Abschnitt 1

VIII. Die Wunder von Philadelpina.


Onkel Oschen schien nun wirklich genug zu haben, was ich ihm auch nicht verdenken konnte in Anbetracht der Tatsache, daß er über zwei Stunden fast ohne Unterbrechung erzählt und sich dabei die Kehle in kurzen Zwischenräumen recht beträchtlich angefeuchtet hatte. Wir verließen also das Lokal und ich erbot mich, den Onkel heim zu begleiten, in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein Zugabeabenteuer aus ihm heraus zu locken.


„Ach Du, Onkel,“ sagte ich unterwegs; „da fällt mir ein: Du hast ja die Hauptsache zu erzählen vergessen.“

„Wieso?“ versetzte der Onkel stehenbleibend und unterm Gähnen mit der Hand auf den Mund klopfend.

„Na, Du wolltest mir doch erzählen, wie es gekommen ist, daß Deine liebe Schwiegermutter den auffallenden Blick gekriegt hat.“

„Wieso auffallend?“ fragte Onkel Oschen schlaftrunken.

„Na, sie schaut doch immer so merkwürdig über die Schulter nach hinten. Hat sie ’n steifen Hals?“

„I Jott bewahre!“ sagte der Onkel, indem er mich plötzlich wieder janz munter durch seine Brillengläser hindurch mit seinen verschmitzten blauen Augen anfunkelte. „Des is janz was anders. Des hat se sich in Philadelphia jeholt.“

„Ich denke in Arizona?“ wandte ich ein, denn ich erinnerte mich genau, daß der Onkel heute Nachmittag in der Gesellschaft behauptet hatte, sie hätte sich in Arizona ein ganz merkwürdiges Leiden geholt; und von der Erklärung dieses Leidens war doch überhaupt die ganze Erzählung seiner Amerikafahrt mit der Schwiegermutter ausgegangen.

Der Onkel schüttelte ärgerlich den Kopf. „Na, wenn Du’s besser weißt, denn is’s ja jut; ich sage Dir, es war in Philadelphia. Arizona liejt ja janz wo anders. Du hast ja jar keene Ahnung. Die soll’n wir denn da hinkommen? Oder denkste vielleicht, ich schwindle Dir hier was vor?“

„Aber Gott behüte, lieber Onkel, wie werde ich so was denken! Deine Erzählungen tragen ja den Stempel der Wahrheit so deutlich an der Stirn.“

„Na also,“ sagte der Onkel schon wieder befriedigt. „Warum sollte ich denn auch schwindeln? Ich hab’s doch wahrhaftijen Jott nich nötig, mir passieren doch ejal merkwürdige Sachen. Schwindeln tun doch bloß die Leute, denen nischt passiert. - Aber nu will ich Dir mal was sagen, - da is noch en Cafè offen, woll’n da nochmal einkehren. Ich muß mir den Jeist erst mal wieder en bißchen auffrischen - ich hab mir ja schon’s Maul fußlig jeredet heute Abend. Kannste mir nich verdenken, wenn ich erst mal ‘ne kleene Aufmunterung jenehmije.“

Wir gingen also in das Cafèhaus, und nachdem der gute Onkel ein Schälchen Schwarzen nebst einem Pfiff Kognak zu sich genommen hatte, war er wieder in Form und griff den Faden seiner Erzählung wieder auf. Ich tauschte gespannt, denn mich hatte seine drollige Art der Berichterstattung keineswegs ermüdet - im Gegenteil, ich hätte ihm gern noch stundenlang zugehört.

„Wo war’n wir’n stehen jeblieben?“ begann Onkel Oschen. „Ach so, richtig - bei dem Schafskopp. - Na also, wir fahren abends wieder mit dem Steeplechase-Zug nach Philadelphia retour und zwar auf derselben Seite, auf der wir hinjefahren waren. Diesmal, sagte ich nur, wirste schlau sein, Oskar, und wettete zehn Dollar, daß unser Zug verlieren würde; denn ich dachte mir; beim Reisen haste immer Pech; des war doch rein unmöjlich, daß der Zug, in dem Du mit Schwiejermuttern sitzt, jewinnen sollte. - Aber was soll ich Dir jagen, diesmal bestand mein Pech darin, daß der Zug doch jewann und ich meine zehn Dollar los war. Kannst De Dir vorstellen, in welch rosiger Stimmung ich mich in Philadelphia zu Bette lejte !

Am andern Morjen war des schönste Wetter. In Newyork hatten wir nichts weiter zu suchen, der Dampfer jing erst morjen, also dachte ich, woll’n uns den Tag über in Philadelphia umsehn. Des is auch wirklich lohnend. Philadelphia is ‘ne viel schönere Stadt wie Newyork und besonders der jroße Fairmountpark zu beiden Seiten des Schuylkill is so hübsch, daß man jut und jern en Tag drin totschlagen kann. Außerdem war jrade en jroßes Volksfest los und da draußen am Flußufer ne janze Budenstadt aufjebaut mit alle möjlichen Sehenswürdijkeiten und Volksbelustigungen. Es war wirklich sehr amüsant, die Stunden schwanden uns im Fluge dahin, meine Stimmung wurde immer besser, und selbst Mutterchen, die nach der jroßen Enttäuschung, daß se nu ihre Tochter nich wiedersehn sollte, wie so’n naßjerejnetes Trauerhuhn an meiner Seite einherschlich, rappelte sich en bißchen auf und fing an, sich für die und jene Chose zu interessieren. Du machst Dir keenen Bejriff davon, was es da allens zu sehen jab. Barnum und Bailey waren da mit ihren Riesenzirkus und ihre Abnormitäten. Da war zum Beispiel en Elefant mit zwee Rüssel; aber nich etwa am Koppe, sondern eenen vorne und eenen hinten, wo sonst der Schwanz hinjehört. Denn war en Affe da, der sang Tenor - „jute Nacht, Du mein herzijes Kind“ - des kommt ja allerdings bei uns zulande ooch vor und hat uns weiter nich jewundert. Denn war da zu sehen en Bastard aus Zieje und Karnickel - doll sage ich Dir. En Karnickel mit Hörner und ‘n Ziejenbart ’s; aber da war ‘ne Dame ohne Unterleib, des war noch ville merkwürdijer; en ausjewachsenes Frauenzimmer ohne Kopp und ohne Aerme, die verfertijte mit de Füße de schönsten Stickereien.“

Ich wollte eine bescheidene Einwendung gegen die Dame ohne Oberleib machen, aber der Onkel winkte mir rasch ab und fiel mir ins Wort: „Des war aber allens noch jar nischt, det Beste kommt noch. - Also nach der Vorstellung im Zirkus - es war schon stark jejen Abend - bummeln wir weiter und bemerken so etwa hundertundfünfzig bis zweihundert Meter hoch in de Luft ‘en Ballon captif. „Au!“ sage ich zu Muttern, „des is fein, da machen wir mit. Luftballon bin ich noch nich jefahren.“ Also wir hin, um die Sache aus der Nähe zu besichtijen.

Im ersten Momang denke ich doch, ich bin entweder verrückt oder ich habe ‘en Mächtigen sitzen. Und Mutterchen kreischt laut auf.

„Siehst Du’s ooch, Mütterchen?“ sage ich.

„Ach Jott, Oschen, sagt sie; „sehen tue ich es woll, aber jlauben tue ich es nich. Die Menschen haben ja alle keenen Kopp uff.“

Und so war es auch. Da standen ‘ne Masse Stühle, so’n Stücker hundert reihenweise hintereinander und auf jedem Stuhl saß en Mensch ohne Kopp - und die kuckten alle in de Höhe.“

Ich konnte nicht mehr an mich halten. „Onkel,“ rief ich, „was Du mir aber da erzählst, das ist doch zu . . .“

„Wart’s doch ab,“ unterbrach er mich energisch; „Ich sage Dir, se kuckten alle in de Höhe und wir kuckten also auch rauf. Da kommt der Ballon captif janz sachteken runter jeschwebt, und nu sehen wir ja auch, was die janze Veranstaltung für’n Zweck hatte. In der Jondel des Ballons, der nich mal so jroß war wie man se bei uns drüben bei solchen Jelejenheiten zu sehen jewohnt is, war nämlich so’n rundes, pyramidenförmijes Jestell anjebracht, wie’s de Järtner haben - so sechs, acht Etagen übereinander, und aus allen diesen acht Scheiben standen Blumentöppe dicht aneinanderjereiht und mit Draht befestijt - und in jedem von diesen Blumentöppen steckte en Menschenkopp.