ausgewanderten vermietete er an Solche, die als erste Bedingung geloben mussten, sich nach seinem Gebote zu richten und nichts Anderes zu wollen, als was ihm recht sei. Auf diese Weise gewann er immer größere Macht im Orte und man konnte sagen, er habe seine Drohung wahr gemacht, alles Volk im Dorfe zu zwingen, ihm dienstbar zu sein.

Nur mit Einem vermochte er nichts anzufangen und das war Broder Jens auf der Osthöhe. Darum wuchs sein Groll gegen diesen und er sann Tag und Nacht, wie er ihm ein Bein stelle. Es fiel ihm aber nichts bei, und er konnte nichts tun, als in der Schenke seinen Zorn in Bier und Branntwein zu ersäufen. In dieser Schenke ging es wüst her. Sonst ließen die Dorfleute nur an Sonn- und Festtagen oder wenn die See reiches Strandgut lieferte, Etwas daraus gehen. Jetzt war das anders. Sie hatten Nichts mehr zu verlieren und konnten Nichts mehr gewinnen. Bei harter Arbeit fristeten sie notdürftig ihr Dasein. Was Wunder, dass sie bei der Flasche Zerstreuung suchten. Da ward getrunken, so lange die sauer erworbenen Pfennige reichten, oder der Wirt borgen wollte. Dazwischen ward gespielt, und das Spiel war der Deckmantel für Lug und Trug. Das gab Anlass zu harten Worten und empfindlichen Reden. Vom Worte schritt man zur Tat, und mancher Abend endete mit einer rohen Schlägerei. Anfangs stemmten sich die Weiber dagegen. Als sie aber sahen, dass ihr Ermahnen nichts fruchtete, gingen sie entweder lamentierend zum Dorfe hinaus, oder sie folgten den Männern in die Schenke und ließen es zu Hause gehen, wie es wollte. So stürzte denn der letzte Rest vollends zusammen.

Von all dem Treiben blieb die Osthöhe unberührt. Broder Jens hatte zwar nichts Sonderliches vor sich gebracht, aber er hatte stets einen solchen Verdienst, dass er die drei Pfennige, die einem redlichen Arbeiter zu gönnen sind, immer vorrätig hatte, nämlich den Zehrpfennig, wovon er lebt, den Notpfennig, zu dem er greifen mag, wenn Krankheit oder andre Trübsal ihn an seinem Herde heimsucht und den Ehrenpfennig, der die Kosten decken muss, wenn ein frohes Ereignis Einkehr bei ihm hält. Ein solcher Tag war nun auf der Osthöhe noch nicht erschienen: aber Broder Jens behielt guten Mut. Er dachte, indem er einen blanken Thaler zu dem zweiten in der Pappschachtel legte, die in dem Wandschranke stand: „Man kann nicht missen! Es ist noch nicht aller Tage Abend und was heute nicht ist, geschieht vielleicht morgen.“

Und Broder Jens dachte nicht ohne Grund so. Es gab eines Tages ein eiliges Geschäft für ihn. Ein Bauer, der eines Bootes benötigt war, sandte seinen Sohn auf die Osthöhe. Nun fand der junge Peter Marten zwar den Schiffer nicht zu Hause! aber er traf die Heilwig, über deren Anblick er die ganze Bestellung vergaß, sehr geschämig tat, allmählich dreister ward, und zuletzt ein Langes und Breites schmatzte, was eigentlich Niemand verstand, auch die Heilwig nicht. Aber es gefiel ihr gut. Als er ihr zum Abschiede die Hand gab, ward sie über und über rot, und lächelte verlegen, als er hinzusetzte, er werde bald wiederkommen.

„Bald“ ist eine längere oder kürzere Frist, je nachdem die Leute sind. Bei Peter Marten dauerte sie drei Trage: das zweite Mal noch einen weniger. Stets hatte er ein Gewerbe und stets vergaß er, es zu bestellen. Und er blieb doch lange genug oben, um sich auf das Vergessene wieder zu besinnen.

Ein wohlhabender Bauernsohn besucht eines armen Fischers Findelkind! Grund genug, die müßigen Weiber im Dorfe aufzuhetzen, die es der armen Heilwig nicht gönnten, dass sie still und ehrbar in dem Hause ihres Pflegevaters lebte, dieweil sie selbst immer tiefer in Not und Elend versanken. Peter Martens Vater wusste bald von den Gängen seines Sohnes und wetterte das Blaue vom Himmel herunter. Broder Jens aber sagte zu dem Burschen:

„Von heute ab kommst Du mir nicht wieder. Dein Vater wird eine Heirat nicht zugeben, und daß Du auf etwas Anderes sinnst, will ich nicht hoffen, sonst schlüge ich Dir die Knochen im Leibe entzwei. Du hast hier so viele Gewerbe bestellt, so bestelle nun auch das, was ich Dir sagte, Deinem Vater. Das ist Dein Bescheid und von Morgen ab muht Du Dir einbilden, der Weg, der aus Deinem Dorfe hier herauf führt, fei durch eine Sturmbö versandet.“

Peter Marten ging traurig davon. Aber er musste sein letztes Gewerbe richtig bestellt haben, denn der Alte sagte nach einiger Zeit zu seinem Gevattersmann:

„Mein Peter tut mir leid, weil er sich so grämt: aber die Betteldirne, die noch obendrein ein Findelkind ist, kann ich ihm doch nicht geben. Die ganze Gemeinde käme in Aufstand. Dem Fischer muss ich es aber nachsagen, dass er ein Einsehen hatte. Er wies dem Jungen die Tür und hat sich für alle künftigen Besuche bedankt.“

Mit der Heilwig ging es nicht besser als mit dem Peter. Sie schwieg, aber sie grämte sich im Stillen. Die Dirne lachte nicht mehr. Die roten Backen bleichten, die Augen standen oft voll Wasser. Ihr Pflegevater grämte sich auch: aber er vermochte es nicht zu ändern und sagte, um sich zu trösten:

„Ich tat meine Pflicht. Wie hätte ich bestehen sollen hier und in der Ewigkeit, wenn die Eltern der Dirne vor mich hintreten und ihr Kind von mir wieder fordern, das der Herrgott in meine Arme legte?“

Wer hätte es gedacht, dass Jemand in der Nähe war, der ein Recht hatte, dies anvertraute Gut zurückzufordern?

Von dem Dünendorfe geht es in einem Augenblicke in die große nordische Königsstadt am Sunde, die einer Perle im Golde gleicht. Ein schwerbeladener Kauffahrer steuert an den Hafenbatterien vorüber und legte bei der Zollbude an. Und kaum ist der Verkehr hergestellt, als ein ältlicher Mann mit ergrautem Kopfe an das Land eilt, sich in die Knie wirft, den Erdboden küsst und weinend die Hände zum Gebet faltet. Eine dichte Menschenmenge sammelt sich um ihn.

Der Mann ist einer jener Unglücklichen, die sich auf dem Schiffe eines Staates befanden, welcher mit dem Deyu von Tunis und Algier keinen Vertrag geschlossen hatte, wodurch ihnen, gegen einen an die Barbaresken zu zahlenden Tribut gestattet wurde, die Mittellandssee zu befahren. Es gab eine solche Zeit, wo christliche Könige sich demütigten vor den Türken, indem sie mit ihnen solche Verträge schlossen. Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorüber. Damals aber bestanden sie noch. Das Schiff, welches keinen Türkenpass hatte, wurde, wie es in der Seesprache heißt, condemniert, und die Mannschaft sowie die Passagiere auf dem Sklavenmarkte verkauft. Sie trugen dann diese schmachvollen Ketten so lange, bis es der christlichen Barmherzigkeit gelang, sie loszukaufen und ihnen die Freiheit zurückzugeben.

Ein solches trauriges Geschick hatte dieser Mann viele Jahre ertragen. Jetzt ging er zur Freiheit ein. Er ward mit Jubel bewillkommnet und von einer großen Menschenmenge nach dem Hause geleitet, welches er früher bewohnte: denn er war in der Königsstadt am Sunde geboren.

Aber, wie hatte sich hier Alles verändert. Als der Mann, der Knudson hieß und ein angesehener Handelsmann war, sich von seiner Familie trennte, geschah es, um eine Reise nach der Mittellandssee zu tun, die zwar gefahrvoll, aber auch lohnend war. Knudson tat es, um sich die Möglichkeit zu verschaffen, desto eher in unabhängiger Ruhe nur den Seinigen leben zu können. Während seiner Abwesenheit sollte seine Familie bei einigen Verwandten auf dem Festlande leben. Um sie sicher dorthin zu bringen, hatte er selbst eine Schoner - Galeas befrachtet und dem Schiffer Frau und Kind, sowie bedeutende Barschaften übergeben. Er selbst brachte die Seinigen an Bord und sah sie von der Zollbude abfahren. Tages darauf trat er seine Reise an, die für ihn so verhängnisvoll werden sollte.

Er betrat sein Haus und kannte es nicht wieder. Fremde Menschen wohnten darin, die nichts von ihm wussten. Ein Mann wies ihn achselzuckend an einen Advokaten, der früher die Gerechtsame des verschollenen Knudson vor Gericht aufrecht erhalten haben sollte. Nach vieler Mühe gelang es ihm, mit Hilfe dieses Ehrenmannes, einzelne Trümmer von dem Vermögen zu retten, das ihm gehört hatte. Schwer fiel es ihm aufs Herz, dass in der langen Zeit seiner Abwesenheit sein Weib nicht Schritte getan hatte, von ihm etwas zu erfahren. Mit großem Eifer, aber auch sehr beklommen, machte er sich daran, sich nach ihr zu erkundigen. Seine Verwandten auf dem Festlande wussten nichts. Man antwortete, die Abreise von Knudsons Frau und Kind sei zwar brieflich gemeldet, aber ihre Ankunft wäre nicht erfolgt. Als man lange genug vergeblich gewartet, sei an Frau Knudson nach Kopenhagen geschrieben. Der Brief kam uneröffnet und mit der Bemerkung zurück, dass die Empfängerin sich nicht mehr alldort befände.

Jetzt wandte sich Herr Knudson an die Schifffahrts-Kommission und ließ Tag und Stunde der Abreise, sowie die Namen und die Zahl der Mannschaften und Passagiere, nebst dem Bestande der Ladung, womit die Schoner-Galeas „Soroe“ befrachtet war, genau feststellen. Mit diesem Dokumente begab er sich nach dem Bestimmungsort des Schiffes und überzeugte sich, dass es weder zu der Zeit, da es möglicherweise eintreffen konnte, noch überhaupt angelangt war. So blieb nun nichts Anderes übrig, als anzunehmen, dass es verunglückt sei. Aber wo?

Von hundert Unglücksfällen zur See erhielt er Kunde. Einer ereignete sich an dieser Stelle, der andre an jener. Auch von einer Schoner-Galeas, die nahezu der gelben Düne geblieben, war die Rede. Näheres konnte nicht angegeben werden, da schon Fischersleute am Bord gewesen wären, bevor die Behörde von dem Fall Kenntnis; erhalten hätte. Von den Schiffspapieren sei nichts vorgefunden.

Die gelbe Düne! — Dieser Name weckte eine wehmütige Empfindung in der Brust des vielgeprüften Mannes. Mit unsichtbaren Banden zog es ihn dahin.

Im Dünendorfe trieb Hans Blacker sein Unwesen fort. Die Seefahrer erzählen von der harten Behandlung, welche die Neger auf den Plantagen der westindischen Inseln erdulden müssen. Männer, welche die afrikanische Sklavenkette schleppten, können noch nach Jahrzehnten nicht ohne Tränen von dem Leid erzählen, welches sie ertrugen. Von der Sklaverei in dem Dünendorfe sprach Keiner. Sie war eine freiwillig eingegangene.

„Es ist mein!“ sagte Hans Blacker zu sich selbst und lachte dabei ingrimmig, denn er hatte Niemand, der Freude darüber empfand. Sein Leben bestand darin, wucherische Zinsen einzuziehen, die seine Schuldner ihm zahlen mussten und die mit harter Grausamkeit erpressten Thaler durch die Gurgel zu jagen. Das trieb er heute wie morgen, bis die Stimme des Gewissens ihn laut mahnend rief. Dann fuhr er von seinem Sitze auf und stürmte ruhelos in den Dünentälern umher, bis er ermattet zusammenbrach.

Broder Jens lebte in gewohnter Weise daheim. Nur Heilwigs Kummer betrübte ihn. Seit der Trennung von ihrem Geliebten lachte sie nicht mehr. Eben jetzt trat sie zum Vater und meldete mit einiger Erregtheit, dass Peter Martens Vater, der seit Kurzem das Amt des Bauernvogts bekleidete, mit einem städtischen Herrn die Osthöhe heraufsteige. Ihre Nacken glühten bei dieser Mitteilung und eine Träne glänzte in den schönen Augen. Der Vater hatte es wohl bemerkt. Er sagte ihr ein freundliches Wort und ging dann dem unerwarteten Besuche entgegen.

Es war Herr Knudson, der in Begleitung des Bauernvogts kam, um über die am Steert der gelben Düne gestrandete Schoner-Galeas Erkundigungen einzuziehen. Broder Jens erzählte, was er wusste, ohne gleich der Leiche und des geretteten Kindes zu erwähnen und fügte hinzu:

„Auch von den Papieren, die am Bord waren, weiß ich. Es war Alles, was ich in dem Spinde des Kapitäns fand. Die Tür desselben war erbrochen: es musstte also schon Jemand vor mir am Bord gewesen sein.“
„Und wo sind diese Papiere geblieben?“ fragte Knudson hastig.

„Die nahm ich mit. Aber was darin stand, weiß ich nicht, denn ich kann nicht lesen. Verlangt hat sie Niemand. Wollte immer damit zum Pastor, oder auf das Amt; ward aber von einem Tage zum andern verschoben und zuletzt habe ich sie gar vergessen. Will aber gleich sehen, wo sie geblieben sind.“

Broder Jens kramte in seiner Truhe und brachte ein Packet halb verwitterter Papiere zum Vorschein. Knudson ergriff sie und rief sie entfaltend:

„Sie sind es! Hier der Baubrief der Schoner-Galeas „Soroe“ der Messbrief und die Connoissemente. Und da die Wertpapiere, die ich dem Schiffer anvertraute. Ich hielt sie für verloren und gewinne nun Alles wieder, durch Euch. Aber was rede ich viel von Geld und Gut, da mir doch etwas viel Wichtigeres am Herzen liegt.“

Er hielt inne, als fürchte er sich, weiter zu fragen. Der Hund, den Broder Jens vom Wrack gerettet, war herangekrochen. Das Tier war alt geworden und hatte das Springen längst verlernt. Aber es zeigte eine eigentümliche Unruhe und hielt sich nahe an Knudson.

„Das war auch einer von der Besatzung der Soroe,“ sagte der Fischer und zeigte auf den Hund, der ein dumpfes Geheul ausstieß. Der Kaufherr betrachtete das Tier aufmerksam und sagte nach einer Pause:

„Herr des Lebens, wenn es nicht gar so wunderbar wäre, würde ich sagen, das ist mein Tiras.“

Bei diesem Namen richtete sich der Hund hoch auf und bellte laut: dann aber sprang er an Knudson auf und klammerte sich fest an diesen.

Der Kaufherr konnte seine Rührung kaum bemeistern. Er sah zu dem Fischer auf und sagte:

„Und Ihr wisst Nichts von den Passagieren, die am Bord gewesen sind?“

„Ich weiß davon, Herr. Aber weil es Euch so nahe angeht...“

„Sagt es nur grade heraus. Weib und Kind, die am Bord waren, sind tot.“

„Zum Teil ist es, wie Ihr sagt, Herr. Ich fand eine Frau, die von einem herabgestürzten Decksbalken erschlagen ward. Sie hat auf der gelben Düne ein christliches Grab bekommen. Was Ihr aber von einem Kinde sagt: ein Mädchen war es doch, Herr?“

„Ja, ein Mädchen. Johanna hieß sie, mein einziges Kind. Wo?...“

Broder Jens reichte dem Erschütterten die Hand und sagte:

„Ich nannte das gefundene Kind Heilwig nach meiner seligen Mutter und habe sie in Gottesfurcht erzogen. — Wohin, Herr? fasst Euch. Ihr sollt Euer Kind sehen. Aber ich muss ihr erst ein Wort sagen. Die Heilwig ist zwar ein starkes Mädchen, aber eine solche Kunde möchte ich ihr doch nicht unvorbereitet bringen. Ich will mit ihr sprechen.“

Er tat es. Und als Vater und Tochter sich fest umschlungen hielten, ging er mit dem Bauernvogt hinaus und sagte:

„Ihr habt groß aufgetrumpft, als Euer Sohn um das arme Fischerkind freite und wolltet von Nichts wissen. Was werdet Ihr nun sagen, wenn der reiche Kaufmann dem Sohne des Marschbauern die Wege weist?“

Knudson hatte seine Tochter wieder. Er hatte das Grab seines Weibes besucht und sagte auf dem Rückwege zu dem Fischer:

„Was ich Euch schuldig ward, werde ich wohl nimmer zahlen können: doch findet sich wohl ein Ausweg, Euch meine Dankbarkeit zu beweisen. Aber noch Eins. Ihr meintet, es sei schon Einer vor Euch auf dem Wrack gewesen, und das muss sein, denn von dem baren Gelde, das ich dem Kapitän mitgab, habt Ihr nichts mehr gesunden?“

Bares Geld! Wie Schuppen fiel es dem redlichen Fischer von den Augen. Er sah zu der Westerhöhe hinauf und rief als hätte er eine Eingebung: „Hans Blacker!“ Dann aber zog er den Kaufherrn mit sich fort und ging geraume Zeit mit ihm am Strande auf und ab.

In jenen Gegenden wechseln Wind und Wetter oft mit der Stunde. So heute. Dichte Wolkenmassen stiegen auf. Der Sturm brauste, die See wogte. Der Donner hallte in den Dünen wieder: Blitze fuhren zischend herab. Hans Blacker saß in seiner Stube hinter dem vollen Kruge. Er war so verhasst, dass selbst die Strandläufer und Schmuggler nicht mehr mit ihm trinken mochten. Das mehrte seinen Grimm. Schwarze Gedanken reiften allmählich in seinem Hirn. Mit blöden Augen stierte er vor sich hin und entschlummerte mit einem Fluche auf den Lippen.

Da rollte ein langhallender Donner über das Dach seines Hauses hin. Ein Blitzstrahl schlug so dicht vor dem Fenster nieder, dass es in der Stube taghell ward. Dazwischen flammten die Fackeln auf, die man draußen anzündete. Broder Jens mit dem Kaufherrn und dem Bauernvogt waren auf der Westerhöhe erschienen und traten in die Behausung des Hans Blacker.

Aber dieser sah sie nicht. Die Traumbilder, die ihn in seinem wüsten Schlummer ängstigten, dauerten fort. Er konnte die finsteren, formlosen Gestalten, die ihn ängstigten, nicht verjagen: auch wachend trieben sie mit ihm ihr entsetzenvolles Spiel und er fuhr aufschreiend zusammen, als es ihm in die Ohren gellte:

„Steh auf, Hans Blacker. An der gelben Düne liegt ein Wrack!“

Er stöhnte. In seinen Ohren klang es fort:

„Wir waten mit der Ebbe an Bord. Den Hund lassen wir festgebunden, damit er nicht verrät, was wir in der Kajüte tun.“

„Hund! weg mit dem Hund!“ lallte Hans Blacker. „Will hinunter.“
Er walzte sich stöhnend, wahrend es vernehmlich um und in ihm forttönte:

„Wie viel Goldstücke waren in dem Beutel?“

„Hundert!“ antwortete er, auch im Traumschlafe lügend.

„Es waren fünfhundert, Hans Blacker. Und in dem großen Beutel waren tausend Thaler, die Du auch gestohlen hast.“

„Nein! Nein!“ kreischte er, hoch emporfahrend, und die Stimme rief:

„Nimm Dich in Acht! Tu trittst ja die tote Frau mit Füßen.“

Da brach er zusammen. Er sank in die Knie und sprach mit bebenden Lippen:

„Ich will Alles bekennen!“

Die Männer, die herbeigekommen waren, traten vollends ein. Hans Blacker war halb von Sinnen. Der Bauernvogt hatte ein Paar handfeste Bursche bei sich, die während der Nacht das Haus bewachen sollten. Als der Gerichtsdiener früh Morgens erschien, fand er Hans Blacker vom Schlage getroffen.

Ein Jahr war vorübergegangen. Der Bauernvogt hatte seinen Hof an den Sohn abgegeben und dieser wirtschaftete mit seiner jungen Frau so vergnügt, dass Alle ihre Lust daran hatten. Broder Jens blieb in seiner Hütte, aber er lebte darin mit aller Behaglichkeit. Auch Knudson blieb. Die eigentliche Heimat war ihm entfremdet und er liebte sein Kind über Alles. Auf der Westerhöhe erhob sich an der Stelle, wo die Hütte des wüsten Hans Blacker stand, ein schmuckes Häuschen, worin der Kaufherr manchen Tag zubrachte und Zeuge des Glückes war, was über die Bewohner des Dünendorfes gekommen, seit er die Fesseln brach, womit sie viele Jahre belastet gewesen. Frohe Gesichter schauten aus den Fenstern und vor den Türen grünten wieder die Rasenplätze, die der Sommer mit duftenden Blumen schmückte.
Smidt, Heinrich (1798-1867) deutscher Schriftsteller

Smidt, Heinrich (1798-1867) deutscher Schriftsteller

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